TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W133 2168138-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W133 2168138-1/31E


IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Clemens LAHNER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2017, Zl. 1053608601-150266348, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.06.2021 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheids wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer eines Jahres erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 13.03.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 14.03.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, er sei von den Taliban bedroht worden, da seine Cousins bei der Nationalarmee gewesen seien. Außerdem sei die Sicherheitslage sehr schlecht. Ansonsten habe er keine weiteren Fluchtgründe.

Am 25.04.2017 wurde der Beschwerdeführer durch die nunmehr belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), einvernommen. Der Beschwerdeführer führte zu seinem Fluchtvorbringen im Wesentlichen aus, die lokale Polizeimiliz haben von jeder Familie im Dorf eine Person als Rekruten gefordert und gedroht, dies notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Zugleich hätten die Taliban quasi zum Ausgleich jeweils einen Rekruten für sich gefordert und außerdem einen Teil der Ernte als Schutzgeld verlangt. Nachdem der Cousin des Beschwerdeführers getötet worden sei, habe man vom Beschwerdeführer verlangt, der Miliz beizutreten. Er sei dem nachgekommen, wiewohl der Vater dagegen gewesen sei, und habe acht oder neun Monate lang dort gedient. Die Taliban hätten zweimal Drohbriefe vor das Elternhaus geworfen und den Eltern des Beschwerdeführers gedroht, sie würden diesen suchen und töten. Der Beschwerdeführer habe aus Angst vor den Taliban das Land verlassen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.07.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer mangels Glaubwürdigkeit keine asylrelevante Verfolgungsgefahr habe glaubhaft machen können. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan und Ansiedlung etwa in der Stadt Kabul sei möglich und zumutbar. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich über keine Familienangehörigen; sein privates Interesse am Verbleib in Österreich werde von den öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung überwogen.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 14.08.2017 binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, die belangte Behörde habe seinem Fluchtvorbringen in Verkennung der Sachlage keinen Glauben geschenkt. Ihm drohe aufgrund seiner Tätigkeit bei den Milizen Verfolgung durch die Taliban. Kabul sei sehr unsicher und der Beschwerdeführer verfüge mangels Unterstützungsnetzwerks außerhalb seiner unsicheren Herkunftsprovinz auch über keine andere Fluchtalternative.

In seiner Stellungnahme vom 23.11.2020 brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, ihm drohe aufgrund seiner Vergangenheit als Milizsoldat (Arbakai) sowohl seitens der Taliban als auch der Miliz Verfolgung aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung. Seine Familienangehörigen würden mittlerweile in Pakistan leben; der Vater sei verstorben. Aufgrund seiner persönlichen Situation sowie der Sicherheits- und Versorgungslage im Herkunftsstaat verfüge der Beschwerdeführer über keine zumutbare interne Schutzalternative. Er habe die bereits fünf Jahre übersteigende Zeit seines Aufenthalts in Österreich intensiv genutzt, um sich zu integrieren.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.12.2020 eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers durch, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Weiters wurden eine Zeugin und ein Zeuge zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich einvernommen.

Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 23.03.2021 wurde das Verfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und der Gerichtsabteilung W133 neu zugewiesen.

In einer weiteren Stellungnahme vom 20.05.2021 führte der Beschwerdeführer zur Sicherheits- und Versorgungslage im Wesentlichen aus, dass diese sich infolge der Pandemie erheblich verschlechtert habe. Er könne infolge einer Erkrankung nicht mehr seinem erlernten Beruf nachgehen, habe sich jedoch weiterhin um Integration bemüht und verfüge über eine Einstellungszusage.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.06.2021 eine neuerliche öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers durch.

In seiner Stellungnahme vom 30.06.2021 brachte der Beschwerdeführer insbesondere vor, aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der Zuspitzung der sozioökonomischen Situation stehe dem Beschwerdeführer keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und das im Spruch genannte Geburtsdatum. Seine Identität steht nicht zweifelsfrei fest.

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und muslimischen Glaubens sunnitischer Ausrichtung. Er stammt aus dem Distrikt Urgon in der afghanischen Provinz Paktika Seine Muttersprache ist Paschtu. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer reiste im März 2015 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 13.03.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält sich der Beschwerdeführer im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe können nicht festgestellt werden. Nicht festgestellt werden kann in diesem Zusammenhang, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Tätigkeit bei afghanischen Milizen von den Taliban persönlich bedroht wurde und seiner Familie deshalb Drohbriefe geschickt wurden. Weiters kann nicht festgestellt werden, dass konkret dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan droht, von den Taliban im ganzen Land gesucht und getötet zu werden.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zum Herkunftsstaat beruhen maßgeblich auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) in der aktuellsten Version 4 unter Berücksichtigung der Kurzinformationen vom 19.07.2021 sowie 02.08.2021, 12.08.2021 und insbesondere der Sonderkurzinformation vom 17.08.2021. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen betreffend die Sicherheitslage wurden ergänzend folgende Quellen herangezogen:

?        Afghanistan Analysts Network, 17.08.2021: Afghanistan Has a New Government: What Will the Country's New Normal Look Like?, https://www.afghan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/afghanistan-has-a-new-government-the-country-wonders-what-the-new-normal-will-look-like/ (AAN 17.08.2021)

?        AP News, 17.08.2021: EXPLAINER: The Taliban takeover, what's next for Afghanistan, https://apnews.com/article/taliban-takeover-afghanistan-what-to-know-1a74c9cd866866f196c478aba21b60b6 (AP News 17.08.2021)

?        BBC, 17.08.2021: Afghanistan: Will it become haven for terror with the Taliban in power?, https://www.bbc.com/news/world-asia-58232041 (BBC 17.08.2021)

?        BBC, 16.08.2021: Will the Taliban take Afghanistan back to the past?, https://www.bbc.com/news/world-58224559 (BBC 16.08.2021/A)

?        BBC, 16.08.2021: Afghanistan: Life in Kabul after the Taliban victory, https://www.bbc.com/news/world-asia-58232815 (BBC 16.08.2021/B)

?        CNN, 16.08.2021: Calm and fear on the streets of Kabul as jubilant Taliban celebrate their victory, https://edition.cnn.com/2021/08/16/middleeast/kabul-streets-taliban-regime-intl/index.html (CNN 16.08.2021)

?        Der Standard, 15.08.2021: Kabul fällt kampflos an die Taliban, https://www.derstandard.at/story/2000128937798/kabul-faellt-kampflos-an-die-taliban (Der Standard 15.08.2021)

?        Long War Journal: Mapping Taliban Contested and Controlled Districts in Afghanistan, Stand 17.08.2021, https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan (LWJ Karte)

?        ORF.at, 16.08.2021: „Krieg in Afghanistan ist vorbei“, https://orf.at/stories/3225020/ (ORF 16.08.2021)

?        TOLO News, 16.08.2021: Commercial Flights Suspended at Kabul Airport, https://tolonews.com/index.php/afghanistan-174250 (TOLO News 16.08.2021)

?        UNHCR, 16.08.2021: Position on returns to Afghanistan (UNHCR Positionspapier)

Zum Thema der Arbaki herangezogen wurden zudem die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 22.06.2017: Informationen zu Arbaki-Milizen (ACCORD) sowie der EASO Country of Origin Information Report vom September 2020: Afghanistan Security situation (EASO Sicherheit).

Aktuelle Entwicklung der Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Politische Lage).

Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen bis zum 11.9.2021 an. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (LIB, Friedens- und Versöhnungsprozess). Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein (Kurzinformation vom 19.07.2021).

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Die Taliban eroberten zahlreiche Distrikte und Provinzhauptstädte (Kurzinformation vom 19.07.2021, LWJ Karte), bis schließlich am 15.08.2021 Kabul weitgehend widerstandslos eingenommen wurde. Der Präsident Ghani befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits außer Landes (Der Standard 15.08.2021; ORF 16.08.2021, UNHCR Positionspapier). Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

Nach Angaben des Long War Journal befinden sich (Stand 16.08.2021) – mit der Ausnahme von Parwan und Panjshir, welche von den Taliban bedroht sind – sämtliche Provinzen inklusive der Hauptstadt Kabul unter der Kontrolle der Taliban (LWJ Karte). Die Taliban selbst haben den Krieg bereits nach der Einnahme von Kabul für beendet erklärt (ORF 16.08.2021).

Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (Kurzinformation vom 19.07.2021). In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Laut UNOCHA wurden seit Anfang des Jahres 2021 über 550.000 Afghan*innen aufgrund des Konflikts landesintern vertrieben; davon 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Während genaue Zahlen nicht vorliegen, gibt es Schätzungen, wonach zehntausende Afghan*innen internationale Grenzen passiert haben (UNHCR Positionspapier, vgl Kurzinformation vom 02.08.2021).

Es ist noch schwer abzuschätzen, wie die Taliban sich an der Macht verhalten werden (BBC 16.08.2021). Entsprechend herrscht auch in der Bevölkerung Besorgnis. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul versuchten mehr als 10.000 Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, über den Flughafen Kabul das Land zu verlassen (AP News, BBC 16.08.2021/B). Die Mehrheit ist jedoch nicht auf der Flucht, sondern befindet sich abwartend zuhause (AAN 17.08.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt). Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

Momentan beraten die Taliban in Doha über die zukünftige Ausgestaltung der Regierung. Der Übergang von einer kriegstreibenden, auch zu terroristischen Maßnahmen greifenden, zu einer regierenden Gruppierung wird nach Einschätzung des Afghanistan Analysts Network schwierig (AAN 17.08.2021). Die Taliban gaben an, mit anderen Fraktionen, darunter auch Vertreter der vorhergehenden Regierung, eine „inklusive islamische Regierung“ bilden zu wollen. Islamisches Recht solle durchgesetzt werden, jedoch nach Jahrzehnten des Krieges wieder normales Leben in Sicherheit zurückkehren. Ein beunruhigendes Zeichen für jene, die eine Rückkehr zu Gewalt und Unterdrückung befürchte, ist die geplante Rückbenennung Afghanistan in „Islamisches Emirat Afghanistan“ (AP News 17.08.2021).

Afghan*innen befürchten chaotische Zustände oder die Rückkehr zu unterdrückenden und gewaltvollen Verhältnissen wie unter der ersten Talibanherrschaft vom 1996 bis 2001. Der moderate Anstrich, den sich die Taliban zuletzt zu geben versuchten, wird mit Skepsis betrachtet (AP News 17.08.2021, CNN 16.08.2021, ORF 16.08.2021). Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021). Die moderaten Aussagen der Führungsspitze und die Gewaltakte, die sich vor Ort ereignen, liegen weit auseinander (BBC 17.08.2021).

Für UNHCR besteht vor dem Hintergrund der ungewissen Situation Grund zur Sorge, die jüngsten Entwicklungen steigern den Bedarf nach Schutz für Menschen, die aus Afghanistan fliehen (UNHCR Positionspapier).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan und Reintegration mit sofortiger Wirkung aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (Sonderkurzinformation vom 17.08.2021).

In Afghanistan sind neben den Taliban unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, wie Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Regierungsfeindliche Gruppierungen). Dass die Taliban in der Lage (oder Willens) sein werden, die Aktivitäten anderer jihadistischer Gruppierungen zu überwachen und zu kontrollieren, ist ungewiss, (AP News 17.08.2021, BBC 17.08.2021).

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (LIB, Taliban). Auch während der Eroberungen in den letzten Wochen wurde berichtet, dass in den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden Frauen nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen dürften (Kurzinformation vom 02.08.2021).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, welchen sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (LIB, Taliban).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Taliban).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Taliban).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Taliban).

Bisherige Menschenrechtslage

Unter der bisherigen Regierung hat Afghanistan im Bereich der Menschenrechte Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTIQ-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).

Religiöse und ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind Schätzungen zufolge ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB, Paschtunen).

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (LIB, Religionsfreiheit).

Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, sind vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB; Religionsfreiheit). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).

Arbaki

Milizen, die auf der Seite der Regierung gegen Aufständische kämpfen (kämpften) werden oft Arbakai (Plural: Arbaki), nach dem paschtunischen Wort für Bote, genannt. Diese Institution gründet sich ursprünglich auf den (oben genannten) Kodex der Paschtunen, Pashtunwali. Im eigentlichen Sinn handelt sich um eine Art der Nachbarschaftspolizei auf Stammesebene, das im Gegensatz zu Söldnern oder privaten Sicherheitsdiensten auf Freiwilligeninitiativen basiert, und vom Rückhalt der lokalen Gemeinschaft getragen ist. Heutzutage wird der Begriff – insbesondere im Norden – allgemein für halb- oder inoffizielle Milizen genutzt (ACCORD). Für die Taliban stellen (stellten) lokale Milizen eine besondere Bedrohung dar, da sie über gute Informationsnetzwerke verfügen (EASO Sicherheit). Es gibt Berichte aus mehreren Quellen über Machtmissbrauch durch Arbaki und deren Kommandanten. UNAMA zufolge verwenden viele Gemeinden die Begriffe Afghanische Lokalpolizei (Afghan Local Police, ALP) und Arbakai synonym, was es schwierig mache, Berichte von Rechtsverletzungen durch eine dieser beiden Gruppen zu bestätigen (ACCORD).

Situation für Rückkehrende

IOM verzeichnete im Jahr 2020 die bisher größte Rückkehr von undokumentierten afghanischen Migrant*innen: Von den mehr als 865.700 Rückkehrenden, kamen etwa 859.000 aus dem Iran und schätzungsweise 6.700 aus Pakistan. Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 Personen nach Afghanistan zurück (LIB, Rückkehr).

Der Reintegrationsprozess der Rückkehrenden ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrende sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Einheimischen. Frauen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (LIB, Rückkehr).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für Rückkehrende unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse – auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrende auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrende dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke – der Familie, der Freunde und der Bekannten – ist für junge Rückkehrende besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen (LIB, Rückkehr).

Rückkehrende aus Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrende aus Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrenden gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrender aus Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrende (LIB, Rückkehr).

Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrenden. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt. Rückkehrende aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrende nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden und auch IOM Kabul sind keine solchen Vorkommnisse bekannt. Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrende gekommen sein soll, wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrende aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. „Erfolglosen“ Rückkehrenden aus Europa haftet oft das Stigma des „Versagens" an. Wirtschaftlich befinden sich viele der Rückkehrer in einer schlechteren Situation als vor ihrer Flucht nach Europa, was durch die aktuelle Situation im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie noch verschlimmert wird. Rückkehrende drückten ihr Bedauern und ihre Scham über die Rückkehr aus, die sie als eine vertane Chance betrachteten, bei der Geld und Zeit verschwendet wurden. Wenn Rückkehrende mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommen, stehen ihnen mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Einheimischen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann. Haben die Rückkehrende lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren (LIB, Rückkehr).

Viele afghanische Rückkehrende werden de facto Binnenvertriebene, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Viele Rückkehrende leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrenden im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (LIB, Rückkehr).

Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrenden die größte Schwierigkeit dar. Fähigkeiten, die sich Rückkehrende im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Für in Iran geborene oder aufgewachsene Personen, die keine Familie in Afghanistan haben, ist die Situation problematisch. Deshalb versuchen sie in der Regel, so bald wie möglich wieder nach Iran zurückzukehren (LIB, Rückkehr).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, in die oben genannten Quellen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat und durch Einvernahme des Beschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 01.06.2021.

Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Österreich

Mangels vorgelegter unbedenklicher Urkunden konnte die Identität des Beschwerdeführers nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die diesbezüglichen Feststellungen beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers im bisherigen Verfahren und dienen ausschließlich seiner Identifizierung im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zur Muttersprache, zur Herkunft und zum Familienstand des Beschwerdeführers basieren auf den in diesem Zusammenhang im gesamten Verfahren konsistenten, nachvollziehbaren und damit glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers.

Einreise, Antragstellung und Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ergeben sich aus der Aktenlage und sind unbestritten.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Aufgrund der diesbezüglich im Kern gleichbleibenden Angaben des Beschwerdeführers kann zwar davon ausgegangen werden, dass dieser infolge nachdrücklicher Rekrutierungsversuche etwa neun Monate lang bis zu seiner Ausreise im Jahr 2014 bei der Arbeit der Milizen mitgewirkt hat, doch ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, das darauf aufbauende Vorbringen zur Bedrohung seiner Person ausgehend von den Taliban sowie der Miliz selbst glaubhaft zu machen.

Die im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 01.12.2020 beantragte Einvernahme eines Zeugen zum Beweis dafür, dass der Beschwerdeführer bei der Miliz tätig war, war im Hinblick darauf, dass dies dieser Umstand dem Beschwerdeführer ohnedies geglaubt wird, nicht erforderlich und konnte daher unterbleiben.

Aus den konsistenten Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht geht hervor, dass der Beschwerdeführer eine äußerst untergeordnete Rolle, abseits des zentralen Kampfgeschehens bei der Miliz ausübte. So beschrieb der Beschwerdeführer seine Tätigkeiten in der mündlichen Verhandlung vom 01.06.2021 als „Essensdienst, Holzhacken, Kochen“. In dieses Bild fügen sich auch die Angaben des Beschwerdeführers, wonach er in den mehreren Monaten seiner Tätigkeit nur einmal direkten Kontakt mit den Taliban gehabt habe, nämlich im Rahmen eines Angriffs der Taliban auf den Posten, wo er stationiert gewesen sei. Der Beschwerdeführer gab weiters an, dass er im Rahmen seiner Tätigkeit nie selbst jemanden getötet habe. Diese Beurteilung wird auch durch den Umstand untermauert, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Erstbefragung seine eigene Tätigkeit für die Miliz nicht einmal als Fluchtgrund erwähnt hatte. In Gesamtwürdigung ist ein besonderes Interesse der Taliban bzw. der Miliz an der konkreten Person des Beschwerdeführers schon aus diesem Grund nicht nachvollziehbar.

Im Hinblick auf die weitgehend kampflosen Eroberungen der Taliban bis hin zu Einnahme Kabuls ist darüber hinaus nicht davon auszugehen, dass die Miliz, seitens derer der Beschwerdeführer auch verfolgt zu sein behauptet, überhaupt noch existiert. Davon abgesehen enthält das Vorbringen des Beschwerdeführers zur behauptete Verfolgungsgefahr zahlreiche Widersprüche, Steigerungen und Unplausibilitäten:

Zunächst ist bereits zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer in der Erstbefragung – wie bereits erwähnt – die nun behauptete Gefährdung aufgrund seiner eigenen Tätigkeit bei der Miliz nicht einmal angeführt hat.

Wie bereits von der belangten Behörde beweiswürdigend ausgeführt wurde, ist das Vorbringen des Beschwerdeführers zu zwei angeblichen Drohbriefen, welche die Taliban an seine Familie geschickt hätten, von erheblichen Widersprüchen gekennzeichnet, welche auch im Rahmen der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht aufgelöst wurden. In der Einvernahme vor der belangten Behörde konnte der Beschwerdeführer weder konsistente Angaben zum Zeitpunkt der Drohungen (vor oder nach dem Eintritt in den Milizdienst) noch zu dem Umstand machen, wie seine Eltern und er als Analphabeten genau Kenntnis vom Inhalt dieser Briefe erlangt hätten. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 01.12.2020 machte der Beschwerdeführer widersprüchliche Angaben. So gab er einerseits an, die Drohbriefe seien gekommen, nachdem er den Arbaki beigetreten sei, sagte weiters, dass diese erst eineinhalb Monate nach dem Kampf gegen die Taliban gekommen seien, um gleich darauf widersprüchlich wiederum zu behaupten, die Drohbriefe seien gleich zu Beginn seiner Tätigkeit bei den Arbaki gekommen. Auf die Frage, wie der Vater überhaupt an diese Briefe gekommen sei, gab der Beschwerdeführer lediglich ausweichende Antworten.

Abgesehen davon ist angesichts der behaupteten Drohungen zudem nicht lebensnah, dass der Beschwerdeführer nicht einmal versucht haben will, eine naheliegende Schutzmöglichkeit zu suchen. Weder wandte er sich an die Sicherheitskräfte innerhalb Afghanistans, noch suchte er jemals etwa Zuflucht in Pakistan wie seine älteren Brüder, die dort offenbar unbehelligt leben können, sondern trat zugleich die Reise nach Europa an.

Weiters ist nicht plausibel, dass der nur wenige Jahre jüngere Bruder weiterhin vollkommen unbehelligt im Heimatdorf habe leben können, obwohl den Behauptungen des Beschwerdeführers in der Einvernahme vor der belangten Behörde zufolge die Taliban für jedes Familienmitglied, dass der Miliz beigetreten sei, einen weiteren Rekruten für sich gefordert hätten. Auch seitens der Miliz, die der Beschwerdeführer so fluchtartig verlassen habe, ist der jüngere Bruder offenbar unbehelligt geblieben.

Im Hinblick auf die zahlreichen Widersprüche stellen auch die vorgelegten Schreiben, deren Herkunft nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, keinen überzeugenden Beleg für die vom Beschwerdeführer behauptete Verfolgungsgefahr dar.

Auch das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach diesem seitens der Miliz infolge seiner plötzlichen Ausreise die Kooperation mit den Taliban unterstellt und er deshalb gesucht worden sei, kann nicht als glaubhaft angesehen werden:

Eine derartige Bedrohung wurde vom Beschwerdeführer erst vor dem Bundesverwaltungsgericht geschildert. In der Einvernahme vor der belangten Behörde gab der Beschwerdeführer zwar – auf die Frage, ob sich der Chef der Polizeimiliz bei seinem Vater gemeldet habe – an, sein Vater sei von den Milizen angerufen worden, schilderte aber mit keinem Wort, dass dabei der Verdacht des Verrats im Raum gestanden sei.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 01.06.2021 brachte der Beschwerdeführer vor, nach seiner prompten Ausreise seien die Milizen auf der Suche nach dem Beschwerdeführer gewesen und hätten auch einmal seinen Vater angehalten, um zu erfahren, wo der Beschwerdeführer versteckt sei. Im Widerspruch dazu gab der Beschwerdeführer anschließend an, der Vater sei selbst zu den Arbaki gegangen, um seinerseits den Verbleib des Beschwerdeführers in Erfahrung zu bringen, während er vor der belangten Behörde widersprüchlich von einem Anruf seitens der Milizen gesprochen hatte.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner konkreten Bedrohung im Fall seiner Rückkehr einerseits durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit bei den Milizen bzw. andererseits durch die Milizen selbst, die ihn ob seiner prompten Abreise des Verrats bezichtigen würden, war sohin insgesamt nicht glaubhaft.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Im Hinblick auf die rezenten sicherheitsrelevanten Ereignisse, die in der Letztversion des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation noch nicht abgebildet sind, wurden aktuelle Medienberichte zur Lage in Afghanistan sowie die Sonderkurzinformation vom 17.08.2021 herangezogen. Bei diesen Quellen handelt es sich um vertrauenswürdige Quellen, die größtenteils bereits in der Vergangenheit Eingang in das Länderinformationsblatt gefunden haben. Sie zeichnen ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche, weshalb im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass besteht, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell, wobei nicht verkannt wird, dass sich die Lage in Afghanistan derzeit volatil und ungewiss darstellt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht. Es muss objektiv nachvollziehbar sein, dass der Beschwerdeführer im Lichte seiner speziellen Situation und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Herkunftsstaat Furcht vor besagter Verfolgung hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die "begründete Furcht vor Verfolgung". Die begründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn objektiver Weise eine Person in der individuellen Situation des Asylwerbers Grund hat, eine Verfolgung zu fürchten. Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr. Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorliegen muss. Weiters muss sie sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen. Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen stellen im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr dar, wobei hiefür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist. Anträge auf internationalen Schutz sind gemäß § 3 Abs. 3 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn den Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§11 AsylG) offen steht (Z.1) oder der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat (Z. 2).

Gemäß § 3 Abs. 3 Z 1 und § 11 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Asylantrag abzuweisen, wenn dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann ("innerstaatliche Fluchtalternative"). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann (vgl. zur Rechtslage vor dem AsylG z.B. VwGH 15.3.2001, 99/20/0036; 15.3.2001, 99/20/0134, wonach Asylsuchende nicht des Schutzes durch Asyl bedürfen, wenn sie in bestimmten Landesteilen vor Verfolgung sicher sind und ihnen insoweit auch zumutbar ist, den Schutz ihres Herkunftsstaates in Anspruch zu nehmen). Damit ist – wie der Verwaltungsgerichtshof zur GFK judiziert, deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – nicht das Erfordernis einer landesweiten Verfolgung gemeint, sondern vielmehr, dass sich die asylrelevante Verfolgungsgefahr für den Betroffenen - mangels zumutbarer Ausweichmöglichkeit innerhalb des Herkunftsstaates - im gesamten Herkunftsstaat auswirken muss (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534). Das Zumutbarkeitskalkül, das dem Konzept einer "inländischen Flucht- oder Schutzalternative" (VwGH 09.11.2004, 2003/01/0534) innewohnt, setzt daher voraus, dass der Asylwerber dort nicht in eine ausweglose Lage gerät, zumal da auch wirtschaftliche Benachteiligungen dann asylrelevant sein können, wenn sie jede Existenzgrundlage entziehen (VwGH 08.09.1999, 98/01/0614, 29.03.2001, 2000/-20/0539).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 27.06.1995, 94/20/0836; 23.07.1999, 99/20/0208; 21.09.2000, 99/20/0373; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 12.09.2002, 99/20/0505; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Abgesehen davon, dass einer derartigen nicht vom Staat sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung nur dann Asylrelevanz zuzubilligen wäre, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden (VwGH vom 11.06.1997, 95/01/0617; 10.03.1993, 92/01/1090) bzw. wenn der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt wäre, diese Verfolgung hintanzuhalten, hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Asylgewährung für den Fall einer solchen Bedrohung nur dann in Betracht kommt, wenn diese von Privatpersonen ausgehende Verfolgung auf Konventionsgründe zurückzuführen ist (vgl. VwGH vom 30.06.2005, 2002/20/0205; VwGH vom 23.11.2006, 2005/20/0551-6, VwGH-Beschluss vom 29.06.2006, 2002/20/0167-7).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht – unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) – kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen – asylrelevante Intensität erreichenden – Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256; VwGH 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191).

Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht gemäß § 3 AsylG 1991 setzt positiv getroffene Feststellungen von Seiten der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, Zl. 95/01/0627). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt im Asylverfahren das Vorbringen des Asylwerbers die zentrale Entscheidungsgrundlage dar. Dabei genügen aber nicht bloße Behauptungen, sondern bedarf es, um eine Anerkennung als Flüchtling zu erwirken, hierfür einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Asylwerber (vgl. VwGH 04.11.1992, Zl. 92/01/0560). So erscheint es im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht unschlüssig, wenn den ersten Angaben, die ein Asylwerber nach seiner Ankunft in Österreich macht, gegenüber späteren Steigerungen erhöhte Bedeutung beigemessen wird (vgl. VwGH 08.07.1993, Zl. 92/01/1000; VwGH 30.11.1992, Zl. 92/01/0832; VwGH 20.05.1992, Zl. 92/01/0407; VwGH 19.09.1990, Zl. 90/01/0133). Der Umstand, dass ein Asylwerber bei der Erstbefragung gravierende Angriffe gegen seine Person unerwähnt gelassen hat spricht gegen seine Glaubwürdigkeit (VwGH 16.09.1992, Zl. 92/01/0181). Auch unbestrittenen Divergenzen zwischen den Angaben eines Asylwerbers bei seiner niederschriftlichen Vernehmung und dem Inhalt seines schriftlichen Asylantrages sind bei schlüssigen Argumenten der Behörde, gegen die in der Beschwerde nichts Entscheidendes vorgebracht wird, geeignet, dem Vorbringen des Asylwerbers die Glaubwürdigkeit zu versagen (Vgl. VwGH 21.06.1994, Zl. 94/20/0140). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, Zl. 2001/20/0006, zum Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH vom 23.01.1997, Zl. 95/20/0303 zu Widersprüchen bei einer mehr als vier Jahre nach der Flucht erfolgten Einvernahme hinsichtlich der Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers in seinem Heimatdorf nach seiner Haftentlassung) können für sich allein nicht ausreichen, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. dazu auch VwGH 26.11.2003, Zl. 2001/20/0457).

Wie sich aus den obigen Feststellungen und der zugehörigen Beweiswürdigung ergibt, ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, eine aktuelle, konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete Verfolgungsgefahr maßgeblicher Intensität darzutun bzw. glaubhaft zu machen. Wenn es auch zutreffen mag, dass der Beschwerdeführer etwa neun Monate lang bei der lokalen Miliz tätig war, war das darauf aufbauende Vorbringen, wonach er konkret von den Taliban bedroht worden sei, nicht glaubhaft.

Aus den UNHCR Richtlinien ergibt sich zwar ein Risikoprofil für Angehörige auch der ALP, jedoch war der Beschwerdeführer nach seinen eigenen Angaben nur äußerst untergeordnet eingesetzt. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Beschwerdeführer, der seinen Angaben zufolge nur solche untergeordnete Tätigkeiten verrichtet habe und bloß einmal in einem direkten Gefecht mit den Taliban verwickelt gewesen sei, bei dem er auch niemanden getötet hat, für diese ein derart bedeutendes Ziel darstellen würde, dass diese ihn im Falle seiner Rückkehr nach so langer Zeit aufspüren und töten würden, auch wenn ein solches Unterfangen aufgrund der jüngsten Eroberung Afghanistans für die Taliban mittlerweile wesentlich erleichtert wäre. Auch das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner konkreten und aktuellen Verfolgung durch die Milizen aufgrund seines prompten Ausscheidens und dem dadurch entstandenen Verdacht des Verrats, ist nicht glaubhaft. Darüber hinaus ist seit dem Umsturz der Regierung, für die diese Milizen gekämpft haben, nicht von deren Fortbestehen auszugehen.

In Gesamtbetrachtung kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr konkreten Verfolgungshandlungen maßgeblicher Intensität weder seitens der Taliban noch seitens der (ehemaligen) Arbaki ausgesetzt wäre.

In Ermangelung von dem Beschwerdeführer individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu prüfen, ob er im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehenden "Gruppenverfolgung" ausgesetzt wäre. Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist zwar nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048, mit Verweis auf VfGH 18.09.2015, E 736/2014).

Der Beschwerdeführer ist volljährig, Angehöriger der größten Volksgruppe und der Mehrheitsreligion Afghanistans – wie die aktuell machthabenden Taliban. Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

Hinsichtlich einer möglichen Verfolgung als Rückkehrer (aus Europa) hat der Beschwerdeführer weder ausreichend konkrete Angaben gemacht noch sind sonst von Amts wegen aufzugreifende Umstände hervorgekommen, die eine individuelle und konkret gegen ihn gerichtete Verfolgung als Rückkehrer glaubhaft machen. Auch eine von individuellen Aspekten unabhängige Gruppenverfolgung kann auf Basis der Quellenlage nicht erkannt werden: Aus den oben angeführten Länderberichten kann nicht abgeleitet werden, dass Rückkehrende aus Iran oder aus Europa in einem Ausmaß verfolgt würden, um von einer spezifischen Verfolgung aller Rückkehrenden aus Europa ausgehen zu können. Aus den Länderinformationen geht im Gegenteil hervor, dass sogar ein erheblicher Teil der afghanischen Bevölkerung Rückkehrende sind. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen ni

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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