Entscheidungsdatum
19.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W123 2126441-2/6E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.03.2019, Zl. 1075275804-190249352, zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG stattgegeben. Die Spruchpunkte I., III., IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
II. Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass dem Antrag vom 12.02.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgegeben und XXXX die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für zwei Jahre erteilt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 25.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 27.06.2015 Tag fand die Erstbefragung des Beschwerdeführers vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt.
3. Das infolge des Untersuchungsauftrags der belangten Behörde vom 15.09.2015 erstattete medizinische Sachverständigengutachten kam zu dem Ergebnis, dass das spätestmögliche „fiktive“ Geburtsdatum des Beschwerdeführers der XXXX sei.
4. Am 07.04.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen.
5. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 11.04.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 13.04.2017 erteilt (Spruchpunkt III.)
Begründend kam die Behörde in der rechtlichen Beurteilung (unter Verweis auf die Feststellungen) zum Schluss, dass die Sicherheitslage in Afghanistan regional variiere und die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei. Die soziale Absicherung liege traditionell bei den Familien und Stammesverbänden. Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer langjährigen Abwesenheit im Ausland zurückkehren, würden auf große Schwierigkeiten stoßen. Der Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan über keinerlei soziale oder familiäre Netzwerke und wäre im Fall einer Rückkehr vorerst vollkommen auf sich alleine gestellt und gezwungen nach Wohnraum zu suchen, ohne über Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Afghanistan zu verfügen. Aus den Länderfeststellungen sei ersichtlich, dass die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmittel insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne jeglichen familiären Rückhalt fast nicht möglich sei, zudem auch keine diesbezügliche staatliche Unterstützung zu erwarten sei. Es könne daher im Fall des Beschwerdeführers nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er im Fall einer Rückkehr einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.
6. Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids der belangten Behörde erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12.06.2017 als unbegründet abgewiesen.
7. Mit Bescheid des Bundesamest für Fremdenwesen und Asyl vom 10.03.2017 wurde die Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers bis zum 13.04.2019 verlängert. In der rechtlichen Beurteilung wurde darauf hingewiesen, dass gemäß § 58 Abs. 2 AVG eine nähere Begründung entfallen konnte, da dem Antrag vollinhaltlich stattgegeben wurde.
7. Der Beschwerdeführer beantragte am 12.02.2019 die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.
7. Am 11.03.2019 fand die Einvernahme des Beschwerdeführers zur Prüfung der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung und zur Prüfung der Einleitung eines Aberkennungsverfahrens statt.
8. Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.). Der Antrag vom 24.08.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde gemäß § 8 Abs. 4 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.). Die mit Bescheid vom 10.03.2017 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt III.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt V.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VII.).
Der Bescheid lautet auszugsweise:
„Betreffend die Feststellungen von Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:
[…]
Ihnen wurde mit Bescheid vom 11.04.2016 der Status des subsidiär Schutzberechtigten lediglich zuerkannt, weil aufgrund der Tatsache, dass Sie über keine familiären oder sozialen Netzwerke in Afghanistan verfügen und für alleinstehende Rückkehrer ohne jeglichen familiären Rückhalt die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmittel fast nicht möglich sei nicht ausgeschlossen werden konnte, dass Sie im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung, in Afghanistan als Zivilperson einer realen Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens ausgesetzt wären; aufgrund dessen ist die Behörde davon ausgegangen, dass Sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt gewesen wären.
Ihre subjektive Lage hat sich jedoch im Vergleich zum seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt dahingehend geändert, als Ihnen nun sehr wohl eine Rückkehr nach Afghanistan, speziell nach Herat oder Mazar-e Sharif, zuzumuten ist, umso mehr Sie im Rahmen Ihres Aufenthaltes in Österreich unweigerlich über einen Zuwachs an Lebenserfahrung gesammelt haben, sodass Sie nun auch auf sich alleine gestellt Ihren Lebensunterhalt (in Herat oder Mazar-e Sharif) bestreiten können. Was die Lebenserfahrungen betrifft, ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass Sie mit Ihrem Aufenthalt in Österreich auch bereits von der Möglichkeit Gebrauch machten, auf bestehende Netzwerke zurückzugreifen, was Ihnen zweifelsohne im Falle einer Rückkehr in Anbetracht des damit gewonnen Erfahrungsschatzes zugutekommen und entsprechend hilfreich sein wird.
Wenn es um die Frage nach in Afghanistan bestehenden Netzwerken geht, ist in Ihrem Fall vor allem auf die Existenz der Verbindungen der Volksgruppe der Hazara, sowie auf internationale und auch nationale Unterstützungsmöglichkeiten für Rückkehrer nach Afghanistan hinzuweisen. Die breite Palette an solchen ermöglichte es Ihnen schon von Österreich aus, einen zumutbaren Weg und Ansatz für die Wiedereingliederung in die afghanische Gemeinschaft, insbesondere in Herat oder Mazar-e Sharif, zu ergreifen.
Zudem befindet sich Ihre Familie, zu der Sie auch regelmäßig in Kontakt stehen, im Iran.
Wie sich schließlich erkennen lässt, haben Sie zwischenzeitlich eine völlig geänderte subjektive Situation im Falle einer Rückkehr zu erwarten, umso mehr Sie zum Zeitpunkt der Schutzgewährung im Jahr 2016 noch eine Person waren, der man ohne familiären Background die Rückkehr nach Afghanistan nicht zumuten konnte; vor allem, weil zum damaligen Zeitpunkt die nunmehr vorliegenden Netzwerke aller Art nicht in der nunmehr bestehenden Form vorlagen. Darüber hinaus ist es Ihnen in Österreich gelungen, Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten sowie die im Alltag immer wieder auftretenden Schwierigkeiten in den diversen Bereichen zu bewältigen, sodass es Ihnen freilich zuzumuten ist, mit Ihrer (neu gewonnenen) Lebenserfahrung auch in Afghanistan, speziell in Herat oder Mazar-e Sharif, zumutbar leben zu können. Dies alles spricht schließlich dafür, dass Sie nun in der Lage sein werden, sich aus eigenen Kräften ein notdürftiges Überleben in Afghanistan zu sichern und somit ist davon auszugehen, dass Sie nun aufgrund Ihrer bisherigen Lebenserfahrung über die hierfür erforderlichen Fertigkeiten verfügen.
Aus diesen genannten Gründen und der Tatsache, dass Sie freilich auch aufgrund des funktionierenden Bankenwesens in Afghanistan über (zumindest) finanzielle Unterstützung durch Ihrer im Iran aufhältigen Familienmitglieder bzw. Verwandten erwarten könnten, steht Ihnen nun sehr wohl eine IFA (innerstaatliche Fluchtalternative) mit Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung.
Überdies ist hinzuzufügen, dass Sie nun freilich auch auf eine Vielzahl an internationalen Einrichtungen zurückgreifen könnten, die Rückkehrer unterstützen; laut der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 01.02.2018 zählen zu den unterstützenden Akteuren neben der afghanischen Regierung auch internationalen Organisationen wie IOM (Internationale Organisation für Migration), die UN-Agentur UNHCR, US-amerikanische Organisationen wie USAID (Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung) und lokale Nichtregierungsorganisationen wie IPSO (International Psycho-Social Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation), an welchen Sie sich freilich im Falle Ihrer Rückkehr bedienen könnten. Weiters kann auch eine finanzielle Rückkehrhilfe als Startkapital für Ihren Neubeginn im Heimatland gewährt werden, wobei Sie vom ersten Informationsgespräch bis zur tatsächlichen Rückreise in einer Einrichtung beraten, begleitet und umfassend unterstützt werden. Gerade darin liegt der Unterschied zum Entscheidungszeitpunkt, als Ihnen subsidiärer Schutz gewährt wurde. Damals konnte Ihnen nicht zugemutet werden, die schwierigen Bedingungen in Zusammenhang mit den Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu bestreiten, in Kauf zu nehmen. Da Sie nun jedoch auf eine Vielzahl an Unterstützungsmöglichkeiten zurückgreifen könnten, ist in Ihrem Fall freilich davon auszugehen, dass Sie mit einer Rückkehr nach Afghanistan in Herat oder Mazar-e Sharif nicht vor eine unzumutbare Situation gestellt würden.
Des Weiteren hat - wie den Länderinformationen klar hervorgeht - eine große Zahl der afghanischen Bevölkerung einen Flüchtlingshintergrund, weshalb auch nicht davon auszugehen ist, dass Afghanen, die nach Afghanistan zurückkehren, in besonderer Weise diskriminiert werden. Zudem kommt es in letzter Zeit vermehrt zu einer freiwilligen Rückkehr vor allem von Flüchtlingen aus Pakistan, welche durch die Verdoppelung der Unterstützung von UNHCR ausgelöst wurde, sodass sich schließlich kein Grund feststellen lässt, der nun gerade in Ihrem Fall eine Rückkehr nach Afghanistan unmöglich erscheinen ließe, umso mehr Sie diesbezüglich auch keine plausible Begründung abgegeben oder eine besondere Stellung erklärt haben.
Dass Sie schließlich den Lebensunterhalt in Herat oder Mazar-e Sharif bestreiten könnten, ist eindeutig den diesbezüglichen Länderinformationen zu entnehmen. Darüber hinaus könnten Sie selbstverständlich im Falle der Rückkehr - wie den Feststellungen zum Herkunftsland klar hervorgeht - zum Zwecke des Bestreitens des Lebensunterhaltes Unterstützungen, insbesondere in Zusammenhang mit einer Rückkehr, vom UNHCR oder IOM in Anspruch nehmen.
Im Gegensatz zum Zeitpunkt der Zuerkennung des subsidiären Schutzes ist derzeit von einer Situation auszugehen, die kein familiäres Netzwerk erfordert, um die Sicherstellung des Lebensunterhaltes zu gewährleisten. Vielmehr können die genannten nationalen und internationalen Hilfsorganisationen gerade in der Anfangszeit wertvolle Unterstützungen leisten und dem Rückkehrer durch ihre Verbindungen und Netzwerke dabei hilfreich sein, die Hürden solch einer neuen Ansiedlung in Herat oder Mazar-e Sharif zur Seite zu räumen.
Zudem geht der Länderinformation klar hervor, dass Herat und Mazar-e Sharif gefahrlos über den Luftweg zu erreichen sind.
[…].“
9. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 24.04.2019 fristgerecht Beschwerde und brachte zusammenfassend vor, dass die von der belangten Behörde angenommene innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif den aktuellen UNHCR Richtlinien zum Schutzbedarf afghanischer AsylwerberInnen bzw. den Berichten zur Dürre, Nahrungsmittelknappheit, fehlenden Erwerbsmöglichkeiten etc. in diesen Städten widerspreche. Außerdem habe die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid nicht darlegen können, inwiefern sich die Lage in Afghanistan oder die persönliche Situation im Vergleich zum Vorjahr maßgeblich geändert bzw. verbessert habe.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger, schiitischer Moslem und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Maidan Wardak geboren und lebte dort im Dorf XXXX bis zu seinem 5. Lebensjahr. Danach zog der Beschwerdeführer mit seinen Eltern, seinen zwei Schwestern und seinem Bruder in den Iran und lebte 12 Jahre in Teheran. Er besuchte 6 Jahre eine afghanische Schule im Iran. Danach arbeitete er 6 Jahre als Schneider.
Der Beschwerdeführer steht mit seiner weiterhin im Iran lebenden Familie in Kontakt. In Afghanistan verfügt er über keine Familie und kein soziales Netzwerk.
Der Beschwerdeführer spricht Dari, Deutsch und ein wenig Englisch.
Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich Deutschkurse und verfügt über ein A2-Deutschzertifikat. Weiters nahm er in den Jahren 2018 und 2019 an einem Pflichtschulabschlusskurs teil und verfügte für die Zeit danach über eine Arbeitszusage bei einem österreichischen Autozulieferer.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
1.1.2. Wie sich aus den aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ergibt, hat sich die Sicherheitslage in dem Land in der jüngeren Vergangenheit massiv verschlechtert. Die im angefochtenen Bescheid als innerstaatliche Fluchtalternative angenommenen Städte Herat und Mazar-e Sharif wurden am 12.08.2021 bzw. 14.08.2021 von den Taliban eingenommen (vgl. etwa zu Herat: https://www.bbc.com/news/world-asia-58184202; https://orf.at/stories/3224653/; zu Mazar-e Sharif: https://www.bbc.com/news/world-asia-58213848; https://orf.at/stories/3224887/; jeweils zuletzt eingesehen am 18.08.2021). Beinahe sämtliche Provinzen Afghanistans – mit Ausnahme der Provinz Panjshir – werden mit Stand 16.08.2021 von den Taliban kontrolliert (vgl. https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan, zuletzt eingesehen am 18.08.2021).
1.1.3. Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan konnte nicht festgestellt werden, dass sich die Umstände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 11.04.2016 bzw. seit der letztmaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung der belangten Behörde vom 10.03.2017 derart wesentlich und nachhaltig verändert haben, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorlägen.
1.2. Zum Herkunftsstaat:
Auszug ACCORD – Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 16. August 2021:
Aktuelle sicherheitsrelevante Entwicklungen [Stand 16. August 2021]:
Anmerkung: Dieser Abschnitt wird mindestens wöchentlich aktualisiert. Die übrigen Kapitel werden seltener aktualisiert.
Am 15. August übernahmen die Taliban kampflos die Hauptstadt Kabul, nachdem sie innerhalb von nur wenigen Tagen den Großteil des Landes, inklusive aller größeren Städte Afghanistans eingenommen und Präsident Ashraf Ghani Berichten zufolge das Land verlassen hatte.
Tausende AfghanInnen und ausländische Staatsangehörige versuchen, aus Kabul zu fliehen. Am Kabuler Flughafen sind Szenen von Chaos und Panik zu beobachten.
Am Morgen des 16. August 2021 schlossen die USA die Evakuierung ihrer Botschaft ab und holten ihre Flagge an ihren Botschaftsgebäuden ein.
Mehr als 60 Länder gaben eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie die sofortige Wiederherstellung der Sicherheit und der zivilen Ordnung fordern und die Taliban bitten, denjenigen, die das Land verlassen wollen, dies zu ermöglichen.
AktivistInnen äußern sich besorgt über die Lage der Frauen in Afghanistan, nachdem berichtet wurde, dass die Taliban in einigen Teilen des Landes bereits Änderungen in Bezug auf die Kleidung der Frauen und ihre Arbeitsmöglichkeiten durchsetzen.
Weitere, laufend aktualisierte Informationen finden Sie unter folgendem BBC-Link:
? BBC News: LIVE Chaos at Kabul airport as Afghans try to flee Taliban [laufend aktualisiert]
https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963
Anmerkung: Die folgenden Inhalte dieses Themendossiers werden monatlich aktualisiert.
1. Sicherheitslage im Land [Stand: 11. August 2021]
2021
Die Vereinten Nationen verzeichneten zwischen dem 13. November und dem 11. Februar 7.138 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 46,7 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 und im Gegensatz zu den traditionell niedrigeren Zahlen während der Wintersaison. Die etablierten Trends der Art der Vorfälle blieben unverändert, wobei bewaffnete Zusammenstöße 63,6 Prozent aller Vorfälle ausmachten. Regierungsfeindliche Elemente waren für 85,7 Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle verantwortlich, einschließlich 92,1 Prozent der bewaffneten Zusammenstöße. Die südlichen, gefolgt von den östlichen und nördlichen Regionen, verzeichneten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Auf diese Regionen entfielen zusammen 68,9 Prozent aller registrierten Vorfälle, wobei die meisten Vorfälle in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nangarhar und Balkh verzeichnet wurden. [...] Keine Konfliktpartei konnte nennenswerte Gebietsgewinne erzielen. Die Taliban hielten den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, darunter auch gefährdete Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Fernstraßen zu sichern und Taliban-Gewinne wieder zurückzubringen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar. (UNGA, 12. März 2021, S. 5)
Am 15. Jänner gaben die Vereinigten Staaten bekannt, dass ihre Streitkräfte in Afghanistan auf 2.500 reduziert wurden. (UNGA, 12. März 2021, S. 3)
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab bekannt, dass die Verteidigungsminister beschlossen haben, eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der NATO-Präsenz in Afghanistan bis zu weiteren Konsultationen vor dem Stichtag 1. Mai 2021 aufzuschieben. (UNGA, 12. März 2021, S. 4)
Am 14. April kündigte US-Präsident Joe Biden den Truppenabzug der USA wie auch der NATO-Verbündeten bis 11. September 2021 an. Zwar kam diese Ankündigung aufgrund des im Februar 2020 in Doha unterzeichneten Abkommens zwischen den USA und den Taliban nicht ganz unerwartet, allerdings doch mit deutlichen Abweichungen von dem, was ursprünglich erwartet wurde. Auf der Grundlage des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban wurde davon ausgegangen, dass die Bedingungen für einen vollständigen Abzug ausländischer Streitkräfte ein deutlicher Rückgang der Gewalt und zumindest die Schaffung eines Rahmens für die politische Einigung zwischen der Regierung und den Taliban wären. Biden stellte jedoch klar, dass dies nicht der Fall sei, indem er darauf verwies, dass amerikanische Truppen nicht als Druckmittel zwischen Kriegsparteien in anderen Ländern benutzt werden sollten. Die Ankündigung des Truppenabzuges löste eine Reihe an Reaktionen aus, die sich auf die politische und sicherheitspolitische Situation Afghanistans auswirken. Die Entscheidung, den Truppenabzug vollständig und bedingungslos durchzuführen, hat in Verbindung mit der anhaltenden Weigerung der Taliban, mit der Regierung ernsthaft in Verhandlungen zu treten, den Eindruck erweckt, dass die Taliban nach dem vollständigen Abzug der ausländischen Truppen im September auf eine militärische Übernahme des Landes drängen werden. Besonders hervorzuheben ist, dass Machthaber zum ersten Mal seit 20 Jahren öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Kräfte außerhalb der ANSF- und Regierungsstrukturen sprechen. Während die Existenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren auf lokaler Ebene eine Realität darstellt, wurden noch nie öffentliche Äußerungen über die Notwendigkeit einer Mobilisierung oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, so deutlich bekundet. (AAN, 10. Juni 2021)
UNAMA warnt in einer Presseaussendung im Juli 2021, dass die Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2021 droht einen noch nie dagewesenen Höchststand zu erreichen, wenn nicht dringend Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt ergriffen werden. (UNAMA, 26. Juli 2021)
Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2021 dokumentierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). Die Gesamtzahl der getöteten und verletzten ZivilistInnen stieg im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2020 um 47 Prozent und drehte damit den Trend der letzten vier Jahre um, wonach die Zahl der zivilen Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres kontinuierlich zurückging. Die Zahl der zivilen Opfer stieg wieder auf das Rekordniveau der ersten sechs Monate der Jahre 2014 bis 2018 und umfassten sowohl Frauen, Mädchen, Jungen als auch Männer. Besonders besorgniserregend ist, dass die UNAMA eine Rekordzahl von getöteten und verletzten Mädchen und Frauen sowie eine Rekordzahl von Opfern bei Kindern insgesamt verzeichnete. (UNAMA, Juli 2021, S. 1)
[…]
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum Vorjahreszeitraum dokumentierte die UNAMA einen durch improvisierte Sprengsätze (IEDs), die keine Selbstmordattentate darstellten, verursachten Anstieg der zivilen Opfer um fast das Dreifache. Dies waren die meisten zivilen Opfer, die durch derartige Sprengsätze in den ersten sechs Monaten eines Jahres verursacht wurden, seit die UNAMA im Jahr 2009 mit der systematischen Dokumentation ziviler Opfer in Afghanistan begann. Die Zahl der zivilen Opfer bei Bodenkämpfen, die hauptsächlich den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften zugeschrieben werden, stieg ebenfalls erheblich. Gezielte Tötungen durch regierungsfeindliche Kräfte blieben auf ähnlich hohem Niveau. Luftangriffe von regierungsfreundlichen Kräften führten zu einem Anstieg der Zahl der zivilen Opfer, der hauptsächlich der afghanischen Luftwaffe zugeschrieben wird. (UNAMA, Juli 2021, S. 1)
Regierungsfeindliche Kräfte waren für fast 64 Prozent der gesamten zivilen Opfer verantwortlich: 39 Prozent entfielen auf die Taliban, fast neun Prozent auf den Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) und 16 Prozent auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Kräfte. Regierungsnahe Kräfte waren für 25 Prozent der zivilen Opfer verantwortlich: 23 Prozent durch nationale afghanische Sicherheitskräfte und fast zwei Prozent durch regierungsnahe bewaffnete Gruppen und nicht näher definierte regierungsnahe Kräfte. Die verbleibenden 11 Prozent der zivilen Opfer führte die UNAMA auf „Kreuzfeuer“ bei Bodenkämpfen zurück, hauptsächlich zwischen afghanischen Sicherheitskräften und Taliban, bei denen die genaue verantwortliche Partei nicht ermittelt werden konnte (9 Prozent), sowie auf andere, hauptsächlich explosive Kampfmittelrückstände, bei denen die verantwortliche Partei nicht ermittelt werden konnte (2 Prozent). Die Zahl der zivilen Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben wurden, stieg im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2020 um 63 Prozent, während die Zahl der zivilen Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, um 30 Prozent zunahm. (UNAMA, Juli 2021, S. 3-4)
Der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) folgend, hat die Eskalation von Krieg und Gewalt in verschiedenen Teilen Afghanistans, insbesondere in den letzten zwei Monaten, das Leben der afghanischen Bevölkerung schwer beeinträchtigt. Nach den Erkenntnissen der AIHRC haben die Anzahl ziviler Opfer, die Vertreibung der Bevölkerung und die verheerenden Auswirkungen der Gewalt in verschiedenen Provinzen zugenommen, weil die Konfliktparteien das humanitäre Völkerrecht nicht einhalten. Der Kommission zufolge schränken die Taliban nachdem sie Bezirke eingenommen haben, die Grundrechte und Grundfreiheiten der Bevölkerung in mehreren Provinzen ein, insbesondere jene von Frauen, wie z. B. den Zugang zu Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen. (AIHRC, 17. Juli 2021) Weitere Informationen über den Umgang der Taliban mit der Zivilbevölkerung in den von ihnen eingenommenen Gebieten finden sich in Abschnitt 2.2.
UNICEF berichtet 2021 von einer raschen Eskalation der schweren Übergriffe auf Kinder in Afghanistan. Im Zeitraum zwischen 6. und 9. August wurden in der Provinz Kandahar 20 Kinder getötet und 130 Kinder verletzt, in der Provinz Chost wurden 2 Kinder getötet und 3 verletzt und in der Provinz Paktia wurden 5 Kinder getötet und 3 verletzt. (UNICEF, 9. August 2021)
Die Jamestown Foundation (JF) berichtete, dass infolge des kontinuierlichen Abzugs der amerikanischen Streitkräfte und der daraus resultierenden Schwächung der afghanischen Regierung, die Taliban nun einen Großteil des afghanischen Territoriums sowie die meisten der nördlichen Grenzen kontrollieren. Die Situation bleibt unbeständig und unvorhersehbar, unter anderem weil der Fall Nordafghanistans durch die Taliban so unerwartet und schnell kam. In den letzten 20 Jahren, so der in Kabul lebende Journalist Fakhim Sabir, war der afghanische Norden immer das Zentrum des Widerstands gegen die Taliban. Die Bevölkerung im Norden spielte eine zentrale Rolle beim Sturz der früheren Taliban-Herrschaft und westliche Streitkräfte haben dort nur selten gekämpft und sich stattdessen auf den Süden, dem traditionellen Stützpunkt der Taliban, konzentriert. (JF, 13. Juli 2021)
Laut dem Afghanistan Analyst Network (AAN) hat die afghanische Regierung weitere Distriktzentren an die Taliban verloren. Mit Stand Mitte Juli haben die Aufständischen seit dem 1. Mai die Kontrolle über fast 200 Distriktzentren erlangt, die meisten davon seit Mitte Juni. Zusammen mit den bereits von ihnen kontrollierten Distriktzentren halten die Aufständischen damit etwas mehr als die Hälfte aller afghanischen Distriktzentren unter ihrer Kontrolle. Die Lage der eroberten Distrikte zeigt, dass sich die Strategie der Taliban anfänglich auf einen Vorstoß im Norden, wo der Widerstand gegen ihre Herrschaft Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre am stärksten war, sowie auf Grenzübergänge und andere lukrative Orte fokussiere. (AAN, 16. Juli 2021)
Am 10. August 2021 berichteten BBC und Al Jazeera von der Einnahme der Provinzhauptstädte Kundus, Sar-i Pul, Taloqan, Scherberghan, Samangan und Faizabad, Pol-e Chomri im Norden sowie von Sarandsch und Farah im Südwesten innerhalb von nur vier Tagen durch die Taliban. (BBC, 10. August 2021; Al Jazeera, 10. August 2021). Nach Recherchen des afghanischen BBC-Dienstes sind die Taliban nun im ganzen Land stark vertreten, auch im Norden und Nordosten sowie in zentralen Provinzen wie Ghazni und Maidan Wardak. Sie nähern sich auch Herat im Westen und den südlichen Städten Kandahar und Lashkar Gah. (BBC, 10. August 2021)
[…]
Mit Stand vom 25. Juli 2021 meldete UNOCHA 359.002 konfliktbedingte Vertriebene innerhalb Afghanistans. (UNOCHA, 5. August 2021, S. 1) Anfang August berichtete The New Humanitarian (TNH) von schätzungsweise 500 bis 2.000 täglich in der Türkei ankommenden afghanischen Flüchtlingen. Es wird erwartet, dass diese Zahl momentan im Steigen begriffen ist. (TNH, 3. August 2021)
Im Mai wurden in Afghanistan 260 zivile Opfer und 405 Opfer unter den Regierungskräften verzeichnet, die höchste Anzahl an Todesopfer in einem einzelnen Monat seit Juli 2019. (NYT, 3. Juni 2021)
Im Juni starben 206 ZivilistInnen und 703 Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte, dies stellt die höchste Opferzahl unter Sicherheitskräften seit Beginn der Aufzeichnungen der New York Times im September 2018 dar. (NYT, 1. Juli 2021)
Im Juli 2021 verzeichnete die New York Times 335 Todesopfer unter den afghanischen Sicherheitskräften und 189 zivile Opfer in Afghanistan. (NYT, 5. August 2021)
[Anmerkung: Die Zahlen der New York Times (NYT) sind aus methodischen Gründen niedriger als die der UNAMA. Der zitierte NYT Afghan War Casualty Report enthält alle signifikanten Sicherheitsvorfälle, die von New York Times-Reportern bestätigt wurden. Die Zahlen sind nach Angaben der NYT unvollständig, da viele lokale Beamte die Angaben zu den Opfern nicht bestätigen.]
Informationen zur Sicherheitslage in Afghanistan im Zeitraum Jänner 2010 bis September 2018 finden sich in einem von ACCORD zusammengestellten im Dezember 2018 veröffentlichten Bericht zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage. (ACCORD, 7. Dezember 2018)
2. Staatliche und nicht-staatliche Akteure [Stand: 11. August 2021]
[…]
2.2. Aufständische Gruppen
[…]
Taliban
[…]
Laut einem Bericht von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) von Mitte Juli 2021 berichten BewohnerInnen des nordöstlichen Landesteils Afghanistans, der im Mittelpunkt der heftigen Militäroffensive der Taliban steht, dass die militante Gruppe viele der repressiven Gesetze und rückschrittlichen Maßnahmen wieder eingeführt hat, die ihre Herrschaft von 1996 bis 2001 charakterisierten. Während ihrer Herrschaft in Afghanistan zwangen die Taliban Frauen, sich von Kopf bis Fuß zu verhüllen, verboten ihnen, außerhalb des Hauses zu arbeiten, schränkten die Bildung von Mädchen stark ein und verlangten, dass Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden, wenn sie ihr Haus verließen. Obwohl die Taliban wiederholt behauptet hatten, ihre berüchtigte Strenge nicht wieder einführen zu wollen, sind nun viele dieser Maßnahmen wieder in Kraft, so die BewohnerInnen. (RFE/RL, 14. Juli 2021)
Human Rights Watch, berichtet Anfang August, dass die Taliban, die in Ghazni, Kandahar und anderen afghanischen Provinzen vorrücken, inhaftierte Soldaten, Polizisten und ZivilistInnen mit angeblichen Verbindungen zur afghanischen Regierung summarisch hingerichtet haben. (HRW, 3. August 2021) Auch die Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) berichtet Ende Juli von Beweisen, die darauf hindeuten, dass die Taliban unter Verletzung des humanitären Völkerrechts Vergeltungstötungen an ZivilistInnen begangen und das Eigentum mehrerer AnwohnerInnen geplündert haben, darunter auch das Eigentum ehemaliger und amtierender RegierungsvertreterInnen. (AIHRC, 31. Juli 2021)
Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand: 11.06.2021, letzte Information am 02.08.2021)
Kurzinformation der Staatendokumentation Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand: 02.08.2021
Sicherheitslage und Gebietskontrolle
In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021).
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Zivile Opfer und Fluchtbewegungen
Zwischen 01.01.2021 und 30.06.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast so viele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.07.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen, mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.07.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 01.01.2021 und 18.07.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.07.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.07.2021).
Weitere Entwicklungen
Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.07.2021).
Die afghanische Regierung hat am 25.07.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 [Uhr] (BBC 25.07.2021; vgl. TG 24.07.2021). In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.07.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.07.2021; vgl. VOA 09.07.2021).
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Kurzinformation der Staatendokumentation Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand: 19.07.2021
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Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen
Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr [2020] sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (AI 16.06.2021). So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (APN 15.06.2021; vgl. VOA 15.06.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.06.2021; vgl. AJ 16.06.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 02.07.2021; vgl. AJ 02.07.2021)
COVID-19
Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die Covid-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln (DW 17.06.2021; vgl. USAID 11.06.2021) Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff (USAID 11.06.2021). Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen (DW 17.06.2021; vgl. VOA 13.07.2021), und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen (DW 17.06.2021; vgl. VOA 13.07.2021).
Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4% der Bevölkerung sind geimpft (UNICEF 09.07.2021). [...]
3 COVID-19
Letzte Änderung: 10.06.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/ bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).
Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).
Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
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Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021). […]
5 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.06.2021
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2