TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/15 Ra 2021/18/0143

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Veröffentlicht am 15.09.2021
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/18/0144
Ra 2021/18/0145
Ra 2021/18/0146
Ra 2021/18/0147
Ra 2021/18/0148
Ra 2021/18/0149
Ra 2021/18/0150
Ra 2021/18/0151

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. A A, 2. F Q, 3. M A, 4. R A, 5. H A, 6. A A, 7. M A, 8. K A, und 9. A A, alle in W und vertreten durch Mag. Julian Alen Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Baumannstraße 9/12A, gegen das am 19. Oktober 2020 mündlich verkündete und am 18. Februar 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W122 2202817-1/9E, W122 2202838-1/9E, W122 2202832-1/9E, W122 2202835-1/9E, W122 2202828-1/9E, W122 2202824-1/9E, W122 2202833-1/8E, W122 2202830-1/8E, W122 2202827-1/9E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Abweisung der Beschwerden hinsichtlich des Status von Asylberechtigten) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1        Die revisionswerbenden Parteien, alle afghanische Staatsangehörige, sind Mitglieder einer Familie. Der Erst- und die Zweitrevisionswerberin sind ein Ehepaar, die Dritt- bis Neuntrevisionswerberinnen ihre - im Antragszeitpunkt - minderjährigen Kinder.

2        Sie beantragten am 4. November 2015 internationalen Schutz und brachten im Laufe des Verfahrens u.a. vor, die weiblichen Mitglieder der Familie hätten in Österreich einen westlich orientierten Lebensstil angenommen, der im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aufrechterhalten werden könnte und zu Verfolgung führen würde.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gewährte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den revisionswerbenden Parteien - im Beschwerdeverfahren - subsidiären Schutz und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen. Ihrem Antrag, ihnen den Status von Asylberechtigten zuzuerkennen, gab es hingegen nicht statt. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4        Begründend führte das BVwG in dem als „Feststellungen“ titulierten Teil der Begründung aus, bei der Zweitrevisionswerberin handle es sich - aus näher dargestellten Gründen - nicht um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei. Auch die einvernommenen Dritt-, Viert-, Fünft- und Sechstrevisionswerberinnen hätten die Werte der Freiheit nicht als die eigenen beschrieben. Sie hätten lediglich die in Österreich üblichen Verhaltensweisen, nicht jedoch eine verinnerlichte Einstellung zu den Werten der Freiheit genannt, sodass auch für sie die zur Zweitrevisionswerberin ausgeführten Feststellungen Gültigkeit hätten. Sie seien nicht in der Lage, die Werte der Freiheit zu schildern und in einen Zusammenhang zu ihren Verhaltensweisen zu stellen. Der Umgang mit Freunden, insbesondere das Führen von sexuellen Beziehungen, wie bei den Dritt- und Viertrevisionswerberinnen, und der Erhalt einer Ausbildung mit einhergehendem Wunsch nach Ergreifung eines Berufs, resultiere daraus, dass die Revisionswerberinnen durch das Leben in Österreich und die einhergehende Schulpflicht mit diesen Verhaltensweisen in einem prägenden Alter aufgewachsen seien. Die in Österreich üblichen Verhaltensweisen seien von den Dritt- bis Neuntrevisionswerberinnen übernommen worden. Aus dem bloßen Ablegen des Kopftuches und der freien Wahl der Kleidung auf die hier üblichen Freiheiten zu schließen, stelle keine innere Zuwendung zu den Werten der Freiheit dar. Sowohl die Zweit- als auch die Dritt- bis Sechstrevisionswerberinnen hätten, befragt zur Freiheit, lediglich die hier üblichen Verhaltensweisen angegeben. Ein intellektuell durchdachtes Wertegerüst, in welchem Freiheit hinterfragt werde, hätten sie nicht nennen oder näher ausführen können. Ihnen sei daher - in rechtlicher Hinsicht - kein Asyl zu gewähren.

5        Gegen die Nichtgewährung von Asyl wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die - auf das Wesentliche zusammengefasst - geltend macht, das BVwG sei mit seiner Beurteilung von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen, unter welchen Voraussetzungen westlich orientierten Frauen Asyl zu gewähren sei. Diese lägen bei den Revisionswerberinnen - wie näher begründet wird - vor.

6        Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren.

10       Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt jedoch dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 7.1.2021, Ra 2019/18/0451, mwN).

11       Im gegenständlichen Fall zog das BVwG nicht in Zweifel, dass zumindest die Dritt- bis Sechstrevisionswerberinnen während ihres Aufenthalts in Österreich (der mittlerweile knapp sechs Jahre dauert) die hier „üblichen Verhaltensweisen“ angenommen haben, zumal sie hier „in einem prägenden Alter aufgewachsen“ seien. Welche Verhaltensweisen dies im Einzelnen sind, legt das BVwG in seinen Feststellungen nicht dar. Es trifft lediglich Feststellungen zur Ausbildung dieser Personen und ihren Deutschkenntnissen. Schon deshalb erweist sich das angefochtene Erkenntnis als mangelhaft begründet und entzieht sich einer nachprüfenden Kontrolle.

12       Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, der erkennende Richter könne davon ausgehen, dass sich die Revisionswerberinnen nur an das Leben in Österreich angepasst hätten. Dass sie jedoch die westlichen Werte nicht verinnerlicht hätten, sei durch ihre Angaben zur Freiheit und den dadurch gewonnenen persönlichen Eindruck mehr als deutlich. Die Werte der Freiheit hätten die Revisionswerberinnen nämlich nicht in ihren eigenen Worten beschreiben können und lediglich die in Österreich üblichen Verhaltensweisen nennen können. Eine verinnerlichte Einstellung zu den Werten der Freiheit hätten die Revisionswerberinnen nicht überzeugend dargelegt. Ein intellektuell durchdachtes Wertegerüst, in welchem die Freiheit hinterfragt werde, sei von den Revisionswerberinnen nicht genannt oder gar näher ausgeführt worden. Weder das Ablegen des Kopftuches noch das Ministrieren der Siebentrevisionswerberin oder das Eingehen von sexuellen Beziehungen durch die mittlerweile volljährigen Dritt- und Viertrevisionswerberinnen sprächen dafür, dass sich die Revisionswerberinnen gedanklich wirklich mit der geschützten Lebensweise auseinandergesetzt und die Werteordnung verinnerlicht hätten. Es werde nicht verkannt, dass die Eltern ihre Töchter liberal erzögen und ihnen den Zugang zu Bildung ermöglichten. Allerdings sei daraus auch nur ein Anpassen an die Umgebung ersichtlich.

13       Bei diesen Erwägungen legt das BVwG eine Rechtsansicht zugrunde, die von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung abweicht:

14       Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner einschlägigen Rechtsprechung nie das Erfordernis aufgestellt, dass die betroffenen Mädchen bzw. Frauen ein intellektuell durchdachtes Wertegerüst, in welchem die in Österreich gelebte Freiheit hinterfragt wird, nennen oder näher ausführen können müssen, um eine asylrechtlich geschützte Lebensweise darzustellen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Sichtweise würde dem unterschiedlichen Erfahrungshorizont, dem Alter und der Bildung der betroffenen Frauen auch nicht gerecht.

15       Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Lebensführung der betroffenen Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt und die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist. Auf ein intellektuelles Durchdringen des Wesens der Grundfreiheiten von Frauen, wie das BVwG zu vermeinen scheint, kommt es hingegen nicht an.

16       Wenn das BVwG - neben der soeben beanstandeten Überprüfung eines „intellektuell durchdachten Wertegerüsts“ - argumentiert, die Revisionswerberinnen hätten die für die Asylgewährung erforderlichen Voraussetzungen nicht darstellen können, vermag der Verwaltungsgerichtshof diese Einschätzung auf der Grundlage der vorliegenden Beweisergebnisse nicht zu teilen:

17       So sagte beispielsweise die Drittrevisionswerberin in der mündlichen Verhandlung auf die Frage, was sie unter den Freiheiten und Rechten der Frau verstehe, aus, dass sie kein Kopftuch tragen müsse, anziehen könne, was sie wolle, in die Schule gehen, auch mit ihr unbekannten Männern Kontakt aufnehmen oder mit Freundinnen ausgehen, shoppen, schwimmen oder einfach (bis spät am Abend) hinausgehen könne. In Afghanistan würde sie alle Freiheiten, die sie hier genieße, verlieren und dafür verfolgt werden. Sie verliere alle Rechte, die sie hier als Frau habe. Sie verliere auch die Möglichkeit, einen Mann, den sie heiraten wolle, kennenzulernen. Auf die weitere Frage, was das für sie persönlich bedeute, äußerte die Drittrevisionswerberin, dass die Freiheiten für sie sehr wichtig seien, denn sie denke, eine Frau in Afghanistan lebe „nicht für sich“, dort würden die anderen ihr sagen, wie sie leben müsse. Sie wolle nicht so leben und Kinder bekommen; sie wolle studieren, einen guten Job haben und selbst Geld verdienen. Sie wolle keinen Mann nach Geld fragen, sondern selbstständig sein.

18       Mit diesen Angaben machte die Drittrevisionswerberin zumindest deutlich, dass ihr wesentliche Grundfreiheiten von Frauen in Österreich (wie das Recht auf - auch sexuelle - Selbstbestimmung, auf Bildung, auf Gleichberechtigung mit dem Mann) wichtig sind und sie fürchte, diese für sie bedeutsame Lebensweise in Afghanistan nicht ohne Verfolgung leben zu können. Das BVwG gestand der Drittrevisionswerberin (wie auch den anderen Kindern der Familie) zu, die hier übliche Lebensweise in einem prägenden Alter erfahren zu haben. Warum das BVwG ungeachtet dessen und der zuvor - nur beispielhaft - wiedergegebenen Angaben dennoch den Schluss zog, (etwa) die Drittrevisionswerberin habe die geschützten Grundfreiheiten „nicht verinnerlicht“, ist nicht nachvollziehbar.

19       Das angefochtene Erkenntnis ist somit sowohl mit Begründungsmängeln als auch mit einer inhaltlichen Rechtswidrigkeit belastet; letztere ist vorrangig aufzugreifen und schlägt im Familienverfahren auf alle Familienangehörigen durch.

20       Das angefochtene Erkenntnis war daher im Anfechtungsumfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

21       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. September 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180143.L00

Im RIS seit

29.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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