TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/20 W111 2195279-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.04.2021
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Entscheidungsdatum

20.04.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W111 2195282-1/10E

W111 2195274-1/11E

W111 2195279-1/6E

W111 2195277-1/6E

W111 2221610-1/2E

W111 2221611-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1. Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und 1.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247308-171172958, 2.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247210-171172940, 3.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247003-171172966, 4.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247101-171172974, 5.) vom 09.07.2019, Zl. 1234424607-190616429 und 6.) vom 09.07.2019, Zl. 1234424901-190616496, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2021:

A) Die Verfahren werden insoweit wegen Zurückziehung der Beschwerde gemäß §§ 28 Abs. 1, 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., über die Beschwerden von1.) XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, gegen die Spruchpunkte II. bis VI. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 1.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247308-171172958, 2.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247210-171172940, 3.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247003-171172966, 4.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247101-171172974, 5.) vom 09.07.2019, Zl. 1234424607-190616429 und 6.) vom 09.07.2019, Zl. 1234424901-190616496, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.02.2021, zu Recht:

A) In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VI. wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 4.) XXXX , geb. XXXX , der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. bis VI. wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 1.) XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , jeweils der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005, wird 1.) XXXX , geb. XXXX , XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte in der Dauer von einem Jahr erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und Eltern sowie gesetzliche Vertreter der minderjährigen Dritt- bis SechtsbeschwerdeführerInnen.

Die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien reisten gemeinsam in das Bundesgebiet ein und stellten am 15.10.2017 die vorliegenden Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer am gleichen Tag vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich erstbefragt wurden.

Der Zweitbeschwerdeführer gab an, er stamme aus Inguschetien, gehöre der inguschetischen Volksgruppe an, bekenne sich zum islamischen Glauben sunnitischer Ausrichtung, sei ausgebildeter Jurist und habe zuletzt den Beruf des Sozialbetreuers ausgeübt. Den Entschluss zur Ausreise habe er Mitte September 2017 gefasst; Ende August habe er seinen Wohnort verlassen und sei mit seiner Familie auf dem Luftweg nach XXXX gereist; von dort seien sie am 05.10.2017 legal im Besitz finnischer Schengenvisa per Direktflug nach Österreich gelangt. Zum Grund seiner Flucht führte der Zweitbeschwerdeführer aus, er sei am 19.05.2017 von russischen Polizisten in XXXX festgenommen worden und habe dort bis 20.05.2017 bleiben müssen. Er sei beschuldigt worden, mit Terroristen zusammenarbeiten und sei geschlagen worden. Aus diesem Grund habe er Ende August 2017 Urlaub genommen und sei mit seiner Familie nach XXXX gereist. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, neuerlich verhaftet oder umgebracht zu werden.

Die Erstbeschwerdeführerin tätigte gleichlautende Angaben zu ihrer Religion und Volksgruppenzugehörigkeit sowie zum Reiseweg. Zum Grund ihrer Flucht gab sie an, ihr Mann sei am 19.05.2017 von unbekannten Leuten entführt worden. Am 20.05.2017 sei ihr telefonisch mitgeteilt worden, dass ihr Mann im Spital in der Stadt XXXX sei. Aus diesem Grund seien sie Ende August nach XXXX gereist; dort seien sie bis zum 05.10.2017 geblieben und im Anschluss per Direktflug nach Österreich gereist. Für den Fall einer Rückkehr befürchte sie, dass ihr Mann umgebracht werde.

Auszügen aus dem Visainformationssystem des Bundesministeriums für Inneres sowie im Verwaltungsakt einliegenden Kopien relevanter Seiten ihrer Reisedokumente lässt sich entnehmen, dass die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien jeweils im Besitz eines im August 2017 ausgestellten russischen Reisepasses sowie eines am im September 2017 ausgestellten, zur einmaligen Einreise berechtigenden, finnischen Schengen-Visums der Kategorie C gewesen sind.

Am 26.03.2018 wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl jeweils im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz einvernommen.

Der Zweitbeschwerdeführer gab zusammengefasst an, er habe bislang der Wahrheit entsprechende Angaben getätigt, welche korrekt zu Protokoll genommen und rückübersetzt worden wären. Der Zweitbeschwerdeführer bestreite seinen Lebensunterhalt gegenwärtig aus Mitteln der Grundversorgung, habe keine Verwandte im Bundesgebiet und unterhalte lediglich zu anderen Bewohnern seiner Unterkunft soziale Kontakte. Er besuche einen Deutschkurs, sei in keinen Vereinen Mitglied und leide an keinen Erkrankungen. Der Zweitbeschwerdeführer sei in Inguschetien geboren worden, sei seit dem Jahr 2014 standesamtlich verheiratet, habe bis Ende August 2017 in einem Dorf in Inguschetien gemeinsam mit seiner Frau, seinen Kindern und seiner Mutter gelebt und für einen Pensionsfond gearbeitet.

Zu den Beweggründen für seinen Ausreiseentschluss gab der Zweitbeschwerdeführer an, er habe bei seiner Mutter gelebt, sein älterer Bruder habe separat in einem anderen Haus gewohnt. Zu Jahresbeginn sei der Bruder des Zweitbeschwerdeführers dienstlich in eine andere Region gereist und habe den Zweitbeschwerdeführer gebeten, einen Nachmieter für sein Haus zu finden. Der Zweitbeschwerdeführer hätte einen Zettel an dessen Haus gehängt und es habe sich lange kein Nachmieter gefunden. Anfang April hätte ihn ein Interessent kontaktiert, welcher in der Folge eingezogen wäre, was der Zweitbeschwerdeführer seinem Bruder zur Kenntnis gebracht hätte. Im Mai sei der Zweitbeschwerdeführer auf dem Weg zur Arbeit bei dem Haus vorbeigefahren, um nach dem Rechten zu sehen. Nachdem die Tür auf sein Klopfen hin nicht geöffnet worden wäre, hätte er den Weg zur Arbeit fortgesetzt. Als er sich ins Auto gesetzt hätte, sei hinter ihm eine Art Minibus stehen geblieben, aus welchem maskierte Leute in Uniformen gesprungen wären, die den Weg des Zweitbeschwerdeführers blockiert hätten. Sie hätten Waffen auf den Zweitbeschwerdeführer gerichtet, welcher sich mit dem Gesicht nach unten am Boden liegend wiedergefunden hätte. Sie hätten ihm Handschellen angelegt und ihn verhaftet. Er sei mit dem Minibus in ein Gebäude gebracht worden, wo sie ihn eine Zeit lang mit Handschellen in einem vergitterten Zimmer hätten sitzen lassen. Nach einiger Zeit sei ein unmaskierter Mann in den Raum gekommen, welcher die Befragung des Zweitbeschwerdeführers begonnen hätte. Zwischendurch seien ihm von einer maskierten Person die Fingerabdrücke abgenommen worden. Der Mann, welcher die Einvernahme durchgeführt hätte, habe dem Zweitbeschwerdeführer in der Folge unverständliche Fragen gestellt und habe sich präzise über dessen Aufenthaltsorte erkundigt. Dann hätte er vier Fotos vorgelegt und den Zweitbeschwerdeführer gefragt, ob er die darauf abgebildeten Personen kenne, was der Genannte verneint hätte. Daraufhin sei der Zweitbeschwerdeführer in einen fensterlosen Keller gebracht worden, wo er ebenfalls sehr lange gesessen sei. Nach einiger Zeit hätten sie ihn in einen Raum gebracht, wo er mit den Händen am Rücken gefesselt auf einen Sessel gesetzt worden sei und von zwei maskierten Männern neuerlich die gleichen Fragen gestellt bekommen hätte. Die Männer hätten dem Zweitbeschwerdeführer auf seine Nachfragen hin mitgeteilt, dass sie dessen Geständnis hören wollten, seien auf weitere Nachfragen seinerseits immer aggressiver geworden und hätten begonnen, ihn zu schlagen. Dem Zweitbeschwerdeführer sei dann vorgehalten worden, dass er an einem bestimmten Tag in der Stadt XXXX gewesen wäre, wo ein Polizist getötet worden wäre, welcher im Haus des Bruders des Zweitbeschwerdeführers gewohnt hätte. Sie hätten dem Zweitbeschwerdeführer ein Foto gezeigt, auf welchem jedoch nicht der Mieter zu erkennen gewesen wäre, auch sei ihm der genannte Name des Polizisten unbekannt gewesen. Nach einem etwa zweistündigen Verhör hätten die Männer den Raum verlassen. Einige Zeit später sei er wieder in den Keller gebracht worden und später sei er neuerlich zu dem Mann, welcher ihn zu Beginn befragt hätte, geführt worden. Der Zweitbeschwerdeführer habe mitgeteilt, dass er nicht mehr in der Lage wäre, Fragen zu beantworten, woraufhin der Mann alle Kontakte im Telefonbuch des Zweitbeschwerdeführers abgefragt hätte. Dann sei der Zweitbeschwerdeführer abermals in den Keller gebracht worden, wo er aus Schwäche eingeschlafen wäre. Im Anschluss sei er wieder hinaufgebracht worden. Sie hätten ihn in ein Auto gesetzt und seien mit ihm ca. 15 bis 20 Minuten gefahren, bevor sie ihm die Handschellen abgenommen und ihn aus dem Auto geworfen hätten. Der Zweitbeschwerdeführer habe die Gegend erkannt und sich mit letzten Kräften in Richtung seines etwa zwei bis drei Kilometer entfernten Hauses begeben. Unterwegs sei er von einem Passanten angesprochen worden, welcher ihm angeboten hätte, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Dort habe man ihn untersucht und erstversorgt. Man habe seine Frau kontaktiert, welche in der Folge ins Krankenhaus gekommen sei und ihm mitgeteilt hätte, dass bei ihnen zuhause eine Hausdurchsuchung stattgefunden hätte. Seine Frau sei am nächsten Tag mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren, der Zweitbeschwerdeführer sei am 02.06.2017 aus dem Krankenhaus entlassen worden, worüber er eine Bestätigung besitze. Der Zweitbeschwerdeführer habe wieder begonnen zu arbeiten und habe bei verschiedenen Bekannten genächtigt. Ende Juni habe eine weitere Hausdurchsuchung stattgefunden, als der Zweitbeschwerdeführer gerade bei der Arbeit gewesen sei, bei welcher seine Mutter nach ihm gefragt worden wäre. Sein Bruder sei dann wieder zurückgekommen und habe sich bei verschiedenen Organisationen erkundigt, jedoch nichts in Erfahrung gebracht. Anfang August sei es zu einer weiteren Hausdurchsuchung gekommen. Der Zweitbeschwerdeführer selbst habe sich an eine näher bezeichnete Rechtshilfeorganisation gewandt und diese gebeten, etwas gegen die Hausdurchsuchungen zu unternehmen. Ihm sei mitgeteilt worden, dass man sich erkundigen werde. Da die Situation den Zweitbeschwerdeführer nervlich bereits sehr belastet hätte, habe er Ende August beschlossen, für einen Monat in eine andere Region zu fahren und dort abzuwarten. In der Folge sei er bis zum 05.10.2017 in XXXX gewesen. Sein Bruder hätte in Erfahrung gebracht, dass der Zweitbeschwerdeführer sich auf irgendwelchen schwarzen Listen befinden würde, wobei die Leute, die sich auf solchen Listen befänden, laut der Kontaktperson seines Bruders entweder verschwinden oder sterben würden. Beim letzten Telefonat habe der Bruder dem Zweitbeschwerdeführer geraten, außer Landes zu gehen, sodass der Zweitbeschwerdeführer die Ausstellung von Visa in die Wege geleitet hätte. In Österreich habe ein Mann sie in Empfang genommen und in eine Wohnung gebracht, wo die Kontaktperson, welche in Russland die Visa organisiert hätte, ihre Dokumente abgenommen und in Aussicht gestellt hätte, dass sie in ein paar Tagen wiederkommen würde. Als jener Mann nach zehn Tagen noch nicht wiedergekommen wäre, habe der Zweitbeschwerdeführer sich zur Stellung von Asylanträgen entschlossen.

Dem Zweitbeschwerdeführer sei nicht bekannt, von wem konkret er verhaftet worden sei; sie seien bei der Festnahme maskiert gewesen und er habe es auch später nicht herausfinden können. Er könne nur vermuten, dass es sich um ihr Zentrum für Terrorismusbekämpfung gehandelt hätte. Nach seiner am 20.05.2017 erfolgten Freilassung habe er keinen weiteren persönlichen Kontakt zu Sicherheitsbehörden gehabt, er sei jedoch verfolgt worden. Dies, da es die drei Hausdurchsuchungen gegeben hätte und sein Bruder ihm mitgeteilt hätte, dass er sich auf einer schwarzen Liste befinden würde. Weshalb er sich auf jener Liste befinden würde, sei dem Zweitbeschwerdeführer unklar, es habe nie eine Beschuldigung gegen ihn gegeben. Offiziell hätte ihn niemand gesucht und es gebe auch keinen Haftbefehl. Nach seiner Ausreise sei an seinem Arbeitsplatz nach ihm gefragt worden, auch hätten die Nachbarn gesagt, dass vor ihrem Haus immer ein unbekanntes Auto stehe. Befragt, weshalb der FSB ein Interesse daran haben sollte, dass der Zweitbeschwerdeführer verschwinde oder sterbe, gab der Zweitbeschwerdeführer an, wenn dieser Vorfall nicht gewesen wäre, hätte er gar nicht gewusst, dass er auf der schwarzen Liste stehe. Der Zweitbeschwerdeführer habe früher nicht geglaubt, dass sie Leute grundlos festhalten würden, bis es ihm selbst passiert sei. Weshalb man ihn nicht sogleich getötet oder verschwinden lassen hätte, sei dem Zweitbeschwerdeführer nicht bekannt. Ebensowenig habe er eine Erklärung dafür, weshalb man ihn freigelassen hätte, obwohl man ihn töten hätte wollen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab zusammengefasst an, sie habe bislang wahrheitsgemäße Angaben erstattet, welche korrekt protokolliert und rückübersetzt worden seien, sie sei gesund, befinde sich in Grundversorgung, habe keine Angehörigen in Österreich, besuche keinen Deutschkurs und sei zuhause bei den Kindern. Zum Grund ihrer Flucht aus dem Herkunftsstaat führte sie aus, sie hätten Russland verlassen, da der Familie Gefahr gedroht hätte. Es habe ein Überfall auf ihren Mann stattgefunden und es sei zu Hausdurchsuchungen und Verfolgung gekommen. All dies sei im Mai passiert; ihr Mann sei zur Arbeit gegangen, abends jedoch nicht nach Hause gekommen. Am nächsten Tag sei sie in der Nacht angerufen worden und man habe ihr gesagt, dass ihr Mann im Krankenhaus wäre. Sie sei zu ihrem Mann ins Krankenhaus gefahren, welcher dort halb bewusstlos gelegen hätte und am Hinterkopf und Rücken voller blauer Flecken gewesen sei. Am nächsten Tag sei sie nach Hause gefahren, um die Sachen ihres Mannes zu holen, wo sich ihr ein schreckliches Bild geboten hätte. Ihre im gleichen Haus lebende Schwiegermutter sei komplett verschreckt und verheult gewesen. Es habe eine Hausdurchsuchung gegeben. Ihre Schwiegermutter hätte ihr gesagt, dass sie zu ihren Eltern fahren solle, da sie zuhause nicht sicher wäre. Dort hätte sie dann bis Ende August gelebt, anschließend seien sie nach XXXX gefahren und von dort nach Österreich gekommen. Sie persönlich werde von den Behörden der Russischen Föderation nicht gesucht und habe sich nie in Haft befunden. Einer persönlichen Verfolgung oder Bedrohung sei sie nie ausgesetzt gewesen, jedoch ihre Familie. Damit meine sie, dass ihr Mann verfolgt worden sei, was ein Problem für die ganze Familie bilde. Eigene Fluchtgründe habe sie nicht. Wer den Übergriff auf ihren Mann verübt hätte, sei ihr nicht bekannt, es hätte jedoch alles im Zusammenhang mit einem Haus gestanden, welches er für seinen Bruder vermietet hätte. Im Fall einer Rückkehr drohe ihnen Gefahr; die Verfolgung ihres Mannes ginge bis jetzt weiter und sie hätte sehr große Angst, zurückzukehren.

In Bezug auf die von ihr vertretenen minderjährigen Kinder gab die Erstbeschwerdeführerin an, ihre Tochter sei gesund, ihr Sohn habe hier eine Lebererkrankung bekommen, müsse Medikamente einnehmen und operiert werden. Ihre Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe.

In der Folge wurden diverse ärztliche Unterlagen betreffend den minderjährigen Viertbeschwerdeführer übermittelt, aus welchen sich im Wesentlichen ergibt, dass bei diesem eine genetisch gesicherte progressive familiäre Cholestase Typ I (PFIC, homozygote ATP8B1-Mutation) sowie ein Zustand nach Katheter-assoziierter Thrombose der V jugularis interne dextra bestehe und ein operativer Eingriff für November 2018 geplant werde.

2. Mit den nunmehr angefochtenen, im Familienverfahren ergangenen, Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge auf internationalen Schutz der erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkte II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.) und die Frist für deren freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VI.).

Begründend wurde ausgeführt, es habe nicht festgestellt werden können, dass die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien ihren Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten.

Im Rahmen der Beweiswürdigung wurde hierzu erwogen, die Behörde könne im Fall des Zweitbeschwerdeführers nicht von einer tatsächlich bestehenden Verfolgungsgefahr ausgehen, zumal dieser im Rahmen des Verfahrens nicht dazu in der Lage gewesen sei, logisch und nachvollziehbar darzulegen, inwiefern er einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre. Sofern er von den Sicherheitsbehörden für ca. 2 Tage festgenommen worden sei, ließe sich hieraus keine asylrelevante Verfolgung ableiten, zumal er augenscheinlich mit einem Polizistenmord in Verbindung gebracht worden wäre. Die daraus resultierenden Hausdurchsuchungen seien unzureichend, um eine asylrechtlich relevante Verfolgung zu begründen, zumal diese angesichts der gegen ihn vorgelegenen Verdachtslage durchaus legitim erschienen. Gegen eine tatsächliche Verfolgungsgefahr spreche desweiteren, dass der Zweitbeschwerdeführer infolge seiner Freilassung am 20.05.2017 bis August 2017 wieder normal seiner Arbeit nachgegangen wäre und in diesem Zeitraum nicht neuerlich von den Sicherheitsbehörden aufgesucht worden wäre; der Umstand seiner Freilassung deute ebenfalls darauf hin, dass die Sicherheitsbehörden kein größeres Interesse an seiner Person besessen hätten. Der Vermutung des Zweitbeschwerdeführers, dass er auf einer „schwarzen Liste“ stünde, könne kein Glauben geschenkt werden, zumal er diese Information über mehrere Personen erhalten hätte, sodass diese äußerst zweifelhaft erscheine. Dessen Furcht, als auf einer derartigen Liste aufscheinende Person verschwinden oder sterben zu werden, könne insofern nicht nachvollzogen werden, als dieser nach einer eintägigen Anhaltung im Mai 2017 freigelassen worden sei, in der Folge bis August weiter seiner Arbeit nachgegangen sei und bis zur Ausreise keine weiteren Schwierigkeiten mit den Behörden erlebt hätte. Im Falle einer tatsächlichen behördlichen Verfolgung wäre es im genannten Zeitraum jedenfalls zu weiteren Handlungen gegen seine Person gekommen. Der Zweitbeschwerdeführer sei zudem nicht einmal in der Lage gewesen, anzugeben, von wem die Verhaftung ausgegangen wäre und habe diesbezüglich lediglich Vermutungen anstellen können. Somit sei keinesfalls glaubhaft, dass der Zweitbeschwerdeführer seine Heimat wegen einer Verfolgung oder einer Furcht vor einer solchen verlassen hätte, vielmehr sei anzunehmen, dass die Gründe seiner Ausreise im rein privaten Bereich gelegen hätten.

Die Erstbeschwerdeführerin habe in Bezug auf ihre eigene Person sowie die von ihr vertretenen minderjährigen Kinder keine individuellen Verfolgungsbefürchtungen geäußert, sondern sich ausschließlich auf die Gründe ihres Mannes bezogen, welche sich jedoch als nicht glaubhaft erwiesen hätten.

Weiters habe nicht festgestellt werden können, dass die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien im Herkunftsstaat einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 2, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention ausgesetzt sein würden oder eine Rückkehr für diese als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die beschwerdeführenden Parteien im Falle einer Rückkehr mit einem gänzlichen Entzug ihrer Lebensgrundlage zu rechnen hätten oder von einer existenzbedrohenden oder medizinischen Notlage betroffen wären. Die Familie könnte im Falle einer Rückkehr auf die Unterstützung ihrer dort zahlreich aufhältigen Angehörigen zurückgreifen. Überdies seien der Zweitbeschwerdeführer und die Erstbeschwerdeführerin durch Teilnahme am Erwerbsleben in der Lage, den Lebensunterhalt ihrer Familie im Herkunftsstaat – wie bereits im Vorfeld der Ausreise – eigenständig zu bestreiten. Auch unter Berücksichtigung der Erkrankungen des Viertbeschwerdeführers sei nicht zu erkennen, dass dieser an einer akuten, lebensbedrohlichen Krankheit leiden würde, welche in der Russischen Föderation keiner Behandlung zugänglich wäre.

Da bei keiner der beschwerdeführenden Parteien individuelle Gründe für die Gewährung internationalen Schutzes vorliegen würden, käme auch die Ableitung eines entsprechenden Status nach den Bestimmungen über das Familienverfahren nicht in Betracht.

Die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien würden ein Familienleben lediglich untereinander führen, sodass die für alle Familienmitglieder ausgesprochene Rückkehrentscheidung zu keinem Eingriff in deren Recht auf Achtung des Familienlebens führe. Die beschwerdeführenden Parteien hielten sich seit einem erst kurzen Zeitraum in Österreich auf und hätten keine Aspekte einer außergewöhnlichen Integration vorgebracht. Die gesamte Familie lebe von der Grundversorgung, der Zweitbeschwerdeführer hätte an einem Deutschkurs teilgenommen, ginge jedoch keiner legalen Beschäftigung nach. Demgegenüber hätten die Genannten im Herkunftsstaat ein enges familiäres Netz und beherrschten die dortigen Verkehrssprachen fließend.

3. Gegen diese Bescheide erhoben die erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien mit für alle Familienmitglieder gleichlautendem Schriftsatz vom 11.05.2018 die verfahrensgegenständlichen Beschwerden im vollen Umfang. Begründend wurde ausgeführt, das Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien genüge den Anforderungen an eine Glaubhaftmachung. Soweit die Behörde dem Vorbringen die Asylrelevanz mit der Begründung abspreche, es habe sich bei der Anhaltung und den Hausdurchsuchungen lediglich um staatliche Ermittlungen gehandelt, sei zu entgegnen, dass der Zweitbeschwerdeführer davon gesprochen hätte, von unbekannten maskierten Personen festgenommen worden zu sein und nie behauptet hätte, dass es sich hierbei um Polizisten gehandelt hätte. Dieser sei in einem Keller festgehalten und misshandelt worden, sodass er in einem Krankenhaus habe behandelt werden müssen; hierzu habe er einen Entlassungsbericht vorgelegt, welcher im Verfahren jedoch keine Berücksichtigung erfahren habe. Der Umstand, dass der Zweitbeschwerdeführer wieder freigelassen worden wäre, sei vor dem Hintergrund zu sehen, dass sie diesen beobachten wollten, was dann auch der Fall gewesen wäre. Ihr Haus stünde weiterhin unter Beobachtung, sodass das Interesse an der Person des Zweitbeschwerdeführers nach wie vor bestehe. Weiters habe die Behörde eine Prüfung dahingehend unterlassen, ob die im Falle des minderjährigen Viertbeschwerdeführers notwendige Behandlung in der Russischen Föderation tatsächlich durchgeführt werden könne. Aus dem glaubhaften Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien folge, dass diese im Fall einer Rückkehr Verfolgung ausgesetzt wären, zumal der Zweitbeschwerdeführer bereits in der Vergangenheit misshandelt, zu Unrecht beschuldigt, verfolgt, und ungerechtfertigt angehalten und verhört worden sei. Bei der Beurteilung der Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes wäre auf die allgemein prekäre Menschenrechtssituation im Nordkaukasus Bedacht zu nehmen gewesen, ebenso ginge aus näher angeführten Berichten ein Risiko für nach Tschetschenien zurückkehrende Personen hervor. Für die Familie bestünde daher aufgrund der allgemeinen Gefahren im innerstaatlichen Konflikt in Tschetschenien (sic) eine ernsthafte Gefahr für ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit.

Beiliegend wurde ein Konvolut an ärztlichen Unterlagen betreffend den minderjährigen Viertbeschwerdeführer übermittelt.

4. Die Beschwerdevorlagen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in den Verfahren der erst- bis viertbeschwerdeführenden Parteien langten mitsamt den bezughabenden Verwaltungsakten am 15.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Am 18.05.2018 langte eine Beschwerdenachreichung ein.

5. Mit Eingabe vom 11.07.2018 übermittelten die beschwerdeführenden Parteien zwei unübersetzte Schreiben, aus denen hervorgehen würde, dass sie im Mai 2018 seitens des inguschetischen Gesundheitsministeriums die Auskunft erhalten hätten, dass im Fall der Diagnose eines progressiven familiären Cholestases Typ I in der Russischen Föderation keine Operation durchgeführt werden könne und die notwendigen Medikamente für die Behandlung des minderjährigen Viertbeschwerdeführers nicht verfügbar seien. Weiters wurde ein Patientenbrief vom 16.05.2018 betreffend den Viertbeschwerdeführer übermittelt.

6. Mit Schreiben vom 19.06.2019 stellte der Zweitbeschwerdeführer für die im Juni 2019 im Bundesgebiet geborenen fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien Anträge auf internationalen Schutz.

Mit Schreiben vom 27.06.2019 forderte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die gesetzliche Vertreterin der Minderjährigen zur Bekanntgabe auf, ob die beiden Neugeborenen individuelle Gründe für die Stellung eines Antrages auf internationalen Schutzes aufweisen würden und ob diese an Erkrankungen litten.

Mit Eingabe vom 05.07.2019 teilte die Erstbeschwerdeführerin diesbezüglich mit, dass der minderjährige Fünftbeschwerdeführer und die minderjährige Sechstbeschwerdeführerin keine individuellen Rückkehrbefürchtungen hätten und soweit gesund seien, wobei das Ergebnis einer genetischen Untersuchung noch ausständig wäre.

7. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge auf internationalen Schutz der minderjährigen fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkte II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.) und die Frist für deren freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VI.).

Begründend wurde ausgeführt, dass seitens der gesetzlichen Vertreter der beiden im Bundesgebiet geborenen Kinder keine individuellen Rückkehrbefürchtungen geltend gemacht worden wären und sich auch von Amts wegen keine Gründe für die Gewährung internationalen Schutzes ergeben hätten. Die beiden Minderjährigen würden in Obhut ihrer Eltern in den Herkunftsstaat zurückkehren, welche für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen könnten. Die sozialen Bindungen der fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien würden sich auf die Mitglieder ihrer Kernfamilie beschränken, welche im gleichen Umfang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bedroht wären.

8. Gegen diese Bescheide wurde durch den gesetzlichen Vertreter der minderjährigen fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien mit Eingabe vom 18.07.2019 die verfahrensgegenständliche Beschwerde eingebracht, in welcher die Durchführung eines unzureichenden Ermittlungsverfahrens bemängelt wurde, zumal die Behörde es verabsäumt hätte, den angefochtenen Entscheidungen Länderberichte über Inguschetien, die Herkunftsregion der beschwerdeführenden Parteien, zugrunde zu legen und sich zudem mit der Lage von Minderjährigen unzureichend befasst hätte. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre den Kindern der Status von Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen, wozu auf den näheren Inhalt der im Verfahren der gesetzlichen Vertreter eingebrachten Beschwerde verwiesen werde. Zudem bestehe für Kinder aufgrund der allgemeinen Gefahren in der Russischen Föderation eine ernsthafte Gefahr für ihr Leben und ihre körperliche Unversehrtheit, sodass eine Rückführung nach Inguschetien jedenfalls eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde.

Beiliegend übermittelt wurden Bestätigungen über eine vom Zweitbeschwerdeführer absolvierte Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 sowie über eine Teilnahme an einem Basisbildungskurs beim Roten Kreuz.

9. Die Beschwerdevorlangen in den Verfahren der fünft- und sechstbeschwerdeführenden Parteien sowie die bezughabenden Verwaltungsakten langten am 23.07.2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Am 11.02.2021 führte der erkennende Richter mit Prof. Dr. XXXX ein Telefonat hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Viertbeschwerdeführers.

11. Am 15.02.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführer, ihr Rechtsvertreter sowie eine Dolmetscherin für die russische Sprache teilgenommen haben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte im Vorfeld schriftlich mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Verhandlung zu verzichten. Im Zuge der Verhandlung legten die Beschwerdeführer Unterlagen vor.

Die gegenständlich relevanten Teile der Verhandlung gestalteten sich, wie folgt:

„Der BF2 gibt zu Beginn der Verhandlung bekannt, dass sein Fluchtvorbringen nicht der Wahrheit entsprechen würde, und der wahre Grund seiner Ausreise aus der Russischen Föderation in der Krankheit seines Sohnes XXXX liegen würde, da es für selbigen in der Russischen Föderation keinerlei Behandlungsmöglichkeiten gebe. BF1 und BF2 erklären im eigenen sowie im Namen ihrer Kinder, dass es keine asylrelevanten Fluchtgründe gebe.

Der Rechtsvertreter gibt bekannt, dass er im Namen von BF1 bis BF6 die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. der gegenständlichen Bescheide zurückziehen möchte. Der R erteilt eine rechtliche Belehrung.

BF1 und BF2 haben die Erklärung verstanden und sind mit der Zurückziehung im eigenen sowie im Namen ihrer Kinder einverstanden. Sohin wird festgehalten, dass die Spruchpunkte I. folgender Bescheide in Rechtskraft wachsen.

Bescheide vom 27.04.2018, Zl. 1171247210/171172940, Zl. 1171247308/171172958, Zl. 1171247003/171172966, Zl. 1171247101/171172974 sowie Bescheide vom 09.07.2019, Zl. 1234424607/190616429, Zl. 1234424901/190616496.

Einsicht genommen wird in den Verwaltungsakten, hierbei wird aus einem Aktenvermerk vom 11.02.2021 zitiert: Es handelt sich um einen Aktenvermerk betreffend eines Telefonates mit Univ.- Prof. Dr. XXXX betreffend das Dokument AS 79 ff im Akt W111 2195277-1 betreffend BF4. Laut Auskunft des Arztes handelt es sich bei der Krankheit des BF4 um eine angeborene, chronische und schwere Erkrankung. Diese Erkrankung ist ausschließlich durch eine Medikation welche im Rahmen einer Studie in wenigen Studienzentren verfügbar ist, kontrollierbar. Eine solche Behandlung ist in der russischen Föderation nach Dafürhalten von Univ.- Prof. Dr. XXXX nicht verfügbar. Das Abbrechen der Behandlung in Österreich hätte „dramatische“ Konsequenzen für die Gesundheit des BF4 und würde zu einem Leberversagen führen.

Der RV legt zwei weitere Dokumente vor: Bei den beiden Schreiben handelt es sich um ein Schreiben von Univ.- Prof. Dr. XXXX vom 09.02.2020 welches im Wesentlichen inhaltsgleich mit dem oben erwähnten Aktenvermerk ist. Das zweite Dokument ist ein ambulanter Patientenbrief vom 09.02.2021.

Beginn der Befragung

Zu Beginn der Befragung legt der RV ein Konvolut an Unterlagen vor, welches die gelungene Integration der BF untermauern soll, selbiges wird zum Akt genommen.

R an BF1 und BF2: Liegen abgesehen von den Erkrankungen Ihres Sohnes XXXX bei Ihnen oder Ihren übrigen Kindern Erkrankungen vor?

BF2: Meine Frau leidet an Zöliakie, sonst sind wir alle gesund.

BF1: Ja, das stimmt.

R: Bitte schildern Sie mir Ihre Lebensumstände im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation.

BF2: Unser kranker Sohn könnte sterben. Ich habe nur einen Bruder der arbeitslos ist und eine Mutter die Pensionistin ist. Meine Angehörigen können sich kaum selbst versorgen, somit könnten sie mich auch kaum unterstützen.

BF1: Mein Vater ist an COVID verstorben und die Mutter ist alleine, sie ist auch Pensionistin. Sonst habe ich niemanden, auch keine Geschwister. Es gibt Cousins. Unterstützung würde ich durch meine Familie nicht bekommen können.

Vorgelegt wird das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation betreffend die Russische Föderation, Gesamtaktualisierung vom 27.03.2020, letzte Information eingefügt am 21.07.2021, sowie die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 03.11.2020 betreffend die COVID-19-Situation in der Russischen Föderation.

Der RV verzichtet auf eine Einsichtnahme.

R: Sind Sie wegen Ihrer Zöliakie in Behandlung?

BF1: Ich vermeide Gluten in meiner Ernährung, sonst gibt es nichts. Es hat geheißen, dass ich mein Leben lang auf Gluten verzichten soll und ich nehme auch einen Magenschutz. Sonst ist keine weitere Behandlung notwendig.

R: Gibt es ein weiteres Vorbringen?

RV: Kein weiteres Vorbringen.

R: Möchten Sie noch irgendetwas sagen?

BF2: Nein.

BF1: Wir wollen uns einfach bedanken, dass unser Sohn behandelt wird.“

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der Volksgruppe der Inguschen an und führen die im Spruch genannten Namen. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind seit 2014 verheiratet und Eltern der jeweils minderjährigen Dritt- bis SechstbeschwerdeführerInnen.

Die Erst- bis ViertbeschwerdeführerInnen reisten im Oktober 2017 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 15.10.2017 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Am Juni 2019 wurde der Fünftbeschwerdeführer sowie die Sechstbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Für sie wurde in der Folge ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Die Erstbeschwerdeführerin sowie der Zweitbeschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Infolge der Zurückziehung der Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247308-171172958, 2.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247210-171172940, 3.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247003-171172966, 4.) vom 27.04.2018, Zl. 1171247101-171172974, 5.) vom 09.07.2019, Zl. 1234424607-190616429 und 6.) vom 09.07.2019, Zl. 1234424901-190616496, ist gegenständlich lediglich über die Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. bis VI. abzusprechen, das Verfahren bezüglich Spruchpunkt I. war jeweils einzustellen.

1.3. In Bezug auf die Erstbeschwerdeführerin, den Zweitbeschwerdeführer sowie die minderjährigen Dritt-, Fünft- und SechstbeschwerdeführerInnen kann nicht festgestellt werden, dass diese im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wären. Hinsichtlich der Genannten bestehen jeweils keine schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten. Die Erstbeschwerdeführerin leidet an Zöliakie und somit an keiner Erkrankung, die einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstünde. Zudem besteht in der Russischen Föderation eine ausreichende medizinische Grundversorgung, weswegen sie hinsichtlich allfälliger psychischer und physischer Leiden ausreichend behandelt werden könnten. Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über russische und inguschische Sprachkenntnisse. Sie besuchte im Herkunftsstaat die Schule. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt über Kenntnisse der russischen, inguschischen und tschetschenischen Sprache. Er hat eine Ausbildung im Herkunftsstaat absolviert und verfügt über Berufserfahrung. Im Übrigen sind die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer mit den Gepflogenheiten im Herkunftsstaat vertraut. Sie verfügen über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation. Der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer ist eine Teilnahme am Erwerbsleben und eigenständige Bestreitung ihres Lebensunterhalts möglich und zumutbar.

1.4. Der minderjährige Viertbeschwerdeführer leidet an einer genetisch gesicherten progessiven familiären intrahepatischen Cholestase (PFIC) Typ I. Zudem lautet seine Diagnose auf eine chronische Leberinsuffizienz, Z.n. Katheter-assoziierte Thrombose der Vena jugularis interna dextra, massiver Pruitus (Juckreiz), Osteoporose, St.p. laparoskopische Cholecystocolostomie und Leberbiopsie am 28.11.2018, Marilixibat seit Oktober 2020. Bei der genetisch gesicherten progessiven familiären intrahepatischen Cholestase (PFIC) Typ I handelt es sich um eine angeborene, chronische und schwere Erkrankung. Diese ist durch eine Medikation, welche lediglich im Rahmen einer Studie in wenigen Studienzentren verfügbar ist, kontrollierbar. Eine solche Behandlung ist in der Russischen Föderation nicht verfügbar. Das Abbrechen der Behandlung in Österreich hätte massive Konsequenzen für die Gesundheit des Viertbeschwerdeführers und könnte zu einem Leberversagen führen.

In Bezug auf den Viertbeschwerdeführer kann daher bei einer Prognose in Hinblick auf eine allfällige Abschiebung in die Russische Föderation bei Beachtung der konkreten Einzelsituation in ihrer Gesamtheit vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit sichergestellt werden, dass sich der physische Gesundheitszustand des Viertbeschwerdeführers bei einer Rückkehr zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt nicht massiv verschlechtert und ausreichende medizinische Versorgung sowie spezielle, auf die Bedürfnisse des Viertbeschwerdeführers zugeschnittene, Behandlungsmöglichkeiten gegeben sind.

1.5. Hinsichtlich der relevanten Situation im Herkunftsstaat wird zunächst prinzipiell auf die im Akt einliegenden und den beschwerdeführenden Parteien in der mündlichen Beschwerdeverhandlung überreichten Länderfeststellungen verwiesen, zu denen die Beschwerdeführer nicht substantiiert Stellung nahmen.

Zur allgemeinen Lage, zur Situation von Rückkehrern und zur medizinischen Versorgung in der Russischen Föderation wird insbesondere Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Letzte Änderung: 21.07.2020

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau (ÖB Moskau 12.2019; vgl. GIZ 7.2020c). Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen (ÖB Moskau 12.2019).

Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen (GIZ 2.2020c GIZ 7.2020c). Frauen mit kleinen Kindern gehören einer sozialen Gruppe an, die besonders von sozialer Unterstützung wie Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes und dem sogenannten „Mutterschaftskapital“, einer Beihilfe, Nutzen ziehen (vgl. Kapitel 20.2. Sozialbeihilfen) (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 7.2020c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur zwei von 29 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 4.3.2020). In Russland herrscht noch immer ein konservatives Familienbild vor – die Frau als Hausfrau und Mutter. Jedoch sind Frauen in der Realität gezwungen, auch (Vollzeit) erwerbstätig zu sein, schon allein aufgrund der hohen Scheidungsrate. Daraus folgt logischerweise auch eine große Anzahl von alleinerziehenden Frauen (Russland Analysen 21.2.2020b).

Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 12.2019; vgl. FH 4.3.2020, HRW 10.2018). Ein Großteil der Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt wird durch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen übernommen. Das Zentrum ANNA etwa koordiniert ein informelles Netzwerk von Organisationen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Kinder. Darin sind über 150 regionale und lokale NGOs aktiv. Es wurde auch eine interaktive Karte mit Zentren, die betroffene Frauen in den meisten Regionen Russlands unterstützen, erstellt (ÖB Moskau 12.2019). Offizielle Studien legen nahe, dass mindestens jede fünfte Frau in Russland irgendwann in ihrem Leben körperliche Gewalt durch ihren Ehemann oder Partner erlebt hat (HRW 10.2018; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügend Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 13.2.2019; vgl. ÖB Moskau 12.2019, USDOS 11.3.2020, HRW 10.2018). Experten schätzen, dass 60% bis 70% der Fälle von häuslicher Gewalt nicht gemeldet werden (ÖB Moskau 12.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Ein vom Arbeits- und Sozialministerium gemeinsam mit Frauenrechtsorganisationen ausgearbeiteter Gesetzesentwurf zur Vorbeugung häuslicher Gewalt, der insbesondere der Polizei mehr Verpflichtungen zum Kampf gegen häusliche Gewalt auferlegt und einen besseren Opferschutz vorschreibt, wurde von der Duma Ende 2016 abgelehnt (ÖB Moskau 12.2019). Spürbare Auswirkungen hatte ein im Jänner 2017 erlassenes Gesetz, das häusliche Gewalt an Kindern und anderen Familienmitgliedern bis zu einem gewissen Grad entkriminalisiert (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, AI 22.2.2018), wenn sie zu keinen dauerhaften körperlichen Schäden führt (FH 4.2.2019). 2017 wurde die Kampagne „We demand to adopt the domestic violence law“ gestartet, die inzwischen 460.000 Unterstützer hat. Aktuell wird ein neuer Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt im russischen Parlament diskutiert. Im Jänner 2019 wurde ein EU-finanziertes Projekt des Europarats und der Russischen Föderation zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen lanciert, das auch von der russischen Ombudsfrau für Menschenrechte begrüßt wurde (ÖB Moskau 12.2019). Häusliche Gewalt bleibt lückenhaft dokumentiert und die Dienste für Überlebende sind unzureichend. Im Juli 2019 bekräftigte die russische Ombudsperson öffentlich ihre Unterstützung für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Im Oktober hielt das Parlament seine erste vorläufige Debatte über das Gesetz ab. Ebenso erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Juli 2019 seine erste Entscheidung zu einem Fall von häuslicher Gewalt in Russland. Das Gericht forderte die Behörden auf, dem Beschwerdeführer Schadenersatz in Höhe von 20.000 Euro zu zahlen, und erkannte die "Zurückhaltung der russischen Behörden an, die Schwere häuslicher Gewalt anzuerkennen" (HRW 14.1.2020).

Vergewaltigung ist illegal und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung sind drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (USDOS 11.3.2020). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange sich das Opfer nicht in einer lebensbedrohlichen Situation befindet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017).

Im Jahr 2018 soll es 434 lokale Unterstützungseinrichtungen für Frauen in Krisensituationen gegeben haben. NGOs stellten jedoch fest, dass der Zugang zu Notunterkünften oft kompliziert ist, da sie einen Wohnsitznachweis in dieser bestimmten Gemeinde sowie einen Nachweis über den Status eines Niedrigeinkommens benötigen. In vielen Fällen werden diese Dokumente von den Tätern verwaltet und standen den Opfern deshalb nicht zur Verfügung (USDOS 13.3.2019). Krisenzentren und Notunterkünfte von NGOs spielen eine entscheidende Rolle bei der Erbringung von Dienstleistungen für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese sind auf staatlicher Ebene oft nicht verfügbar und es gibt Fälle, in denen Frauen, bevor sie in NGO-Einrichtungen kamen, von staatlichen Einrichtungen abgewiesen wurden (HRW 10.2018). Es gibt in Russland 14 staatliche Krisenzentren (Frauenhäuser), eines davon in Moskau (ÖB Moskau 12.2019). Aufgrund finanzieller Engpässe und staatlicher Beschränkungen bei der Beschaffung ausländischer Mittel haben NGOs Schwierigkeiten, ausreichend viele Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. In Großstädten gibt es staatliche Unterkünfte, die dringende Hilfe, wie zum Beispiel „Krisenwohnungen“ zur Verfügung stellen können. Neben staatlichen und NGO-Einrichtungen gibt es auch religiöse Einrichtungen der Russisch-Orthodoxen, der Katholischen und der Baptisten-Kirche, die Opfern von häuslicher Gewalt Hilfe bereitstellen. Um in eine staatliche Einrichtung aufgenommen zu werden, müssen Frauen oft eine ganze Reihe von Dokumenten mitbringen, wie beispielsweise Meldezettel, Reisepass, eine Überweisung von Sozial- oder Kinderschutzdiensten, eine persönliche schriftliche Erklärung, warum die Person Hilfe benötigt, ärztliche Atteste mit Angaben zu allen Impfungen und in einigen Fällen sogar Röntgenaufnahmen. Wenn eine Frau Kinder hat, muss sie auch für jedes ihrer Kinder Gesundheitsunterlagen vorlegen. Der Prozess der Beschaffung all dieser Dokumente kann bis zu zwei Wochen dauern, in einigen Fällen auch länger (HRW 10.2018).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 12.3.2020

AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 12.3.2020

EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 12.3.2020

FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 12.3.2020

FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140, Zugriff 17.7.2020

HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 2.3.2020

HRW – Human Rights Watch (10.2018): “I Could Kill You and No One Would Stop Me” Weak State Response to Domestic Violence in Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1447924/3175_1540546740_russia1018-web3.pdf, Zugriff 12.3.2020

ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 12.3.2020

Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.3.2020

Russland Analysen/ Hornke, Theresa (21.2.2020b): Russlands Familienpolitik, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.3.2020

USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Frauen im Nordkaukasus, insbesondere in Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen s

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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