Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem ***** 2018 verstorbenen H***** T*****, zuletzt *****, wegen Feststellung des Erbrechts zwischen den Antragstellerinnen 1. A***** A*****, vertreten durch Dr. Günter Wappel, Rechtsanwalt in Wien, und 2. B***** T*****, vertreten durch Dr. Stefan Prokop, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs der Zweitantragstellerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 22. Februar 2021, GZ 48 R 241/20a-58, mit welchem der Beschluss des Bezirksgerichts Hietzing vom 5. September 2020, GZ 2 A 140/18a-46, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Erstgericht vorbehalten.
Text
Begründung:
[1] Im Verfahren über das Erbrecht nach dem 2018 verstorbenen Erblasser stehen einander seine Adoptivtochter (Erstantragstellerin) und seine frühere Ehegattin (Zweitantragstellerin) gegenüber. Beide gaben unbedingte Erbantrittserklärungen ab. Strittig ist, ob ein zugunsten der Zweitantragstellerin errichtetes Testament nach § 725 Abs 1 ABGB durch die Scheidung aufgehoben wurde.
[2] Der Erblasser hatte mit diesem Testament am 4. Dezember 1978 Folgendes angeordnet:
„Zur Universalerbin meines gesamten beweglichen und unbeweglichen Nachlasses bestimme ich meine Lebensgefährtin B***** J*****, geboren ***** in Wien, mit einziger Ausnahme meiner Wohnung […].“
[3] Zu diesem Zeitpunkt war der Erblasser noch mit seiner ersten Ehefrau verheiratet, lebte aber nach dem Vorbringen der Zweitantragstellerin schon von ihr getrennt. Nach der Scheidung der ersten Ehe heiratete der Erblasser die Zweitantragstellerin am 16. August 1979. Mit Beschluss vom 11. Oktober 1990 wurde auch ihre Ehe geschieden. Danach lebte der Erblasser mehrere Jahre in Lebensgemeinschaft mit einer anderen Frau, mit der Zweitantragstellerin hielt er nur losen Kontakt.
[4] Mit Vertrag vom 15. Oktober 1993 nahm der Erblasser die Erstantragstellerin an Kindes statt an. Die Annahme wurde rechtskräftig bewilligt.
[5] Die Erstantragstellerin stützt sich auf ihr gesetzliches Erbrecht. Das Testament zugunsten der Zweitantragstellerin sei nach § 725 Abs 1 ABGB durch die Scheidung aufgehoben worden. Auf das Bestehen der Ehe bei Errichtung des Testaments komme es nicht an. Der Erblasser habe auf dieses Testament vergessen und mehrfach geäußert, dass die Erstantragstellerin erben sollte.
[6] Die Zweitantragstellerin stützt sich auf das Testament. Nach der Scheidung habe eine freundschaftliche Beziehung bestanden. Der Erblasser habe angenommen, dass das Testament weiterhin gültig sei; er habe es nie widerrufen. § 725 Abs 1 ABGB sei nicht anwendbar, weil der Erblasser es schon vor der Eheschließung errichtet habe.
[7] Das Erstgericht stellte das Erbrecht der Erstantragstellerin fest und wies die Erbantrittserklärung der Zweitantragstellerin ab. Der Wille des Erblassers, dass eine unter § 725 Abs 1 ABGB fallende Verfügung auch bei Auflösung der Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft aufrecht bleiben solle, müsse sich aus der Auslegung einer letztwilligen Verfügung ergeben und daher in deren Wortlaut zumindest angedeutet sein. Da das hier nicht zutreffe, sei das Testament aufgehoben.
[8] Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung in der Hauptsache und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Es trug dem Erstgericht eine neuerliche Kostenentscheidung auf und behielt die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens vor.
[9] Nach Darstellung der unterschiedlichen Lehrmeinungen vertrat das Rekursgericht die Auffassung, dass § 725 Abs 1 ABGB unabhängig vom Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung und unabhängig vom Motiv des Erblassers anwendbar sei. Selbst wenn man aber den Nachweis eines anderen Motivs für möglich hielte, sei der Zweitantragstellerin nicht geholfen. Da der Erblasser die Zweitantragstellerin als seine „Lebensgefährtin“ bezeichnet habe, sei nicht anzunehmen, dass er sie unabhängig von der wenige Monate später geschlossenen Ehe bedacht habe. Auf die Frage, ob bei Errichtung der Verfügung schon eine Lebensgemeinschaft bestanden habe, komme es nicht an.
[10] Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob letztwillige Verfügungen, die vor Eingehen der Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft errichtet wurden, von § 725 Abs 1 ABGB erfasst würden. Die Kostenentscheidung sei aufzuheben bzw vorzubehalten, weil das Erstgericht noch über eine Bemängelung des Streitwerts entscheiden müsse.
[11] Gegen diese Entscheidung richtet sich ein Revisionsrekurs der Zweitantragstellerin, mit dem sie die Feststellung ihres Erbrechts anstrebt. § 725 Abs 1 ABGB sei von vornherein nicht auf letztwillige Verfügungen anzuwenden, die vor dem Eingehen der Ehe errichtet worden seien. Teile man diese Auffassung nicht, liege in § 725 Abs 1 ABGB jedenfalls nur eine Zweifelsregel. Aus der Bezeichnung der Zweitantragstellerin als Lebensgefährtin lasse sich nur eine entsprechende Zuneigung, nicht aber ein Hinweis auf eine zukünftige Eheschließung ableiten.
[12] Die Erstantragstellerin beantragt in der Revisionsrekursbeantwortung, das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben. § 725 Abs 1 ABGB sei unabhängig vom Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung anzuwenden. Zudem habe bei Errichtung des Testaments ohnehin eine Lebensgemeinschaft bestanden.
Rechtliche Beurteilung
[13] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, er ist aber nicht berechtigt.
[14] 1. Nach § 725 Abs 1 Satz 1 ABGB werden mit
„Auflösung der Ehe, der eingetragenen Partnerschaft oder der Lebensgemeinschaft zu Lebzeiten des Verstorbenen […] davor errichtete letztwillige Verfügungen, soweit sie den früheren Ehegatten, eingetragenen Partner oder Lebensgefährten betreffen, aufgehoben, es sei denn, dass der Verstorbene ausdrücklich das Gegenteil angeordnet hat.“
[15] Diese Regelung wurde mit dem ErbRÄG 2015 in das ABGB eingefügt, eine Vorgängerbestimmung gab es nicht. Die EB zur RV führen dazu Folgendes aus (688 BlgNR 25. GP):
„§ 725, eine neu eingefügte Bestimmung, sieht in Abs. 1 die Vermutung eines stillschweigenden Widerrufs jener letztwilligen Verfügungen vor, die vor der – zu Lebzeiten des Verstorbenen erfolgten – Auflösung der Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft zugunsten des früheren Ehegatten, eingetragenen Partners oder Lebensgefährten errichtet wurden. […] Diese letztwilligen Verfügungen sollen aber im Zweifel nur insoweit aufgehoben sein, als sie den früheren Ehegatten, eingetragenen Partner oder Lebensgefährten bzw. den früheren Angehörigen betreffen.
Üblicherweise spiegelt diese Vorschrift wohl den mutmaßlichen Willen eines Verstorbenen wider: Ein früherer Ehegatte, eingetragener Partner oder Lebensgefährte wird gerade nicht wollen, dass der andere Teil nach ihm erbt (vgl. Welser, NZ 2012, 4). […] Will der Verstorbene diese Rechtsfolge vermeiden, so kann er letztwillig ausdrücklich das Gegenteil vorsehen.“
[16] 2. Der Senat hatte diese Bestimmung bisher zweimal anzuwenden. In beiden Fällen hatte der Erblasser die letztwillige Verfügung während aufrechter Lebensgemeinschaft oder Ehe errichtet, sodass an der Anwendbarkeit von § 725 Abs 1 ABGB kein Zweifel bestand. Gegenstand der Entscheidungen war daher nur die Frage, was unter einer „ausdrücklich“ gegenteiligen Anordnung des Erblassers zu verstehen war. Der Senat hielt dazu fest, dass sich diese Anordnung aus einer letztwilligen Verfügung – entweder der von der Rechtsfolge des § 725 Abs 1 ABGB betroffenen oder einer späteren – ergeben muss, wobei allerdings eine Andeutung, die eine entsprechende Auslegung ermöglicht, ausreicht; hingegen sind formlose Äußerungen oder Verhaltensweisen irrelevant (2 Ob 192/18a SZ 2019/35 = NZ 2019, 263 [Dukic] = iFamZ 2019, 329 [Mondel] = EF-Z 2019, 229 [Tschugguel]; 2 Ob 43/19s JEV 2019, 189 [Zak]).
[17] Diesen Entscheidungen liegt die Auffassung zugrunde, dass § 725 Abs 1 ABGB an die Beendigung der Ehe, Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft – außer bei gegenteiliger Anordnung – die Rechtsfolge der „Aufhebung“ der letztwilligen Begünstigung knüpft (Deixler-Hübner in Deixler-Hübner/Schauer, Erbrecht neu 38; Christandl/ Nemeth, NZ 2016, 3 f; Neumayr/Webhofer, Beweislastfragen und Zweifelsregeln im Erbrecht, in FS Eccher [2017] 759 [774 f]; Dukic, Glosse zu 2 Ob 192/18a, NZ 2019, 266). Dass die Materialien (oben 1.) demgegenüber von einer „gesetzlichen Vermutung“ sprechen, spiegelt sich im Wortlaut der Bestimmung nicht wider. Gemeint ist damit offenkundig nur, dass die Aufhebung der Verfügung dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspricht, er aber das Gegenteil anordnen kann. Als „Auslegungsregel“ kann § 725 Abs 1 ABGB nur dann bezeichnet werden, wenn zugleich klargestellt ist, dass eine andere Auslegung nur in Betracht kommt, wenn sie in der Verfügung zumindest angedeutet ist (Umlauft/Huf in Klang3 § 725 Rz 5).
[18] 3. Im vorliegenden Fall ist zu entscheiden, ob und gegebenenfalls in welcher Weise § 725 Abs 1 Satz 1 ABGB letztwillige Verfügungen erfasst, die der Erblasser vor Eingehen der später aufgelösten Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft – in der Folge als „Familienverhältnis“ zusammengefasst – errichtet hat. Dazu werden im Kern drei Auffassungen vertreten:
[19] 3.1. Nach Welser (Erbrechts-Kommentar § 725 Rz 2; ebenso ders, Anmerkungen zum ErbRÄG 2015, NZ 2018, 1 [7]; ihm folgend Mondel/Knechtel in Klete?ka/ Schauer, ABGB-ON1.04 § 725 Rz 2, und Niedermayr in Schwimann/Kodek5 § 725 Rz 5; gegenteilig aber dies in Schwimann/Neumayr, ABGB-TaKomm5 § 725 Rz 2) ist unerheblich, ob die Verfügung vor oder nach Begründung des Familienverhältnisses errichtet wurde. Dies folgt seiner Ansicht nach schon aus dem nicht unterscheidenden Wortlaut. Zudem sei für das Weiterbestehen des Zuwendungswillens der Zeitpunkt der Beendigung des Familienverhältnisses relevant. Hier werde aber eine so grundlegende Zerrüttung vorliegen, dass „iZw“ ein Wegfall der Verfügung unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Errichtung dem Willen des Erblassers entspreche. Der Beweis mangelnder Kausalität der zukünftigen Begründung eines Familienverhältnisses für die Verfügung sei nicht zulässig, weil dies dann auch bei Verfügungen nach dieser Begründung gelten müsste und dem klaren Wortlaut der Bestimmung widerspräche.
[20] Anders als von der Revisionsrekurswerberin angenommen lässt sich aus der Formulierung Welsers, dass ein Wegfall der Verfügung unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Errichtung „im Zweifel“ dem Willen des Erblassers entspreche, nicht ableiten, dass nach seiner Auffassung der Beweis des gegenteiligen Willens möglich wäre. Denn der Autor legt damit offenkundig nur jene Wertung dar, die nach seiner Ansicht der Bestimmung zugrunde liegt. Den Beweis der mangelnden Kausalität des Familienverhältnisses lässt er ausdrücklich nicht zu (so auch das Verständnis bei Mondel/Knechtel in Klete?ka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 725 Rz 2, Niedermayr in Schwimann/Kodek5 § 725 Rz 5 und Hampton in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht2 [2020] Rz 5.184).
[21] 3.2. Den gegenteiligen Standpunkt vertreten (ebenfalls) aufgrund des Wortlauts Christandl/Nemeth (Das neue Erbrecht – ausgewählte Einzelfragen, NZ 2016, 1 [3 ff]). § 725 Abs 1 Satz 1 ABGB erfasse nur Verfügungen, die „den früheren Ehegatten, eingetragenen Partner oder Lebensgefährten betreffen“. Das setze voraus, dass diese Eigenschaft schon bei Errichtung der Verfügung bestanden habe. Zum gleichen Ergebnis gelangt wohl auch Fischer-Czermak (in Rabl/Zöchling-Jud, Das neue Erbrecht [2015] 32) mit der Begründung, dass ein noch nicht bestehendes Familienverhältnis nicht Motiv der Verfügung gewesen sein könne, was „gegen die Vermutung des § 725 nF“ spreche. Daraus dürfte abzuleiten sein, dass diese Bestimmung nach ihrer Ansicht in einem solchen Fall nicht anzuwenden ist.
[22] 3.3. Zwischen diesen Standpunkten liegen vermittelnde Lösungen, die mit unterschiedlicher Begründung das Motiv der Verfügung als relevant ansehen.
[23] Nach Schauer (in Deixler-Hübner, Handbuch Familienrecht2 [2020] 776 [ebenso in der Vorauflage]; ihm folgend Deixler-Hübner in Deixler-Hübner/Schauer, Erbrecht Neu [2015] 39 und Umlauft/Huf in Klang3 § 725 Rz 9) ist § 725 Abs 1 ABGB bei Errichtung der Verfügung vor Begründung des Familienverhältnisses teleologisch zu reduzieren: Grundsätzlich könne die – in den Gesetzesmaterialien so bezeichnete – „Vermutung“ des § 725 Abs 1 ABGB nur durch die „ausdrückliche“ (dh in der Verfügung zumindest angedeutete) Anordnung des Gegenteils entkräftet werden. Dem liege aber zugrunde, dass Verfügungen während eines aufrechten Familienverhältnisses typischerweise die Erwartung zugrunde liege, dass dieses fortbestehen werde. Verfügungen vor Begründung eines Familienverhältnisses müssten jedoch keineswegs durch dessen spätere Begründung motiviert gewesen sein. Daher sei es in diesem Fall angebracht, den Beweis zuzulassen, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Umlauft/Huf (in Klang3 § 725 Rz 9) stellen insofern klar, dass eine „Andeutung“ in der Verfügung in dieser Konstellation nicht erforderlich sei.
[24] Im Ergebnis ähnlich, aber ohne nähere Begründung meinen Barth/Pesendorfer (Erbrechtsreform 2015 [2015] 74), dass die „Vermutung“ des § 725 Abs 1 ABGB bei Errichtung der Verfügung vor Begründung des Familienverhältnisses „leichter widerlegbar“ sei.
[25] Dogmatisch anders ist der Ansatz von Eccher (Die österreichische Erbrechtsreform [2017] Rz 90; ebenso Eccher/Umlauft, Erbrecht7 [2020] Rz 4/72). Wie Schauer vertritt er die Auffassung, dass § 725 Abs 1 ABGB grundsätzlich auch Verfügungen erfasse, die vor Begründung des Familienverhältnisses errichtet wurden. Er nimmt aber keine teleologische Reduktion (durch Zulassung des Gegenbeweises) vor, sondern knüpft an der „ausdrücklichen“ Anordnung des Gegenteils an: Zwar könne eine solche Anordnung nur angenommen werden, wenn sie in der Verfügung angedeutet sei. Wurde diese aber vor Begründung des Familienverhältnisses errichtet, könne die Andeutung auch darin liegen, dass der Begünstigte nicht als Ehegatte oder Lebensgefährte bezeichnet werde. Zwar führt Eccher nicht aus, welche Folgen eine solche „Andeutung“ hätte; nach allgemeinen Grundsätzen wäre sie aber wohl (nur) der Ausgangspunkt für die Ermittlung des wahren Willens des Erblassers.
[26] Tschugguel (Glosse zu 2 Ob 192/18a, EF-Z 2019, 231) vertritt die Auffassung, dass es für die Anwendung von § 725 Abs 1 ABGB darauf ankomme, ob die Ehe oder Lebensgemeinschaft im Zeitpunkt der Verfügung „in einer Weise absehbar war, dass sie den letztwillig Verfügenden bereits entscheidend motivieren konnte“. Damit stellt er offenkundig auf ein objektives Kriterium (zeitliche Nähe) ab, das typischerweise für ein bestimmtes Motiv spricht. Bei diesem Verständnis wäre irrelevant, ob das bevorstehende Familienverhältnis tatsächlich Motiv für die Verfügung war und wen dafür die Beweislast trifft. In ähnlicher Weise vertrat schon zuvor Reith (Quid novi? – Das ErbRÄG 2015 aus Sicht des Ehegatten und eingetragenen Partners, Zak 2017, 184 [186]) die Ansicht, dass § 725 Abs 1 ABGB auf Verfügungen anwendbar sei, die „im Hinblick auf ein bestehendes Naheverhältnis“, aber noch vor dem Eingehen einer Ehe errichtet wurden.
[27] 4. Nach Ansicht des Senats hat die Ansicht Welsers, dass § 725 Abs 1 ABGB alle vor Begründung des Familienverhältnisses errichtete Verfügungen erfasse, die besseren Gründe für sich.
[28] 4.1. Ausgangspunkt ist der Wortlaut der Bestimmung, der nach praktisch einhelliger Auffassung nicht danach unterscheidet, ob die Verfügung vor oder nach der Begründung des Familienverhältnisses errichtet wurde.
[29] Die gegenteilige Ansicht von Christandl/Nemeth (oben 3.2.) dürfte nicht ausreichend berücksichtigen, dass § 725 Abs 1 ABGB auf den Zeitpunkt der Beendigung des familienrechtlichen Verhältnisses abstellt. Zu diesem Zeitpunkt „betreffen“ aber letztwillige Verfügungen auch dann den Ehegatten, Partner oder Lebensgefährten, wenn sie vor Begründung des jeweiligen Familienverhältnisses errichtet wurden. Der Wortlaut von § 725 Abs 1 ABGB unterscheidet sich daher – auch insofern – in einer nicht der Klarheit dienenden Weise von jenem des § 2077 BGB, der möglicherweise als Vorbild für die Neuregelung gedient hat. Denn diese Bestimmung regelt ausdrücklich (nur) den Fall, dass der Erblasser „seinen Ehegatten bedacht“ hat. Das trifft bei einer Verfügung vor der Eheschließung nicht zu (Czubayko in Burandt/Rojahn, Erbrecht3 [2019] § 2077 Rz 2 mwN). Dennoch wird im Schrifttum eine analoge Anwendung erwogen, wenn die Verfügung in Erwartung der späteren Eheschließung getroffen wurde (vgl etwa Leipold in MüKo BGB8 § 2077 Rz 7).
[30] 4.2. Angesichts des eindeutigen Wortlauts erforderte die Berücksichtigung des konkreten Motivs, wie Schauer zutreffend aufzeigt (oben 3.3.), eine teleologische Reduktion.
[31] (a) Für eine solche Vorgangsweise spricht, dass § 725 Abs 1 ABGB als typisierende – also von den Umständen des Einzelfalls unabhängige – Sonderregelung für einen bestimmten Fall des Motivirrtums gedeutet werden kann. Damit steht die Bestimmung in einer gewissen Kontinuität zur Rechtslage vor dem ErbRÄG 2015, die vergleichbare Situationen den Regeln über den Motivirrtum unterstellt hatte (dazu zuletzt ausführlich Schauer, Der geschiedene Ehegatte als Testamentserbe, iFamZ 2012, 145 ff).
[32] (b) Auf dieser Grundlage schließt die Errichtung der Verfügung während eines aufrechten Familienverhältnisses eine Berücksichtigung des konkreten Motivs jedenfalls aus. Denn die „Vermutung“ des Gesetzgebers, dass in solchen Fällen das Fortbestehen des Familienverhältnisses Motiv für die Verfügung ist, veranlasste ihn zu einer insofern eindeutigen Regelung, die an die Beendigung des familienrechtlichen Verhältnisses – außer bei ausdrücklich anderer Anordnung – die Rechtsfolge der „Aufhebung“ der letztwilligen Begünstigung knüpft (oben 2.). Hingegen könnte man im Sinn Schauers erwägen, dass in Situationen, in denen das Fortbestehen eines Familienverhältnisses nicht typisches Motiv für die Verfügung ist – was bei Errichtung der Verfügung vor Begründung des Familienverhältnisses zutreffen könnte – der Beweis eines anderen Motivs zulässig ist. Das entspräche in der Sache auch den anderen Lehrmeinungen, die eine auf das Motiv abstellende vermittelnde Lösung vertreten (oben 3.3.).
[33] 4.3. Eine teleologische Reduktion setzt allerdings – als Gegenstück zur Analogie – nach allgemeinen Grundsätzen voraus, dass deutlich abgrenzbare Sachverhalte vom klaren Zweck der Norm nicht erfasst sind (P. Bydlinski in KBB6 § 7 Rz 5; G. Kodek in Rummel/Lukas4 § 7 Rz 61; Posch in Schwimann/Kodek5 § 7 Rz 20; RS0008979). Ein derart klarer Zweck ist hier nicht zu erkennen:
[34] (a) Die Gesetzesmaterialien (oben 1.) stellen nur auf den mutmaßlichen Willen des Erblassers bei Beendigung des Familienverhältnisses ab: Ein früherer Ehegatte, eingetragener Partner oder Lebensgefährte werde „gerade nicht wollen, dass der andere Teil nach ihm erbt“. Dass dies nur für Verfügungen gelten soll, die während des aufrechten Familienverhältnisses errichtet wurden, lässt sich dieser Formulierung nicht entnehmen. Vielmehr geht daraus klar hervor, dass der Gesetzgeber die Verhältnisse am Ende des Familienverhältnisses als maßgebend ansah, nicht jene bei Errichtung der Verfügung (so insb Welser, Erbrechts-Kommentar § 725 Rz 2).
[35] (b) Auch objektiv kann dem § 725 Abs 1 ABGB die Annahme unterstellt werden, dass bei Beendigung eines Familienverhältnisses regelmäßig eine solche Zerrüttung der Beziehung zwischen dem Erblasser und dem Bedachten vorliegt, dass das Erlöschen der Verfügung dem mutmaßlichen Willen des Erblassers entspricht. Das gilt unabhängig davon, wann die Verfügung errichtet wurde. Eine unterschiedliche Behandlung von Verfügungen, die vor oder nach der Begründung des Familienverhältnisses errichtet wurden, lässt sich daher angesichts des nicht differenzierenden Wortlauts nur schwer rechtfertigen.
[36] (c) Letztwillige Verfügungen zugunsten einer natürlichen Person werden zudem regelmäßig darauf beruhen, dass eine Nahebeziehung zwischen dem Erblasser und dem Bedachten besteht und der Erblasser mit dem Fortbestehen dieser Beziehung (wenn auch allenfalls in veränderter Form) rechnet. Damit wird bei endgültigem Wegfall der Nahebeziehung ein Motivirrtum iSv § 572 ABGB vorliegen, wenn dem Gegner der Beweis gelingt, dass die Nahebeziehung das einzige Motiv für die Verfügung war oder zumindest kein anderes wesentliches Motiv – als nicht ausschließbar – übrig bleibt (2 Ob 41/19x EvBl 2020/53 [Kietaibl] = EF-Z 2020, 37 [Welser] mwN; RS0012420 [insb T3]).
[37] Eine nach der Verfügung eingegangene Ehe, eingetragene Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft wird in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Vertiefung oder Formalisierung einer schon zuvor bestehenden Nahebeziehung bilden. Dabei wird nicht selten die bevorstehende Begründung des Familienverhältnisses ohnehin das Motiv für die Verfügung sein, was auch nach Auffassung der Vertreter der vermittelnden Lösung (oben 3.3.) zur Anwendung von § 725 Abs 1 ABGB führte. Aber auch sonst spricht die regelmäßig bestehende Kontinuität zwischen der persönlichen Nahebeziehung, die der Verfügung zugrunde lag, und dem später begründeten Familienverhältnis dafür, dass der Gesetzgeber auch solche Fälle in die typisierende, also nicht am konkreten Motiv anknüpfende Regelung des § 725 Abs 1 ABGB einbeziehen wollte.
[38] (d) Für diese Ansicht spricht weiters, dass die Auflösung einer Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft meist mit einer Trennung der Vermögenssphären verbunden ist, die typischerweise abschließenden Charakter hat. Das Aufrechtbleiben einer letztwilligen Verfügung stünde in einem Spannungsverhältnis zu dieser vermögensrechtlichen Auseinandersetzung. Auch das gilt wiederum unabhängig vom Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung, sodass der nicht differenzierende Wortlaut auch aus diesem Blickwinkel gerechtfertigt ist.
[39] (e) Für die Maßgeblichkeit des Wortlauts sprechen zudem Einfachheit und Rechtssicherheit: Wird allein am Vorliegen der Verfügung bei Beendigung des Familienverhältnisses angeknüpft, erübrigen sich Beweisaufnahmen zum oft weit in der Vergangenheit liegenden Motiv des Erblassers oder zum damaligen Bestehen einer Lebensgemeinschaft. Die Parteien werden daher nicht zum Führen eines Prozesses mit unsicherem Ausgang veranlasst. Das spricht jedenfalls dann gegen eine teleologische Reduktion, wenn sich – wie hier – aus dem Wortlaut der Bestimmung eine von den Umständen des Einzelfalls unabhängige Regelung ergibt und der Zweck der Norm nicht zwingend das Gegenteil erfordert.
[40] 4.4. Die besseren Gründe sprechen somit gegen eine teleologische Reduktion von § 725 Abs 1 Satz 1 ABGB. Das konkrete Motiv einer unter diese Bestimmung fallenden letztwilligen Verfügung ist daher auch dann irrelevant, wenn der Erblasser sie vor Begründung der später aufgelösten Ehe, Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft errichtet hatte.
[41] 4.5. Nur zur Klarstellung ist festzuhalten, dass auch Verfügungen vor Eingehen des Familienverhältnisses (theoretisch) eine gegenteilige Anordnung iSv § 725 Abs 1 ABGB enthalten können. Dafür müsste in der Verfügung zumindest angedeutet sein, dass die Zuwendung nicht auf einer persönlichen Nahebeziehung beruhte. Denn nur dann könnte angenommen werden, dass auch die Beendigung eines später begründeten Familienverhältnisses nach dem mutmaßlichen Willen des Erblassers nicht zur Aufhebung der Verfügung führen sollte. Ein solcher Fall wird aber wohl nur selten vorliegen.
[42] 5. Aus diesen Gründen muss der Revisionsrekurs scheitern, ohne dass es auf das Motiv des strittigen Testaments ankäme. Die dieser Entscheidung zugrunde liegenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:
§ 725 Abs 1 Satz 1 ABGB erfasst auch solche letztwillige Verfügungen, die der Erblasser vor Eingehen einer Ehe, eingetragenen Partnerschaft oder Lebensgemeinschaft errichtet hat.
[43] 6. Die Kostenentscheidung ist dem Erstgericht vorzubehalten, weil das Rekursgericht die Kostenbestimmung (im Ergebnis) bis zur Rechtskraft vorbehalten hat. Daran ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0129336).
Textnummer
E132739European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00076.21X.0805.000Im RIS seit
30.09.2021Zuletzt aktualisiert am
14.01.2022