Entscheidungsdatum
24.02.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W105 2198855-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , XXXX geb., StA Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.05.2018, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.02.2021 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. XXXX wird eine befristete Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 29.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei am XXXX geboren, aus der Provinz Paktia, verfüge über eine 12-jährige Grundschulbildung und habe Afghanistan aus Angst vor den Taliban verlassen. Diese hätten von ihm gefordert, dass er mit ihnen zusammenarbeite, was er jedoch nicht wollte. Danach sei er bedroht worden und habe das Land verlassen.
1.3. Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) vom 16.04.2018 bekräftigte er seine inhaltlichen, bisherigen Angaben in nachstehender Form:
VP: Mein Heimatdistrikt befindet sich in der Nähe der pakistanischen Grenze. Dort gibt es sehr viele, aktive Taliban. Außerdem hat die Regierung dort nichts zu sagen. Als die Daesh immer stärker wurden haben sie immer mehr junge Burschen zwangsrekrutiert. Der XXXX ist der stellvertretende Kommandant der Taliban dieses Distriktes. In der Anfangszeit hat er immer in der Moschee nach dem Gebet die Burschen ermutigt, sich dem Dschihad anzuschließen, um die Ungläubigen und die Regierung zu bekämpfen. Er bezeichnete die afghanische Regierung als Kufar, das bedeutet auch Ungläubig.
Am 4.8. war ich unterwegs in die Schule, als ich von denen angehalten wurde, sie sagten zu mir, dass ich keine Angst haben solle und mit Ihnen mitkommen solle. Sie bringen mich an einen Ort, an dem ich die Wahrheit sehen werde. Ich weiß nicht, ob es genau der 4.8. war. Ich hab sie gefragt, ob sie mich umbringen wollen, sie sagten warum sollen sie mich umbringen, sie wollen mir nur den rechten Weg zeigen. Wenn man den rechten Weg geht, dann tut einem auch niemand was. Umgekehrt weißt du es besser, was passiert. Sie sagten, ich solle keine Angst haben und verbanden mir die Augen mit einem schwarzen Stofftuch. Ich musste dann in ihr Auto einsteigen und mitfahren. Die Fahrt dauerte 35 – 40 Minuten. Sie sagten zu mir, sie nehmen mir die Augenbinde ab, aber ich solle nichts Blödes machen, ich hatte Angst. Sie brachten mich in ein Zimmer, auf den Wänden waren weiße Flaggen mit religiösen Schriften aufgehängt. Dort war auch ein Mann, der für mich wie ein Ausländer aussah, er war glaube ich ein Pakistani oder ein Punjabi. Der hat gar nicht gesprochen.
Dort war ein Mann mit rotgefärbten Bart und dort war auch ein Fernseher, verbunden mit einem Laptop. Sie haben mir dann am Laptop Fotos von Baghram gezeigt, wie sie Paschtunen dort ausgezogen haben und Hunde auf sie losgelassen haben. Sie haben mir Fotos von Amerikanern gezeigt, die die Schleier von afghanischen Frauen bei Hausdurchsuchungen abgenommen haben. Danach haben sie mir ein Video gezeigt, dieses wurde in Jalalabad gedreht, welches gezeigt hat, wie Dorfälteste durch Bomben der Daesh getötet wurden. Außerdem haben sie mir gesagt, dass die Daesh von den Amerikanern gegründet wurden. Wir werden von den Daesh und den Amerikanern angegriffen und die Regierung unterstützt sie dabei. Sie sagten, wir wollen an der Provinzgrenze zu Pakistan ein Emirat gründen und dafür brauchen wir junge, kräftige Burschen wie mich. Ich sagte, was habe ich davon, dann sagte ein anderer, wenn du stirbst kommst du ins Paradies, einen besseren Tod kann sich ein Mann nicht wünschen. Nachdem sie mir das alles gesagt haben, haben sie mir wieder die Augen verbunden und haben mich wieder dorthin gebracht, wo sie mich aufgesammelt hatten.
Sie fragten mich, ob ich mich dem Dschihad anschließe, ich sagte ja. Daraufhin fragten sie mich, ob ich gleich mitkomme, ich sagte ich muss meinen Vater fragen, das wäre meine Pflicht, sonst ist es kein Dschihad.
Aber als ich nach Hause gegangen bin, habe ich es meinem Vater nicht erzählt, weil ich Angst hatte, dass er mit mir schimpft.
So vergingen sechs Tage, ich ging weiter in die Schule, als wäre nichts gewesen. Am 6. Tag bin ich diesen Leuten wieder begegnet und sie fragten mich, warum ich denn nicht Bescheid gegeben hätte. Ich sagte, dass mein Vater krank war, und dass ich ihn nicht belästigen wollte. Sie fragten weiter, sie waren fünf bewaffnete Leute, ich hatte Angst, begann zu weinen. Sie sagten, sie geben mir drei Tage Zeit.
Ich bin sofort nach Hause, hab es meiner Mutter erzählt, die hat es meinem Vater erzählt. Mein Vater hat mich zu sich gerufen, und sagte ich sollte mir keine Sorgen machen, er wird mit diesen Leuten reden. Mein Vater ging zum Dorf-Malek namens Habib, und hat ihn gebeten, dass dieser ein Treffen mit dem Mufti arrangiert. Mein Vater hat sich am nächsten Tag mit denen getroffen und denen gesagt, wir finden eine Lösung, ich kann auch Geld zahlen, damit mein Sohn freikommt. Ausgemacht war dann, dass mein Vater einen Toyota Hilux (Pickup) kauft, fünf Personen einkleidet und fünf Kalaschnikows kauft. Mein Vater sagte immer, dass dies alles zusammengerechnet 80.000 US-Dollar betrug, und er bat um einen Monat Zeit. Sie sagten nein, und einigten sich auf 20 Tage. Nach dem Treffen fuhr er nach Hause, hat sich mit seinem besten Freund Miram beraten, sein Freund meinte, er würde das nicht tun.
Mein Vater sollte zur Regierung gehen und Anzeige erstatten. Mein Vater fuhr in die Provinzhauptstadt Gardez und hat der Polizei unser Problem geschildert. Sie sagten, sie können mir keine zwei Bodyguards zur Verfügung stellen, um für meine Sicherheit zu sorgen. Mein Vater fuhr dann zur Provinzverwaltung und hat dort Anzeige erstattet. Auch dort haben sie ihm gesagt, sie können nichts tun.
In diesem Zeitraum hielt ich mich im Haus des Freundes meines Vaters auf, 15 Tage lang. Als mein Vater aus Gardez zurückkam sagte er seinem Freund, dass er keine positiven Nachrichten hat. Mein Vater kämpfte mit seinem Gewissen. Er dachte, dass wenn er den Leuten helfen würde, er nur seinem Sohn helfen würde, aber vielen anderen nicht. Der Freund meines Vaters sagte zu ihm, er kenne einen Schlepper, am Ende des Tages hat er sich für diesen Weg entschieden.
Ich bin dann um Mitternacht zu unserem Haus gebracht worden, habe mich von meiner Familie verabschiedet und bin abgereist. Als ich im Iran war, hat mir mein Vater erzählt, dass die Taliban da waren, die Fenster eingeschlagen haben, sie wollten ins Haus rein, haben es aber nicht geschafft. Sie wollten auch die Dorfbewohner gegen uns aufhetzen, in dem sie sagten, ich wäre ein Kufar.
LA: Haben Sie somit alle Ihre Gründe bzw. alle Details für die Asylantragstellung genannt?
VP: Das sind alle Gründe und Details, mehr kann ich nicht dazu angeben.
LA: Warum haben Sie bei der EB ein falsches Geburtsdatum angegeben?
VP: Ich glaub der Monat war falsch, sonst müsste es richtig sein. Bei uns in Afghanistan ist es üblich, dass das Geburtsjahr darauf steht. Und in der Tazkira steht ebenfalls dieses Jahr.
LA: Was sagen Sie zu der Altersfeststellung?
VP: Ich sage Ihnen das, was ich weiß. Man hat mich nicht viel älter gemacht.
LA: Warum haben Sie heute nach der erfolgten Altersfeststellung wiederum gelogen?
VP: Wie gelogen?
LA: Bei Ihrem Geburtsdatum!
VP: Das was auf der Tazkira steht ist mein Geburtsdatum. Die Altersfeststellung ist ein fiktives, was kann ich dafür?
LA: Warum sagten Sie heute, dass Sie 18 alt wären?
VP: Ich werde bald 19.
LA: Warum haben Sie heute erneut ein falsches Geburtsdatum angegeben, obwohl es nicht möglich ist?
VP: Sie haben mich nach meinem Geburtsdatum gefragt, ich kenne nur das. Die Altersfeststellung hat den XXXX ergeben. Meinen Sie das?
LA: Ja. Somit sind Sie mindestens wie alt?
VP: Ca. 19. Und in drei Monaten 20, oder?
LA: Wo genau wurden Sie von den Leuten abgepasst?
VP: Auf dem Schulweg.
LA: Waren Sie alleine?
VP: Ja.
LA: Wie lange war Ihr Schulweg?
VP: 30 Minuten zu Fuß ungefähr.
LA: Wer hat das gesehen?
VP: Es ist eine Art Hügel, dann nimmt man den Weg Richtung Schule. Man nennt es Chamray.
LA: Wie viele Leute waren das?
VP: Fünf.
LA: Waren Sie bewaffnet?
VP: Sie hatten Waffen und ein Maschinengewehr.
LA: Kannten Sie die Leute?
VP: Die anderen kannte ich nicht, aber den Mufti kennt jeder im Dorf.
LA: Was trugen die Leute für eine Kleidung?
VP: Sie hatten die afghanische Tracht an, lange Haare und Bärte, hin und wieder ziehen sie auch die Hosen von gefallenen Soldaten an. Die Hosen ziehen sie nicht an, sondern die Jacken.
LA: Wie sehen die aus?
VP: Die Uniform der Nationalarmee, im Tarnmuster.
LA: Sie wollen allen Ernstes erzählen, dass Taliban Uniformen der Soldaten tragen?
VP: Nein, nicht die ganze Uniform von den Soldaten, vielleicht einzelne Teile. Und auch nicht jeder, vielleicht einer von Hundert.
LA: Und einer von Ihnen trug eine Jacke?
VP: Ja einer von denen, mit dem Sturmgewehr hatte so eine Jacke an.
LA: In welches Auto wurden sie gebracht?
VP: Das war ein Pick-Up.
LA: Welche Farbe?
VP: Schwarz.
LA: Wie viele Leute passen in einen Pickup?
VP: Hinten drei, zwei vorne. Auf der Ladefläche können noch sehr viele sitzen.
LA: Warum sollten Sie rekrutiert werden?
VP: Nicht nur ich, die wollen so viele wie möglich.
LA: Warum sollten fünf Leute notwendig sein, um einen kleinen Jungen mitnehmen zu wollen?
VP: Sie haben mir dort nicht aufgelauert, es war eine zufällige Begegnung.
LA: Wie viele Personen waren in dem Raum?
VP: Am Anfang war nur ich dort, keine anderen.
LA: Warum sagten Sie vorher, es wären zwei weitere dort gewesen?
VP: Der eine, der auf Paschtu mit mir gesprochen hat und der eine, der wie ein Pakistani ausgeschaut hat.
LA: Also waren Sie nicht alleine in diesem Zimmer?
VP: Aber ich war der einzige Junge.
LA: Was sagte der Mann zu Ihnen auf Paschtu?
VP: Der Pakistani brachte Fotos und der Paschtune erklärte mir alles.
LA: Was stand auf den Schriften in diesem Zimmer?
VP: Arabische Verse waren das.
LA: Konnten Sie sie lesen?
VP: Ja natürlich konnte ich sie lesen.
LA: Warum wissen Sie, dass es Paschtunen waren, die ausgezogen wurden und auf die die Hunde losgelassen wurden?
VP: Der Mann, der mir die Fotos gezeigt hat, er hat das gesagt und mir erklärt. Man hat die Hunde auf sie losgelassen, in Baghram war das. Er hat mir die Fotos gezeigt, um mir zu beweisen, dass die Amerikaner schlecht sind. Auf den Fotos hat man gesehen, dass die Amerikaner ihre Gefangenen halbnackt mit einem Hund an der Leine, schikaniert haben.
LA: Wie lange wurden Sie festgehalten?
VP: In dem Zimmer war ich ungefähr zwei Stunden.
LA: Wie lange dauerte die ganze Entführung?
VP: Insgesamt drei Stunden.
LA: Wo war dieses Zimmer?
VP: Das weiß ich nicht, sie haben mir die Augen zugebunden.
LA: Wem haben Sie von der Entführung erzählt?
VP: Erst nach dem ich das zweite Mal angehalten wurde, habe ich das meiner Mutter erzählt.
LA: Warum?
VP: Weil sie mich beim dritten Mal mitgenommen hätten.
LA: Ich glaube Ihnen nicht, dass wenn man entführt wird, das niemandem erzählt?
VP: Aus Angst vor meinem Vater.
LA: Warum sollten Sie Angst davor haben?
VP: Mein Vater ist ein anderer Typ von Vater, unsere Provinz ist gefährlich. Ich hatte Angst, dass er mit mir schimpft.
LA: Was haben Sie zu Hause gesagt, warum Sie nach der Entführung so spät nach Hause gekommen sind?
VP: Ich wurde auf dem Weg zur Schule entführt, ich kam sogar eine halbe Stunde früher nach Hause. Normalerweise wäre ich von 7 bis 12 in der Schule, an diesem Tag war ich bereits um elf zu Hause.
LA: Und was sagten Ihre Eltern dazu?
VP: Ich sagte, dass der Lehrer nicht da war und wir früher gehen durften.
LA: Wo wurden Sie beim zweiten Mal angehalten?
VP: Auf demselben Weg, ich hab nur diesen einen Weg genommen.
LA: Wie viele Personen waren es damals?
VP: Beim zweiten Mal war nicht nur der Kommandant dabei, sondern sogar der Kommandant namens Allanoor.
LA: Wie viele Personen insgesamt?
VP: Insgesamt fünf mit dem Kommandanten. Diese Gruppierungen haben Check-Points, mal in der Nacht, mal tagsüber.
LA: Und die sind Ihnen vorher nicht aufgefallen?
VP: Doch, aber früher war es viel weniger und ich war viel jünger.
LA: Wann haben Sie mit der Schule begonnen?
VP: Mit 7.
LA: Warum sind Sie beim zweiten Mal nicht mitgenommen worden?
VP: Weil ich sie angefleht habe und gesagt habe, dass mein Vater krank war.
LA: Was sagten die dann?
VP: Sie sagten mir drei Tage habe ich Zeit.
LA: Wie viele Tage betrug Ihr Ultimatum beim ersten Mal?
VP: Beim ersten Mal haben sie mir kein Ultimatum gegeben, ich sagte, ich hole von meinem Vater das Einverständnis. Wenn man in den Dschihad geht, braucht man das Einverständnis der Eltern.
LA: Warum ist Ihr Vater noch am Leben?
VP: Mit meinem Vater hatten sie nichts zu tun, sie wollten mich.
LA: Ihr Vater hat Verhandlungen geführt und ist wortbrüchig geworden, warum ist er noch am Leben?
VP: Ich habe mit meinem Vater gesprochen, als ich im Iran war, da haben sie versucht die Dorfbewohner gegen ihn aufzuhetzen, in dem sie sagten, er wäre der Vater eines Ungläubigen.
LA: Warum bestätigt die Behörde, dass Sie Verletzungen am Weg nach Österreich erlitten haben?
VP: Ich habe Ihnen gesagt, dass mein Vater das geschrieben hat.
Anm.: VP legt Schreiben vor – Anlage 4
LA: Von welcher Gruppe wurden Sie entführt?
VP: Von den Taliban.
LA: Woher wussten Sie, wie die Verhandlungen zwischen Ihrem Vater und den Taliban liefen?
VP: Mein Vater hat es mir erzählt.
LA: Warum verlangte er 30 Tage zur Besorgung des Geldes?
VP: Man braucht seine Zeit, er wollte einige Marktstände verkaufen. Man kann dem Mieter nicht von einem auf den anderen Tag sagen, du musst heute weg.
LA: Und warum 20 Tage?
VP: Sie haben ihm maximal 20 Tage Zeit gelassen.
LA: Warum ist ihr Vater nicht in Gefahr?
VP: Mein Vater ist ein älterer Mann. Was soll er mit denen machen?
LA: Ihr Vater hat Verhandlungen geführt und sich nicht an die Vereinbarung gehalten!
VP: Das war ja auch der Grund, warum sie versucht haben meinen Vater umzubringen. Sie haben die Fenster eingeschlagen. Die Dorfältesten haben sich auf die Seite meines Vaters gestellt, indem sie den Taliban gesagt haben, dass sein Sohn ein Ungläubiger ist. Das war der Grund, warum ihm die Taliban nichts getan haben. Mein Vater hat den Taliban gesagt, dass sein Sohn ein Ungläubiger ist. Mein Vater durfte eine Woche nicht in die Moschee gehen.
LA: Gibt es in Afghanistan Sippenhaftung?
VP: Kommt immer auf die Sache an.
LA: Und in Ihrer Sache?
VP: Wäre mein Vater auf meiner Seite dann schon, deshalb trifft das nicht zu.
LA: Wie lange hat es gedauert vom Zeitpunkt als ihr Vater von der Entführung erfahren hat, bis zu den Verhandlungen?
VP: Am nächsten Tag hatte er die Verhandlung.
LA: Wann hat er Anzeige erstattet?
VP: Das weiß ich nicht, wann genau, er war fünfzehn Tage in Gardez. Ich habe ihn fünfzehn Tage nicht gesehen.
LA: Warum war er 15 Tage in Gardez?
VP: Mein Vater hat versucht Anzeige zu erstatten. Man kann nicht einfach hingehen, man muss mit einem Anwalt sprechen, das dauert eine Zeitlang.
LA: Wie lange dauerte es von den Verhandlungen bis zur Rückkehr Ihres Vaters aus Gardez?
VP: Meinen Vater habe ich 15 Tage später gesehen, wann er zurückkam weiß ich nicht.
LA: Wie lang dauerte es von der Verhandlung bis zu Ihrer Ausreise?
VP: Ich glaube 17 oder 16 Tage danach, ich glaube wir hatten noch drei Tage Zeit.
LA: Warum haben Sie sich beim Freund Ihres Vaters versteckt?
VP: Das zählt nicht als Versteck, weil es bei einem Verwandten zu gefährlich ist. Das Problem ist, dass man oft in ländlichen Gebieten, von Verwandten verraten wird.
LA: Warum?
VP: Mein Vater hat das beschlossen, aus Angst, dass sie sofort kommen.
LA: Waren Sie schon einmal in Kabul?
VP: Nein.
LA: Kennt Sie irgendwer in Kabul?
VP: Nein. Mein Vater hat nur zwei Söhne, ich bin der Älteste und dann gibt es noch meinen jüngeren Bruder.
LA: Ist Ihr Bruder in Gefahr?
VP: Nein der ist klein und nur zu Hause. Erst mit 15,16 wird es gefährlich.
LA: Was hindert Sie an einer Rückkehr nach Afghanistan?
VP: Ich befürchte den Tod durch die Taliban, dieses Mal werden sie mich umbringen. Selbst wenn ich sie anflehe und bete, werden sie mich umbringen. Mein Vater sagt ja nicht, dass er mit mir in Kontakt steht, er sagt, dass ich ohne sein Wissen geflüchtet bin. Wenn sie mich nach Paktia schicken werde ich sowieso gleich getötet, auch in Kabul würden sie mich sofort finden, weil sie haben dieselben Möglichkeiten wie die CIA, die können Telefone abhören. Ich gehe zur Schule, arbeite, ich bitte Sie, dass alles zu berücksichtigen.
1.4. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit dem im Spruch genannten Bescheid bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 24/2016, sowie gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 wurde dem Antragsteller nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Antragsteller eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Beweiswürdigend führte die Behörde in erster Instanz im nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid zentral aus, dass dem Vorbringen des Antragstellers zu seinen Fluchtgründen aufgrund aufgetretener Widersprüchlichkeiten im Vorbringen keine Glaubhaftigkeit beizumessen sei,
1.5. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und einerseits auf die dokumentierte Praxis der Zwangsrekrutierung in Afghanistan durch Angehörige der aufständischen Taliban verwiesen sowie insbesondere darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Minderjährigen ein besonders sorgfältiger Maßstab anzulegen sei. Die Behörde in erster Instanz habe die vermeintlich aufgetretenen Widersprüchlichkeiten dem Antragsteller nicht vorgehalten bzw. ihm diesbezüglich keine Möglichkeit zur Rechtfertigung und Aufklärung geboten. Im Weiteren wiederholte der Antragsteller wesentliche Grundzüge seiner Vorbringensteile zu Ereignissen im Herkunftsstaat. Im Weiteren wurde die öffentliche mündliche Verhandlung beantragt.
1.6. Das BVwG führte am 09.02.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Pashtu durch.
Im Rahmen des Beschwerderechtsgespräches wurde dem Antragsteller einerseits Gelegenheit geboten, zu seinem Werdegang neuerlich Stellung zu beziehen sowie wurde versucht, durch gezielte Fragestellung den Wahrheitsgehalt der Angaben des Antragstellers zu jenen Ereignissen, welche seiner Darstellung nach zu seiner Ausreise geführt haben, näher beleuchtet. Das Beschwerderechtsgespräch stellt sich in wesentlichen Zügen wie nachstehend dar:
III. Zur persönlichen Situation des BF:
a) in Österreich:
R: Leben Sie in Österreich alleine oder leben Sie mit jemandem zusammen? Wie ist Ihre aktuelle Wohnsituation? Leben Sie in einer Flüchtlingspension?
BF: Ich wohne in einer WG des Integrationshauses. Ich bin dankbar und es ist dort gut.
R: Sie sprechen auch schon ein gut Deutsch? Welches Sprachniveau haben Sie? Besuchen Sie Sprachkurse oder sonstige Kurse, Schule, Vereine oder Universität?
BF: Ich habe drei Mal B2 besucht und B2 bestanden. Im November 2020 habe ich einen C1 Kurs auch besucht.
Der BF im fließendem Deutsch. Das hat am 8.11 beginnen und gib bis Dezember. Wegen Corona ist es alles schwierig. Ich habe die Übergangsklasse in der HAK dann habe ich einen Hauptschulabschluss gemacht und das habe ich absolviert. Dann ist Corona gekommen und dann habe ich das nicht geschafft.
R: Habe Sie in Österreich familiäre Bindungen?
BF: Ich habe Kontakt mit dem Cousin meines Vaters. Der lebt hier in Österreich seit 20 Jahren und ist auch Staatsbürger.
R: Wie sieht Ihr Kontakt zu Ihren Familienangehörigen aus?
BF: Zurzeit habe ich nur Kontakt zu meinen Eltern.
R: Können Sie das näher erläutern?
BF: Ich spreche mit ihnen ein Mal in der Woche am Telefon, wenn es dort die Möglichkeit vom Internet gibt, dann rufen sie mich an.
R: Worüber wird da gesprochen?
BF: Als sie in Paktia gewohnt haben gab es kaum Kontakt. Nach dem sie umgezogen sind und gelegentlich Internet bekommen haben, haben sie mich angerufen oder auch sie. Wir sprechen über alltägliche Dinge ich frage sie, wie es ihnen geht physisch und psychisch und auch finanziell. Wir sprechen nur über normale Dinge.
R: Wo leben Ihre Eltern zurzeit?
BF: Sie wohnen an der Grenze zu Pakistan. Diese Gegend nennt sich Korma. Das ist über der Grenze von Paktia. Es gehört zu Pakistan.
b) im Herkunftsstaat:
R: Im angefochtenen Bescheid des BFA wurde u.a. bereits festgestellt, dass Sie aus Afghanistan stammen. Geben Sie bitte nochmals an, welcher Volksgruppe und Religionsgemeinschaft Sie angehören? Welche Sprachen sprechen Sie?
BF: Ich stamme aus der Provinz Paktia, ich bin Paschtune und Sunnit und spreche Paschtu und spreche auch Dari. Dari habe ich erst hier in Ö gelernt.
R: Haben Sie in Ihrem Heimatland die Schule besucht, wenn ja, wie lange? Welche weitere Ausbildung haben Sie? Wo, wie lange?
BF: Ich war 9 Jahre in der Schule und es wurde bei der EB mit 11 Jahren geschrieben und das ist falsch.
R: Welchen Beruf haben Sie in Ihrem Heimatland ausgeübt und wo war das und wie lange?
BF: Ich bin nur in die Schule gegangen. Ich bin manchmal mit meinem Vater mitgefahren.
R: Was hat Ihr Vater gearbeitet?
BF: Mein Opa hat viele Grundstücke gehabt in meinem Heimatdorf und mein Vater hat einen Teil verkauft und haben Marktstände dafür erworben. Wir haben von diesen gelebt und wir haben auch einen Garten gehabt und angebaut. Die Marktstände haben wir weitervermietet.
R: Können Sie nun in ein zwei Sätzen sagen, warum Sie Afghanistan verlassen haben?
BF: In der Gegend wo wir gewohnt haben, war wie gesagt die Grenze zu Pakistan und Afghanistan und dort waren viele Taliban. Die ganze Provinz Paktia ist besetzt von den Taliban. Wir hatten ein ganz normales Leben. Wir gingen in die Schule und mein Vater hat gearbeitet. Es ging uns gut bis die Daesh kamen und das Thema Jihad dort angesprochen und verbreitet wurde.
R: Was verstehen Sie unter Daesh?
BF: Die Daesh ist eine eigene Gruppe die gegen die Taliban als auch gegen die Schiiten sind. Sie wollen eine eigene Herrschaft machen. Sie werden von den Amerikanern unterstützt und haben die Dollar als Währung. Sie haben auch ganz andere Waffen als es in Afghanistan gibt. All diese Informationen haben wir in der Moschee bekommen.
R: Wie waren Sie persönlich betroffen?
BF: Unser Dorf hieß Marikhel (phonetisch) ich musste zur Schule über viele Dörfer gehen. Eines Tages wurde ich auf dem Weg zur Schule von ihnen angehalten. Sie haben mir gesagt, dass ich den guten Weg folgen soll, dann würde mir nicht passieren. Würde ich es nicht tun würde mir etwas passieren. Ich habe Angst bekommen und daraufhin haben sie mir die Augen zugebunden und ich mich an einem Ort gebracht, wo ich mich nicht bewegen nicht sprechen und nichts sagen darf.
R: Können Sie dieses Ereignis dieser Begegnung möglichst detailliert schildern, sodass ich mir ein genaues Bild machen kann unter Anführung zeitlicher, örtlicher und modaler Gegebenheiten.
BF: Es war wie gesagt morgens auf dem Weg zur Schule an einem Ort, was hügelig war und daneben war ein Fluss. Es waren fünf Männer, die in einem Auto dort standen und mich anhielten. Der Anführer heißt XXXX , den jeder kennt. Das war kein Fluss, das ist ein kleiner Bach.
R: Haben Sie diesen XXXX gekannt?
BF: Ja, den kannte jeder. Wenn ich in die Moschee gegangen bin. Meine Schule war von 8 Uhr. Ich bin um 7 Uhr von der Wohnung weggegangen. Um 8 hat die Schule begonnen und ging bis 12 Uhr. Jeden Mittag war ich in der Moschee. Wir haben dort Mittagsgebet gemacht um ca. 13.15 Uhr.
R: War dies ein Vorbeter?
BF: Er redet immer. Er hat zum Imam gesagt er soll über die wichtigen Themen sprechen und hat sich selbst wie ein Imam benommen.
R: Was waren die wichtigen Dinge?
BF: Er sprach immer von der afghanischen Regierung. Er sagte, es sei eine ungläubige Regierung und werde diese von Amerikanern und der EU regiert. Er hat gesagt wir müssen unser Land verteidigen. Wenn wir so leben wie jetzt, dann wir ein Tag kommen, wo wir die Amerikaner fragen, ob wir auf die Toilette gehen könne.
R: Wer war dieser Mann genau?
BF: Er ist eine Person, die ganz offen für die Taliban arbeitet.
R: Hat er auch eine bestimmte Funktion?
BF: Er hatte keine Führungsfunktion, sondern die Funktion zu missionieren, für den Jihad. Der Führer hieß Allah NUR. Dieser Führer ist ein sehr gewalttätiger und brutaler Führer, er tötet sofort, wenn ihm etwas nicht passt. XXXX spricht auf die Leute ein und versucht sie für den Jihad zu überreden.
R: Sie haben vorher von den Daesh gesprochen. Erklären Sie das näher.
BF: Wie vorhin gesagt, operieren die Daesh und die Regierung gemeinsam gegen die Taliban. Es ist so gekommen, dass die Taliban in Paktia die islamischen Emirate gegründet haben. Diese Sachen die der XXXX gesagt hat, hat er nicht nur zu mir gesagt, sondern zu allen Anwesenden in der Moschee.
R: Wozu hat er konkret aufgerufen?
BF: Er hat gesagt, dass wir uns den Taliban anschließen sollen um uns alle zu erretten.
R: Wie viele junge Männer waren so ungefähr jeden Tag in der Moschee?
BF: Es gab zwei Moscheen dort eine kleine Moschee und eine Hauptmoschee. Die kleine Moschee besuchten ca. 25 Leute. Die große Moschee besuchten mehr Leute. Es ist immer unterschiedlich es kommt auf die Jahreszeit an. Von 40 bis zu 70 Leuten können manchmal drinnen gewesen sein.
R: Haben sich diese jungen Menschen alle diesem XXXX angeschlossen?
BF: Ja, viele haben sich ihm angeschlossen. Diese Gegend war eine sehr kriminelle. Sie hatten Waffen und sie gingen mit Stolz zu den Taliban.
R: Für Sie selbst war das keine Option?
BF: Meine Eltern waren zwar Analphabeten, aber sehr wissend. Sie haben mir beigebracht mit der Gebetswaschung sogar sparsam zu sein. Wie soll ich dann eine andere Person töten und sein Blut fließen lassen?
R: Zurück zu dieser Entführung: Berichten Sie genau, was in der Nacht dieser Anhaltung passiert ist.
BF: Sie haben mich in einem Pickup mitgenommen, mir die Augen zugebunden. Dort angekommen, haben sie mich an der Hand in einem Ort geführt und mir gesagt, ich soll keinen Blödsinn machen. Sie wollen mir die Wahrheit sagen und mir nichts antun. Ich wurde in einen Raum gebracht wo zwei Männer anwesend waren. Einer der kaum sprach hatte einen Laptop vor sich und der andere, den ich als Talib sehe, hatte einen roten langen Bart und einen Turban auf dem Kopf. Der Mann vor dem Laptop zeigte mir auf einem angeschlossenen Fernseher ein paar Bilder. Mir wurden Bilder von den Amerikanern gezeigt, wie sie z.B. Männer gefesselt und mit den Hunden foltern die wie in Dörfern alte Männer und Frauen misshandeln und vor allem den Frauen eben schlechtes antun.
R: Haben Sie da Fotos gesehen?
BF: Ja, er hat Fotos. Der eine war sicher kein Afghane. Ich glaube, er war aus Pakistan. Er konnte glaube ich auch nicht Paschtu.
R: Die haben Fotos auf dem Papier oder auf dem Bildschirm gezeigt?
BF: Über den Laptop auf dem Bildschirm. Dann hat er mir auch ein Video gezeigt.
R: Was haben diese Männer zu Ihnen gesagt?
BF: Die Männer haben mir während des zeigen der Bilder gesagt, dass die Amerikaner eben unsere Menschen und Bevölkerung verstören wollen. Auf einem Bild war zu sehen, wie sie Frauen durchsuchten, was unserer Ehre schadet. Das haben sie auch gesagt, dass sie unsere Ehre verletzen.
R: Haben Sie etwas Konkretes gesagt?
BF: Deren Ziel ist es, dass wir gegen die Amerikaner und den Daesh einen Krieg führen, da sie uns eben aus deren Ansicht verstören wollen: Dieser Krieg sei ein Krieg der uns zurecht zusteht und wir für unser Land kämpfen sollten.
R: Sie haben vor dem BFA etwas ganz Konkretes erwähnt, was man zu Ihnen gesagt hat. Können Sie sich erinnern?
BF: Sie haben mir eben gesagt, dass sie uns Jugendlichen brauchen um die Emirate aufrecht zu stellen. Wir sollen uns diese anschließen, weil wir als Belohnung das Paradies bekäme. Das war die Antwort auf meine Antwort, was ich für einen Nutzen davon hätte.
R: Hat man Sie noch etwas Bestimmtes gefragt?
BF: Nach diesem Gespräch wurden mir wieder die Augen zugebunden und ich wurde an diese Stelle gebracht wo sie mich mitgenommen haben. Dort angekommen sagten sie mir noch, dass ich die Wahl hätte gleich mit ihnen mit zu gehen, ich sagte, ich müsste zuerst meine Eltern fragen, denn ihre Einstimmung ist die Voraussetzung für einen Jihad. Das beeindruckte sie und ließen mich mit der Aussage, ich solle mich bei ihnen melden, gehen.
R: Haben Sie dem Vater das sofort erzählt?
BF: Nein.
R: Waren Sie dann noch in der Schule?
BF: Ja, ich war 6 weitere Tage in der Schule, als ich am 6. Tag aufgehalten wurde.
R: Wo wurden Sie aufgehalten?
BF: Es war genau dieselbe Stelle, wo ich das letzte Mal angehalten wurde.
R: Welche Kleidung trugen die Männer?
BF: Alle von ihnen trugen lange Haare und entweder einen Turban und eine Art traditionelle Hut. Alle von Ihnen trugen weiße große Schuhe. Sie trugen diese weißen Gewänder und einer hatte ein Gewähr auf dem Pickup.
R: Warum haben Sie vor dem BFA gesagt, dass die Taliban Teile von der Uniform der Armee trugen?
BF: Es stand einer am Pickup und der trug eine Uniform der National Armee. Wenn Sie Soldaten aufhalten oder Schaden zufügen, dann nehmen sie Kleidung oder wichtige Gegenstände ab und tragen sie selbst.
R: Dieser XXXX hatte nur die Funktion zu missionieren, den glauben zu verbreiten?
BF: Er war offiziell und offen ein Talib. Seine Aufgabe war eben, so viele Leute wie möglich zu überzeugen und sich den Taliban anzuschließen.
R: Warum haben Sie dann vor dem BFA ganz spezifisch ausgesagt, dass er der Stellvertretende Kommandant der Taliban dieses Distriktes war?
BF: Es ist dort so, dass dort ein Kommandant dort nicht gewählt wird, sondern der, der Macht hat wird Kommandant. Allah NUR war der Kommandant vom Distrikt Ariub Zarzai. XXXX war ein Unterkommandant.
R: Ich habe Sie mehrmals gefragt und Sie sagten, dass er keine Funktion gehabt habe.
BF: Wenn es große Probleme gab, wo es Mord und andere Sachen ging, dann kam Allah NUR und schlichtete und handelte. Bei kleineren Sachen kam XXXX . Seine Hauptaufgabe war ebenso viele Leute wie nur möglich von deren Überzeugung zu überzeugen.
R: Ich habe Sie mehrfach gefragt, ob er eine Funktion gehabt hat. Dann sagten Sie nein, er hatte nur die Aufgabe zu überzeugen. Vor dem BFA haben Sie ausdrücklich gesagt, es ist der Stv. Kommandant des Distrikts.
BF: Ja, er ist der Stv. Kommandant von Allah NUR. Ich habe von seiner Aufgabe erzählt. Ich dachte, das ist klar.
R: Können Sie den Raum, in dem Sie festgehalten wurden, kurz beschreiben?
BF: Es war ein Raum, der abgedunkelt wurde, damit ich die Bilder auf dem Screen gut sehen konnte. Ich habe dennoch vieles gesehen und zwar die heiligen Aufschriften von den Propheten in einem Rahmen. Flaggen mit den Zeichen der Taliban und dem arabischen Satz, dass es keinen Gott außer Allah gibt und das Mohammed sein Prophet ist.
R: Wie viele Männer gibt es in Ihrem Herkunftsdorf?
BF: Es sind um die 35 Häuser dort. Ich weiß nicht, wie viele Männer es gibt.
R: Wissen Sie von einem Fall, dass sich jemand geweigert hatte sich anzuschließen und was ihm geschehen ist?
BF: Wenn man den Worten Allahs Gottes nicht folgt, dann begeht man einen Unglauben und dafür droht die Todesstrafe. Das setzen sie auch durch. Man kann sich zwar freikaufen, aber das nur für maximal einem Jahr, denn die Gruppe bzw. die Männer wechseln sich immer wieder.
R: Das beantwortet nicht ganz meine Frage. Die Frage wird wiederholt. Wissen Sie von einem Fall, dass sich jemand geweigert hatte sich anzuschließen und was ihm allenfalls geschehen ist?
BF: Ich habe viele gesehen. Hunderte von Leuten die sich geweigert haben und getötet wurden. Meistens wurden sie geköpft. Viele die von der National Armee heimgekommen sind, wurden geköpft.
R: Vor diesem Hintergrund und da ja offensichtlich das freikaufen nicht geklappt hat, haben Sie nie daran gedacht, sich in einem andern Landesteil Afghanistans sich zu begeben?
BF: Erstens hat es mit dem freikaufen nicht immer funktioniert. Es kam auf die Männer an, wie käuflich sie waren. Was das in anderen Provinzen fliehen betrifft, kann ich nur sagen, dass die Taliban überall sind, egal in welcher Provinz.
R: Jetzt ist das allgemein bekannt, das mehrere große Städte des Landes wie Kabul, Herat Mazar-e-Sharif unter dem Kommando der Regierung und unter der Kontrolle des staatlichen Militärs unter Polizei stehen. Dort haben jedenfalls die Taliban nicht freie Hand. Ist Ihnen das bekannt?
BF: Alle drei Provinzen betreffend kann ich sagen, dass ich niemanden habe, den ich um Unterkunft bitten könnte. In Herat sind die meisten Farsi sprachig. Sie würden mich als Spion bezichtigen und keine Ahnung was mit mir anstellen. Die Provinz Kabul ist extrem unsicher. Das Land ist von kriminellen. Es fliegen jeden Tag dort Bomben. Es gibt Selbstmordanschläge. Auch wenn man im Zentrum in dieser Provinz lebt. In Mazar-e-Sharif kann ich als Zazai (Stamm der Paschtunen) auch nicht leben, da die meisten dort Tadschiken sind und mich auch als einen Spion sehen würden.
R: Gab es aus Sicht der Taliban in Ihre Herkunftsregion einen besonderen Grund, gerade Sie zu rekrutieren oder waren Sie diesem Übergriff eher Wahllos wie alle anderen jungen Männer der Region ausgesetzt?
BF: Es war ein Zufall das sie auf mich gestoßen sind. Ihr Ziel ist es jedoch, jeden Jugendlichen dort zu rekrutieren. Sagt man direkt nein, wird man getötet.
R: Sind Ihnen Fälle bekannt, wo junge Männer die Provinz oder den Distrikt verlassen hätten?
BF: Ich kenne keinen Fall. Den Taliban sind sehr gut vernetzt. Ich habe sogar den Verdacht, dass es in jedem Haushalt ein Talib gibt, das gleiche kann ich über jede Provinz sagen. Überall gibt es die Taliban. Stiegt man in ein Taxi ein, kann man nicht wissen, ob der Fahrer ein Talib ist oder nicht.
R: Nun hat Afghanistan – ich weiß es nicht genau – 35 Mio. Einwohner. Glauben Sie tatsächlich, dass Sie als ein Zufall ausgewähltes Ziel eines Rekrutierungsversuches so wichtig wären, dass man landesweit planmäßig Sie suchen würde?
BF: Erstens, als ich Afghanistan verließ hatte ich keinen Kontakt zu meiner Familie, aus Angst die Taliban könnten den Verdacht schöpfen, meine Familie hätte mich bei der Flucht unterstützt, wären sie getötet worden. Wir hatten wie gesagt, ein einfaches normales Leben. Ich hatte zwei jüngere Geschwister und einen alten Vater der uns brauchte. Ich war gezwungen zu fliehen. Würden sie mich in Afghanistan wiedersehen oder erfahren, dass ich ein „Flüchtling“ bin, würden sie mich nicht erschießen, sie würden mich öffentlich vor allen Leuten köpfen und jeden Ihre Macht zu demonstrieren. Die Bevölkerung in noch mehr Angst und Schrecken zu setzen.
R: Wie glauben Sie, dass Sie unter einer Bevölkerung unter 35 Mio. Einwohnern, wie sollten die Taliban aus Paktia Sie wiedersehen? Wie würde man Sie erkennen?
BF: Alleine der Flughafen in Afghanistan ist für mich unsicher, denn es gibt dort Leute der Taliban. Die Polizei hat viele Mitglieder der Taliban die aber natürlich getarnt dort arbeiten. Die Taliban haben in ganz Afghanistan in jedem Büro und jedem Amt ein Mitglied, einen Spion, der für Sie abreitet.
R: Wenn Sie ein Polizist sind oder eine ganz wichtige Person, dann ist es ganz klar, aber Sie sind ein Schüler dieser Gegend, da würde es ja viel mehr Leute geben. Gibt es irgendeinen Aspekt der Sie von einem durchschnittlichen aufgeforderten Mann unterscheiden würde, dass die Taliban ein massives Interesse an Ihrer Habhaftung haben würde?
BF: Sie haben recht, es gibt dort keine so entwickelte Technik, dass man Leute und Bürger einfach so findet, aber dort kennt jeder zumindest 10 weitere um sich. Dort kennt man einfach jeden. Meine Familie war in Gefahr, es stand der Verdacht, dass sie mir geholfen hätte, was aber nicht stimmte. Die Taliban haben über Facebook mein Bild herausgefunden, dass ich geflohen bin. Sie würden mich auf jeden Fall gefangen nehmen und vor allen Leuten töten, um jeden Bürger zu zeigen, dass sie mächtig sind und sich niemand trauen soll zu fliehen. Außerdem war ich nicht der einzige der sich aus dem Distrikt getraut hat zu fliehen. Ich glaube nicht, dass es in Vergessenheit geraten wird. Ich glaube, sobald man aus dem Flughafen herauskommt, die Taliban wissen, dass man wieder im Land ist. Und wie Sie sagen, ob man Verfolgt wird oder nicht.
R: Die haben hunderte von Männern, die sie suchen. Die haben gar keine Notwendigkeit. Unter 35 Mio. ist es absurd Sie dort zu finden.
BF: Ich glaube schon, dass ich wichtig bin, wie ich bin einem Kommandanten entflohen und seinem Vertreter.
R: Ganz kurz Zurück zur zweiten Konfrontation am selben Ort: Wer war dort anwesend?
BF: Bei diesem zweiten Treffen war der Allah NUR persönlich und 5 Männer anwesend.
RV: Wieso haben Ihre Eltern in der Zwischenzeit Afghanistan verlassen?
BF: Meine Familie wurde nicht nur von den Dorfbewohnern schlecht behandelt, sondern deren Leben war auch in Gefahr. Sie hatten wie erwähnt, eineinhalb Jahre keinen Kontakt, aus Angst, dass man sich verdächtigen könnte, mir bei der Flucht geholfen zu haben. Sie wurden in jeder Hinsicht benachteiligt, in der Moschee z.B. wollte niemand neben meinem Vater stehen und beten, weil man ihn als ungläubigen bezeichnete, der seinen ungläubigen Sohn zur Flucht verhalf. Es wurde im Dorf ein Gefängnis der Taliban errichtet, wo viele gefoltert wurden. Die Lage wurde sehr schlecht, dass meine Eltern gezwungen waren zu fliehen. Wüsste meine Familie, dass es in Kabul, Herat und Mazar-e-Sharif sie ein sicheres Leben wäre und sie ohne Angst vor den Taliban leben können, hätten sie das getan. Sie wissen, dass sie dort auch nicht sicher sind und sind nach Pakistan geflüchtet sind.
RV: Sie haben ein Schreiben vorgelegt, um was es in diesem Schreiben geht und was dieses Schreiben behandelt?
BF: Als ich nach Ö kam, habe ich bei Weidinger und Partner gewohnt, wo der Betreuer mir nach meiner Fluchtgeschichte mir sagte, dass ich einen Beweis für die ganze Geschichte benötigen würde. Deshalb sprach ich mit meinem Vater, der überall bei vielen Behörden war, um eben diese Sache anzuzeigen, sodass sie das bestätigen können. Er war bei der Polizei und beim Kommandanten und vielen mehr, die ihn leider ablehnten. Hätte ich gelogen hätte ich einen Brief der Taliban schreiben lassen können, das kann man dort gut. Der Stempel und die Unterschrift sind von einem sehr hohen und bekannten Politiker von der Provinz Paktia. Es handelt sich um den Gouverneur von Paktia.
R: Wurden Sie jemals in der Zeit in Afghanistan mit dem Tode bedroht?
BF: Ja.
R: Bei welcher Gelegenheit?
BF: Bei der Festnahme haben sie mir gesagt, dass wenn ich ihren weg folge, würde mir nichts geschehen falls nicht, würde mir der Tod folgen.
RV: Keine weiteren Fragen.
R: Ging es bei Ihrer Ausreise in Afghanistan zentral darum, sich einfach vor den Taliban in Sicherheit zu bringen oder hat es andere Motive gegeben?
BF: Wäre ich dortgeblieben, wäre ich schon Tod. Es ging um meine Sicherheit.
R: Ging es darum sicher zu sein, oder nach Europa zu kommen?
BF: Mein Ziel war es, nicht von denen getötet zu werden.
R: Über welche Staaten sind Sie gereist?
BF: Ich bin über Pakistan in den Iran geflogen und von dort in die Türkei. Von der Türkei in einem Boot.
R: Warum sind Sie nicht in der Türkei, im Iran oder in Pakistan geblieben? In Pakistan sprechen sie Ihre Sprache.
BF: Das meiste kriminelle geschehen was in Afghanistan passiert, kommt meistens von Pakistan. Dort wird man auch zu Taliban ausgebildet und in den Krieg geschickt, zwangsrekrutiert und getötet, wenn man sich weigert, es ist so wie in Afghanistan, wenn nicht schlimmer. Sie wissen, dass die Afghanen im Iran sehr schlecht behandelt werde, es steht, dass Hunde ein lass haben aber nicht die Afghanen. In der Türkei gibt es keine Menschrechte dort wird man nicht abgehört und abgeschoben.
R: Was war Ihr Zielland?
BF: Ich hatte kein Zielland ich bin den anderen gefolgt. Wir haben über Serbien einen Zug genommen, der nach Salzburg gefahren ist. Von dem sind wir nach Wien-Westbahnhof gekommen. In Serbien war ein heim dort habe ich mich geduscht und dort haben sie gesagt, es gehen morgen die Züge nach Deutschland und so weiter. Der Zug war ganz voll.
R: Sind Sie mit dem eigenen Reisepass gereist?
BF: Nein.
R: Man braucht ja beim Reisen einen Reisepass.
BF: Ich bin illegal über die Grenze. 2015 wurde es von Europa bezahlt.
3. Sachverhalt:
3.1. Der Antragsteller ist Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger des Volkes der Paschtunen. Der Antragsteller verfügt über eine 11-jährige Grundschulbildung.
Der Antragsteller beantragte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 29.12.2015 die Gewährung internationalen Schutzes. Der Antragsteller stammt aus der afghanischen Provinz Paktia. Der Antragsteller war vor seiner Ausreise regelmäßig im Rahmen des Moscheebesuches Anwerbungsversuchen eines örtlichen Talibankommandanten ausgesetzt. Des Weiteren wurde der Antragsteller zuletzt vom Schulweg weg durch Angehörige einer Talibangruppierung entführt und festgehalten und wurden ihm am Ort seiner Konfinierung Propagandamaterial amerikanischer Unrechtstaten, verübt an afghanischen Bürgern und Bürgerinnen vorgehalten; dies unter gleichzeitiger Aufforderung, sich dem Kampf der Taliban anzuschließen, sowie der eindeutige Hinweis, der für ihn zu tragenden Konsequenzen im Weigerungsfall. Der Antragsteller wurde sohin wieder freigelassen, um die Zustimmung seines Vaters diesbezüglich einzuholen. Der Vater bemühte sich sodann, den Antragsteller freizukaufen, so bemühte sich der Vater des Antragstellers weiters um staatlichen Schutz im Rahmen von mehreren Anzeigen. Der Vater des Antragstellers entschied letztlich, die Ausreise des Antragstellers zu organisieren.
Der BF bemüht sich in Österreich ernsthaft um seine Integration, hat gute soziale Kontakte mit Österreichern, besuchte Deutschkurse und den Werte- und Orientierungskurs, legte eine Bestätigung über gemeinnützige Tätigkeiten. Der Antragsteller spricht mittlerweile fließend akzentfrei Deutsch.
Der Antragsteller hat bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit ernsthaften Konsequenzen wegen seiner Weigerung, sich den Taliban anzuschließen, zu rechnen. Dem Antragsteller steht keine sogenannte inländische Fluchtalternative offen.
3.2. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
COVID-19
Letzte Änderung: 14.12.2020
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wir