TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/10 W164 2173436-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.06.2021
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Entscheidungsdatum

10.06.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W164 2173436-1/19Z

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Asyl in Not, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.09.2017, Zl. 1101871810/160073440 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. und Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides richtet, wird ihr Folge gegeben und es wird in Abänderung des angefochtenen Bescheides festgestellt:

II.1. Gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG ist eine Rückkehrentscheidung gegen XXXX auf Dauer unzulässig.

II.2. XXXX wird gemäß § 55 Abs. 1 und Abs. 2 iVm § 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte am 12.01.2016 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz. Anlässlich seiner Erstbefragung vom 14.02.2016 gab der BF an, er sei Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekenne sich zum sunnitischen Glauben. Er sei am XXXX in der Provinz Laghman geboren und spreche Paschtu. Der BF sei verheiratet und habe eine drei Monate alte Tochter. In seiner Heimatprovinz Laghman habe der BF eine allgemein bildende höhere Schule besucht. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, er habe für eine Hilfsorganisation gearbeitet und er sei aufgrund dieser Tätigkeit von den Taliban mit dem Tode bedroht worden. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.

3. Am 30.08.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Der BF gab an, er habe zwei jüngere Schwestern und zwei jüngere Brüder.Diese würden noch im Heimatort bei den Eltern leben Auch seine Frau und seine Tochter würden dort leben. Zu seinem Fluchtgrund brachte der BF vor, der Ehemann seiner Tante väterlicherseits sei ein Talibankommandant gewesen. Dieser sei zu seinem Vater gekommen und habe den Wunsch geäußert, dass der BF am Jihad teilnehmen sollte. Der Vater des BF habe den Ehemann der Tante des BF vertröstet und gesagt, dass der BF die Schule abschließen sollte. Nach Abschluss der Schule habe der BF geheiratet, dann ein Semester auf der Universität in Kabul studiert und nebenbei für eine Hilfsorganisation gearbeitet. Für ein XXXX -Projekt im Rahmen seiner Tätigkeit für die Hilfsorganisation habe er sich 10 Tage lang in Nangahar aufgehalten und sei dann wieder nach Kabul zurückgekehrt. Einen Tag später habe es in der Region, in der der XXXX gebaut worden war – der BF nannte den Namen des Dorfes und der Region - einen Kampf zwischen der Regierung und den Taliban gegeben. Dabei sei ein Freund des Ehemanns der Tante des BF getötet worden. Der Ehemann der Tante sei daraufhin zur Familie des BF gekommen und habe den BF bezichtigt, ein Spion der Regierung zu sein. Zudem habe er gedroht und angekündigt, den BF umzubringen. Der Vater des BF habe diesen danach angerufen und gewarnt. Daraufhin sei der BF anstatt nach Hause zu fahren, zu einem Onkel mütterlicherseits nach Nangahar gefahren und von dort Richtung Europa ausgereist.

Der BF legte seine Tazkira vor, ferner ein Prüfungszertifikat des ÖSD über Deutsch auf Niveau A2 nach GER vom 08.03.2017, weiters Teilnahmebestätigungen über den Besuch von Deutschkursen und Integrationskursen der Stadt Wien, MA 17.

4. Mit Bescheid vom 15.09.2017, Zl. 1101871810/160073440 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe nicht glaubhaft machen können, dass er in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre bzw. eine solche zukünftig zu befürchten hätte. Die Schilderungen des BF seien in zahlreichen Punkten verworren, widersprüchlich und unlogisch gewesen. Dem BF sei aufgrund seiner individuellen Verhältnisse eine Rückkehr nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif möglich und zumutbar. Der BF verfüge in Österreich über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine damalige Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde und verwies auf aktuelle Länderberichte betreffend Afghanistan. Laut UNHCR zähle der BF durch seine Tätigkeit für eine Hilfsorganisation zum Risikoprofil jener Personen, denen eine regierungsfreundlichen Gesinnung unterstellt werde. Die Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere in Kabul, sei schlecht. Der BF habe im bisherigen Verfahren nachvollziehbare und glaubwürdige Angaben gemacht, weshalb ihm bei richtiger rechtlicher Beurteilung internationaler Schutz zuzuerkennen gewesen wäre.

6. Mit Schreiben vom 03.02.2021 legte der BF durch seine Rechtsvertretung einen Nachweis über den Besuch des Lehrganges „Pflichtschulabschluss nachholen“ XXXX vom 07.09.2018, mehrere Kursbesuchsbestätigungen XXXX sowie eine Bestätigung über ehrenamtliche Mitarbeit XXXX vom 19.03.2018 vor.

7. Mit Schreiben vom 09.04.2021 brachte der BF durch seine Rechtsvertretung eine Beschwerdeergänzung ein und wies erneut darauf hin, dass Mitarbeiter humanitärer Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie Menschenrechtsaktivisten laut UNHCR einer Risikogruppe angehören. Weiters wurden Berichte zur Sicherheitslage in Kabul aufgelistet. Kabul könne dem zufolge nicht als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommen. Die belangte Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt. Der BF sei in seinem Herkunftsstaat einer konkreten asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt. In Österreich habe der BF an Bildungsveranstaltungen teilgenommen und bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie stetig an seinen Deutschkenntnissen gearbeitet. Die Ablegung der B1-Prüfung sei bislang an der allgemeinen Lage und nicht am Willen des BF gescheitert, zudem habe der BF einen Kurs für den Pflichtschulabschluss besucht. Der BF engagiere sich ehrenamtlich und spiele in einem Sportverein XXXX .

Ergänzend vorgelegt wurde eine Bestätigung der Vereinsmitgliedschaft von XXXX vom 17.01.2021, eine Bestätigung über die Bewerbung bei XXXX , ein Empfehlungsschreiben des Unterkunftsgebers XXXX vom 20.03.2021, eine Bestätigung über die Mitgliedschaft XXXX vom 27.03.2021, ein Empfehlungsschreiben XXXX vom 25.03.2021, ein Empfehlungsschreiben XXXX vom 26.03.2021, eine Anmeldebestätigung für einen Deutschkurs Niveau B1 XXXX für den Zeitraum von 07.04.2021 bis 30.07.2021, eine Teilnahmebestätigung XXXX vom 10.03.2021, eine Bestätigung über die Teilnahme am Integrationsprojekt XXXX vom 27.03.2021, ein Empfehlungsschreiben des Vereins XXXX vom 22.02.2021.

8. Am 16.04.2021 wurde beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung abgehalten, anlässlich deren der BF im Beisein seiner nunmehrigen Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Dari befragt wurde. Das ebenfalls geladene BFA ließ sich von der Teilnahme an der Verhandlung entschuldigen. Dem BFA wurden eine Ausfertigung des Verhandlungsprotokolls und die anlässlich der Verhandlung vom BF vorgelegten Integrationsnachweise schriftlich zur Kenntnis gebracht.

Der BF machte zusammengefasst folgende Angaben:

Er habe in seinem Heimatort mit etwa 11 Jahren begonnen, in die Schule zu gehen und habe die Schule dann 12 Jahre lang besucht. Er sei in der 11. Klasse gewesen, als der Ehemann seiner Tante – ein Taliban-Kommandant – zu seinem Vater gekommen sei und den BF für die Taliban habe rekrutieren wollen. Sein Vater habe entgegnet, dass der BF die Schule abschließen solle. Nach Abschluss der Schule habe der BF geheiratet. Danach habe er an der Universität in Kabul XXXX studiert und gleichzeitig für eine Hilfsorganisation gearbeitet. Seine Ehefrau sei bei der Familie des BF im Heimatort geblieben. Die Hilfsorganisation habe verschiedenste Projekte durchgeführt, der BF habe die Aufgabe gehabt, XXXX bauen zu lassen und die Arbeit zu beaufsichtigen. Nach dem Abschluss eines Bauprojekts in Nangahar sei es in dieser Region zu militärischen Kampfhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban gekommen, dabei seien mehrere Freunde des Ehemanns der Tante des BF getötet worden. Davon habe der BF erst erfahren, nachdem der Ehemann seiner Tante seinen Vater aufgesucht und behauptet hätte, dass der BF die Regierung informiert hätte. Dieser Mann würde den BF nun verfolgen. Der BF sei bis zu diesem Vorfall regelmäßig nach Hause zu seiner Familie gefahren. Er sei gerade wieder auf dem Weg dorthin gewesen, als ihn sein Vater angerufen und gewarnt habe. Daraufhin sei er zu einem Onkel mütterlicherseits gefahren und dieser habe ihm die schlepperunterstützte Ausreise organisiert.

Bezüglich seines Aufenthaltes in Österreich brachte der BF vor, dass er den Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss absolviert habe, jedoch habe er aufgrund einer ansteckenden Erkrankung ( XXXX ), etwa längere Zeit nicht am Kurs teilnehmen und dann die Prüfung nicht ablegen können. Mittlerweile sei er wieder gesund. Er habe ehrenamtlich gearbeitet und sei in einem Kultur- und Sportverein aktiv. Er nehme an verschiedenen Integrationsprojekten teil und er verbringe seine Freizeit mit österreichischen Freunden.

Ergänzend vorgelegt wurden eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs Niveau B1 XXXX vom 13.04.2021, ein XXXX Zertifikat vom 05.02.2019, eine Bestätigung XXXX vom 10.04.2021, wonach der BF im Fall einer positiven Entscheidung in seinem Asylverfahren eine Arbeitsstelle in dem Betrieb erhalten werde und ein Empfehlungsschreiben der Kursleiterin der XXXX .

9. Mit Schreiben vom 30.04.2021 wurde seitens der Rechtsvertretung des BF ergänzendeine „Noten-Bestätigung“ XXXX über die Teilnahme am Pflichtschulabschluss-Lehrgang in der Zeit vom 27.08.2018 bis 28.06.2019, mit der bestätigt wurde, dass der BF bereits einzelne Fächer des Pflichtschulabschlusses erfolgreich abgelegt hat, ferner eine Krankenbestätigung für die Zeit von 04.04.2019 bis 31.05.2019 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der strafrechtlich unbescholtene BF führt den Namen XXXX , er wurde am XXXX in Afghanistan, Provinz Laghman, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger. Der BF gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitischen Glauben. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht zudem Dari, Englisch und mittlerweile auch Deutsch. Der BF wuchs mit seinen Eltern und Geschwistern (zwei jüngere Brüder und zwei jüngere Schwestern) in seinem Heimatort auf. Mit etwa 11 Jahren begann der BF in die Schule zu gehen und besuchte die Schule 12 Jahre lang. Nach Abschluss der Schule heiratete er und begann in Kabul XXXX zu studieren. Der BF arbeitete neben dem Studium für die Hilfsorganisation XXXX , wo er Projekte für den XXXX betreute. Seine Frau blieb bei den Eltern des BF im Heimatort; der BF kam an den Wochenenden regelmäßig zu Besuch. Ende 2015 kam eine Tochter des BF auf die Welt. Die berufliche Tätigkeit des BF sorgte beim Ehemann seiner Tante – dieser hätte den BF schon während seiner Schulzeit lieber als Talibankämpfer gesehen – für Verstimmung. Der Vater des BF unterstützte die Berufstätigkeit des BF im humanitären Bereich. Bei Treffen innerhalb der Großfamilie kam es zu Streitgesprächen. Als nach einem vom BF in Nangahar betreuten Baueinsatz akkurat in der Gegend, in der der BF beruflich eingesetzt war, ein Angriff der Regierungsgruppen gegen die Talibangruppen stattgefunden hatte, bei dem Freunde des angeheirateten Onkels zu Tode gekommen waren, äußerte dieser Verdächtigungen gegen den BF und sprach Drohungen gegen den BF aus. Der Vater riet dem BF daraufhin, nicht nach Hause zu kommen. Der BF reiste daraufhin zu seinem Onkel nach Nangahar und trat von dort die schlepperunterstützte Reise nach Europa an.

Der BF reiste zu Jahresbeginn 2016 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er befindet sich seit seiner Antragstellung auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Der BF ist volljährig, gesund und arbeitsfähig. Die Eltern, die Geschwister, die Ehefrau und die Tochter des BF leben weiterhin im Heimatort. Die finanzielle Lage der Familie ist gut. Der BF hat zu seiner Familie regelmäßig telefonischen Kontakt. In Afghanistan verfügt der BF noch über Verwandte in Nangahar und Laghman.

In Österreich besuchte der BF Deutschkurse und Integrationskurse. Er erwarb im Jahr 2017 das ÖSD Zertifikat Deutsch-A2 nach GER. In der Folge baute der BF seine Deutschkenntnisse weiter aus und besuchte einen Lehrgang zur Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss. Der BF konnte Teilprüfungen des Pflichtschulabschlusses bereits erfolgreich ablegen und strebt dessen Abschluss an. Da er im Fach „Deutsch-Kommunikation und Gsellschaft“ des Pflichtschulabschlusses noch nicht beurteilt wurde, besucht der BF aktuell einen Deutschkurs Niveau B1 XXXX (Kursdauer 07.04.2021 bis 30.07.2021). Der BF hat weiters an zahlreichen Projekten, Kursen und Integrationsveranstaltungen teilgenommen, wie unter Punkt I. Verfahrensgang näher dargelegt wurde. Der BF engagiert sich, seit er in Österreich ist, ehrenamtlich. Aktuell spielt er ferner in einem Sportverein XXXX . Der BF verfügt über eine Bestätigung XXXX vom 10.04.2021, der zufolge er bei Zuerkennung eines Aufenthaltstitels eine Arbeitsstelle in dem Betrieb erhalten würde. Laut den von ihm vorgelegten Empfehlungs- bzw. Unterstützungsschreiben wird der BF als zuverlässig, höflich, hilfsbereit und freundlich beschrieben.

Zur Lage im Herkunftsstaat:

Quellen: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 01.04.2021, EASO Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88. Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt.

Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein.

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel 5).

UNHCR: Afghanistan ist weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen, bei dem die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), unterstützt von den internationalen Streitkräften, mehreren regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) gegenüberstehen.

Dem UN-Generalsekretär zufolge steht Afghanistan weiterhin vor immensen sicherheitsbezogenen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Sicherheitslage soll sich insgesamt weiter verschlechtert und zu einer sogenannten „erodierenden Pattsituation“ geführt haben. Berichten zufolge haben sich die ANDSF grundsätzlich als fähig erwiesen, die Provinzhauptstädte und die wichtigsten städtischen Zentren zu verteidigen, im ländlichen Raum hingegen mussten sie beträchtliche Gebiete den Taliban überlassen.

Von dem Konflikt sind weiterhin alle Landesteile betroffen. Seit dem Beschluss der Regierung, Bevölkerungszentren und strategische ländliche Gebiete zu verteidigen, haben sich die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) und der afghanischen Regierung intensiviert. Es wird berichtet, dass regierungsfeindliche Kräfte immer öfter bewusst auf Zivilisten gerichtete Anschläge durchführen, vor allem durch Selbstmordanschläge mit improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und komplexe Angriffe. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) setzen ihre groß angelegten Angriffe in Kabul und anderen Städten fort und festigen ihre Kontrolle über ländliche Gebiete. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit und Effektivität der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) geäußert, die Sicherheit und Stabilität in ganz Afghanistan zu gewährleisten.

Trotz der ausdrücklichen Verpflichtung der afghanischen Regierung, ihre nationalen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten, ist der durch sie geleistete Schutz der Menschenrechte weiterhin inkonsistent. Große Teile der Bevölkerung einschließlich Frauen, Kindern, ethnischer Minderheiten, Häftlingen und anderer Gruppen sind Berichten zufolge weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden laut Berichten in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betreffenden Gebiete tatsächlich kontrolliert. In von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es Berichten zufolge regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und seine Vertreter. In Gebieten, die (teilweise) von regierungsnahen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, begehen diese Berichten zufolge straflos Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich sind in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten Menschenrechtsverletzungen, darunter durch die Etablierung paralleler Justizstrukturen, weit verbreitet. Zusätzlich begehen sowohl staatliche wie auch nicht-staatliche Akteure Berichten zufolge außerhalb der von ihnen jeweils kontrollierten Gebiete Menschenrechtsverletzungen. Aus Berichten geht hervor, dass besonders schwere Menschenrechtsverletzungen insbesondere in umkämpften Gebieten weit verbreitet sind.

Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der nach nationalem und internationalem Recht bestehenden Verpflichtung Afghanistans diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsführung Afghanistans und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung.

Gemäß der Verfassung darf niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren festgenommen oder inhaftiert werden. Die Verfassung enthält außerdem ein absolutes Verbot des Einsatzes von Folter. Der Einsatz von Folter stellt nach dem Strafgesetzbuch eine Straftat dar, während die harte Bestrafung von Kindern durch das Jugendgesetz untersagt ist. Darüber hinausverabschiedete das Oberhaus der Nationalversammlung im Januar 2018 den konsolidierten Wortlaut eines neuen Anti-Folter-Gesetzes.

Trotz dieser Rechtsgarantien bestehen Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gegenüber Häftlingen, insbesondere von im Zusammenhang mit dem Konflikt verhafteten Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird und die in Gefängnissen des Inlandsgeheimdienstes (NDS), der afghanischen nationalen Polizei (ANP) (einschließlich der afghanischen nationalen Grenzpolizei ANBP), der afghanischen nationalen Streitkräfte (ANA) und der afghanischen lokalen Polizei (ALP) inhaftiert sind. UNAMA berichtete 2017, dass in vom Inlandsgeheimdienst (NDS) betriebenen Gefängnissen in fünf Provinzen „systematisch oder regelmäßig und weitverbreitet“ gefoltert wird und dass „ausreichend glaubhaften und verlässlichen Berichten zufolge in 17 anderen Provinz- oder staatlichen Einrichtungen des Inlandsgeheimdienstes gefoltert wird“. UNAMA dokumentierte außerdem „systematische Folterung und Misshandlung” in Haftanstalten der afghanischen nationalen Polizei (ANP) oder der afghanischen nationalen Grenzpolizei (ANBP) in den Provinzen Kandahar und Nangarhar sowie „Berichte über Verstöße in 20 anderen Provinzen, wobei die Behandlung von Häftlingen durch die ANP in den Provinzen Farah und Herat” besondere Sorge bereitet. Unter den Inhaftierten, bei denen die Anwendung von Folter festgestellt wurde, befanden sich auch Kinder.

UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren der folgenden Risikoprofile entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen:

(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;

(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;

(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung;

(4) Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden;

(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen haben;

(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen haben;

(7) Frauen mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;

(8) Frauen und Männer, die angeblich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen haben;

(9) Personen mit Behinderungen, insbesondere geistigen Beeinträchtigungen, und Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden;

(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;

(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;

(12) Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität;

(13) Angehörige gewisser Volksgruppen, insbesondere ethnischer Minderheiten;

(14) An Blutfehden beteiligte Personen, und

(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen (sowie deren Familienangehörige).

Ad 1)

Mitarbeiter humanitärer Hilfs- und Entwicklungsorganisationen

Regierungsfeindliche Kräfte greifen Berichten zufolge Zivilisten an, die Mitarbeiter internationaler oder afghanischer humanitärer Hilfsorganisationen sind, darunter afghanische Staatsbürger, die für Sonderorganisationen der Vereinten Nationen arbeiten, Mitarbeiter internationaler Entwicklungsorganisationen, nationaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie LKW-Fahrer, Bauarbeiter und Personen, die in Bergbau- und anderen Entwicklungsprojekten tätig sind. Personen mit diesen Profilen wurden Berichten zufolge getötet, entführt und eingeschüchtert.

UNHCR ist auf Grundlage der vorangegangenen Analyse der Ansicht, dass für Personen, die mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten, bestehen kann. Zu diesen Personen gehören auch Mitarbeiter von humanitären Hilfs- und Entwicklungsorganisationen.

Ad 3: UNHCR ist der der Ansicht, dass für Männer im wehrfähigen Alter und für Kinder, die in Gebieten leben, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte befinden oder in denen regierungsnahe und regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) und/oder mit dem Islamischen Staat verbundene bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen, – abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles – ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit der allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor dieser von AGEs ausgehenden Verfolgung zu bieten, bestehen kann. Abhängig von den besonderen Umständen des Falles können Männer im wehrfähigen Alter und Kinder, die in Gebieten leben, in denen ALP-Kommandeure eine so mächtige Position innehaben, dass sie Mitglieder der Gemeinschaft in die ALP zwangsrekrutieren können, ebenfalls internationalen Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Gründen benötigen. Auch für Männer im wehrfähigen Alter und Kinder, die sich der Zwangsrekrutierung entweder durch einen staatlichen oder einen nichtstaatlichen Akteur widersetzen, kann aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer (ihnen zugeschriebenen) politischen Überzeugung oder aus anderen relevanten Gründen Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz gegeben sein. Abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles können Angehörige von Männern oder Kindern mit diesem Profil aufgrund ihrer Verbindung mit gefährdeten Personen internationalen Schutz benötigen. Asylanträge von Kindern sollten – einschließlich der Prüfung von Ausschlussgründen bei ehemaligen Kindersoldaten – sorgfältig und gemäß den UNHCR-Richtlinien für Asylanträge von Kindern geprüft werden. Wenn Kinder, die mit bewaffneten Gruppen in Verbindung standen, einer Straftat bezichtigt werden, sollte berücksichtigt werden, dass diese Kinder Opfer von Verstößen gegen internationales Recht und nicht nur Täter sein können.

Provinz Laghman:

Laghman liegt im Osten Afghanistans und grenzt im Norden an die Provinzen Panjshir und Nuristan, im Osten an Kunar, im Süden an Nangarhar und im Westen an Kabul und Kapisa. Die Provinzhauptstadt ist Mehtarlam. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Laghman im Zeitraum 2020/21 auf 493.488 Personen. Die Bevölkerungsmehrheit in der Provinz stellen die Paschtunen, weitere Bewohner gehören tadschikischen und paschaiischen Stämmen an (LIB, Kapitel 5.20.).

Die Fernstraße Kabul-Jalalabad (ein Abschnitt der Asiatischen Fernstraße AH-1) führt durch den Distrikt Qarghayi. Es gibt Berichte, dass entlang der Fernstraße Kabul-Jalalabad Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte attackieren (LIB, Kapitel 5.20.).

Die Taliban sind in Laghman aktiv. Laghman galt, gemeinsam mit anderen Provinzen, als eine der Hochburgen des ISKP. Der ISKP wurde nach Kämpfen mit den Taliban aus dem Osten der Provinz vertrieben wurde nach den Militärschlägen im Winter 2019/Frühling 2020 für offiziell besiegt erklärt. Im März 2020 hat sich der ISKP in der Provinz Laghman ergeben, nachdem er von Regierungstruppen und den Taliban eingekesselt wurde. Dennoch gibt es weiterhin Berichte über eine Präsenz des ISKP in Laghman. Auch die pakistanische Terrorgruppe Lashkar-e Taiba (LeT) hat eine kleine Präsenz in Laghman. Auf Regierungsseite befindet sich Laghman im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (LIB, Kapitel 5.20.).

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 282 zivile Opfer (80 Tote und 202 Verletzte) in der Provinz Laghman. Die Hauptursachen für Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und Selbstmordangriffen. Laghman hat einen hohen Wert bezüglich ziviler Opfer im Verhältnis zur Bevölkerung. Im Oktober 2018 und im Jänner 2019 wurde die Provinz Laghman als eine relativ ruhige Provinz beschrieben. Im August 2020 wird von vermehrten Beschwerden über Unsicherheit aus der Bevölkerung berichtet. In der Provinz werden Sicherheitsoperationen und Luftschläge durch afghanische Sicherheitskräfte durchgeführt (LIB, Kapitel 5.20.).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde weiters durch Abhaltung der mündlichen Verhandlung vom 16.04.2021 und in die im Beschwerdeverfahrens ergänzend vorgelegten Beweismittel. Diese sind allen Verfahrensparteien bekannt.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, Familienstand, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit des BF, ferner zu seinen Sprachkenntnissen, seiner Schulbildung und Berufserfahrung beruhen auf seinen plausiblen, im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben. Die Identität des BF erscheint unbedenklich. Sein aktueller Wohnort ergibt sich aus dem zentralen Melderegister der Republik Österreich. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem österreichischen Strafregister. Dass der BF gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich aus seinem Vorbringen, zuletzt in der mündlichen Verhandlung.

Was den vom BF geltend gemachten Fluchtgrund betrifft, so ist aus seinen Vorbringen abzuleiten, dass der Ehemann seiner Tante den BF lieber als Talibankämpfer gesehen hätte, und seinen nach Schulabschluss eingeschlagenen beruflichen Werdegang nicht gutgeheißen hat. Es ist weiter davon auszugehen, dass der Ehemann der Tante des BF innerhalb der Familie Streitgespräche vom Zaun gebrochen hat und dabei auch anlassbezogen (aus der Luft gegriffene) Verdächtigungen und als Folge dessen Drohungen gegen den BF ausgesprochen hat. Es war davon auszugehen, dass der Vater des BF um diesen besorgt war und ihn vor einer Eskalation solcher Steitgespräche bewahren wollte. Dass der Ehemann der Tante seither gezielt den Plan verfolgen würde, den BF auszuforschen und töten zu lassen, ist aus den Schilderungen des BF aber nicht konkret abzuleiten. Der BF- er steht nach wie vor in Kontakt mit seiner Familie – hat diesbezüglich keine aktuellen Wahrnehmungen genannt. Aus den Schilderungen des BF ist auch nicht abzuleiten, dass der Ehemann seiner Tante ihn mit Gewalt zur Mitarbeit bei den Taliban gezwungen hätte oder derartiges je angedroht hätte.

Soweit der BF vorbrachte, er sei Mitarbeiter einer Hilfsorganisation war, sind ihm seine diesbezüglichen Aussagen zu glauben: Der BF konnte seine dort verrichtete Arbeit in der mündlichen Verhandlung vom 16.4.2021 nachvollziehbar darlegen. Seine diesbezüglichen Aussagen stehen mit den in erster Instanz gemachten Vorbringen im Einklang. Gleichzeitig haben die diesbezüglichen Aussagen des BF ergeben, dass er innerhalb der Hilfsorganisation im operativen Bereich eingesetzt wurde, also keine exponierte Position eingenommen hat. Dass es konkrete Hinweise auf gegen die Hilfsorganisation geplante Angriffe vorgelegen wären, hat der BF nicht vorgebracht.

Betreffend die Integration des BF in Österreich wurden dessen Angaben im Verfahren sowie die vorgelegten Unterlagen den Feststellungen zugrunde gelegt. Diese wurden einleitend unter Punkt I.,Verfahrensgang, bereits näher aufgelistet.

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

Zur Frage der Asylberechtigung:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256). Die Voraussetzung der "wohlbegründeten Furcht" vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265). Die entfernte Möglichkeit einer solchen Verfolgung reicht für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).

Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).

Abgesehen davon, dass einer derartigen nicht vom Staat sondern von Privatpersonen ausgehenden Bedrohung nur dann Asylrelevanz zuzubilligen wäre, wenn solche Übergriffe von staatlichen Stellen geduldet würden (VwGH 11.06.1997, 95/01/0617; 10.03.1993, 92/01/1090) bzw. wenn der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt wäre, diese Verfolgung hintanzuhalten, hat der Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang ausdrücklich klargestellt, dass die Asylgewährung für den Fall einer solchen Bedrohung nur dann in Betracht kommt, wenn diese von Privatpersonen ausgehende Verfolgung auf Konventionsgründe zurückzuführen ist (vgl. VwGH 30.06.2005, 2002/20/0205; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551-6, VwGH-Beschluss 29.06.2006, 2002/20/0167-7).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe Dritter präventiv zu schützen (VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191). Für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht - unter dem Fehlen einer solchen ist nicht "zu verstehen, dass die mangelnde Schutzfähigkeit zur Voraussetzung hat, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht" (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256) -, kommt es darauf an, ob jemand, der von dritter Seite (aus den in der GFK genannten Gründen) verfolgt wird, trotz staatlichem Schutz einen - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteil aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 im Anschluss an Goodwin-Gill, The Refugee in International Law2 [1996] 73; weiters VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 m.w.N.; 20.09.2004, 2001/20/0430; 17.10.2006, 2006/20/0120; 13.11.2008, 2006/01/0191). Für einen Verfolgten macht es nämlich keinen Unterschied, ob er auf Grund staatlicher Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ob ihm dieser Nachteil mit derselben Wahrscheinlichkeit auf Grund einer Verfolgung droht, die von anderen ausgeht und die vom Staat nicht ausreichend verhindert werden kann. In diesem Sinne ist die oben verwendete Formulierung zu verstehen, dass der Herkunftsstaat "nicht gewillt oder nicht in der Lage" sei, Schutz zu gewähren (VwGH 26.02.2002, 99/20/0509). In beiden Fällen ist es dem Verfolgten nicht möglich bzw. im Hinblick auf seine wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256; VwGH 13.11.2008, 2006/01/0191).

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

In seinen Erkenntnissen 2019/14/0566 vom 27.05.2020 und 2019/14/0443 vom 6.4.2020 hat der Verwaltungsgerichtshof bezogen auf gegen eine Asylgewährung erhobene Amtsrevisionen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ausgesprochen, dass ausgehend von den Länderberichten bezogen auf eine Person, die kein „high value target“ bilde, eine Auseinandersetzung mit der Frage zu erfolgen habe, ob diese Person insbesondere in Gebieten die nicht der Kontrolle der Taliban unterstehen über Jahre hinweg wegen der Weigerung, sich den Taliban anzuschließen, gesucht und gefunden werden würde. Eine derartige Annahme bedürfe einer nachvollziehbaren Begründung im Einzelfall. Der bloße Hinweis auf ein „landesweites Netz der Taliban“ überzeuge nicht.

Zur Frage einer bloß befürchteten Zwangsrekrutierung durch eine Rebellengruppe - fallbezogen der Taliban - führte der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 15.03.2016, Ra 2015/01/0069 unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung aus, dass einer (versuchten) Zwangsrekrutierung dann Asylrelevanz zukommt, wenn aus der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, eine tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung abgeleitet wird, an die eine Verfolgung anknüpft. Entscheidend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei daher, mit welchen Reaktionen der Taliban der Asylwerber aufgrund seiner Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, rechnen müsse und ob in seinem Verhalten eine - wenn auch nur unterstellte - politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt werde. Der Verwaltungsgerichtshof betonte dazu weiter, dass vor dem Hintergrund der im Asylverfahren bestehenden Beweislastverteilung, die lediglich die Glaubhaftmachung einer Verfolgung [im Falle der Rückkehr] verlange, das Vorbringen des Asylwerbers insoweit eine entsprechende Konkretisierung aufweisen müsse, um die Voraussetzung der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit zu erfüllen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (vgl. VwGH, 13.10.2015, Ra 2014/01/0243, mwN).

Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich daraus:

Der BF hat vor seiner Ausreise aus Afghanistan für eine Hilfsorganisation gearbeitet. Er hat dort eine operative Funktion bekleidet und war in dieser Eigenschaft latent gefährdet. Eine aktuelle asylrelevante Gefahr der Verfolgung kann aus den festgestellten Umständen des Einzelfalls unter Berücksichtigung der ständigen höchstgerichtlichen Judikatur allerdings nicht abgeleitet werden: Der BF bildet in seiner Eigenschaft als ehemals im operativen Bereich einer Hilfsorganisation tätige Person aktuell kein „high value target“. Es ist daher davon auszugehen, dass der BF insbesondere in Gebieten die nicht der Kontrolle der Taliban unterstehen nach Jahren nicht mehr gesucht und verfolgt werden würde. Der bloße Hinweis auf ein „landesweites Netz der Taliban“ reicht zur Begründung einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr nicht aus. Ferner ergaben sich im Beschwerdeverfahren keine konkreten Hinweise auf einen aktuelle asylrelevante Verfolgungsgefahr durch den angeheirateten Onkel des BF. Die entfernte Möglichkeit einer - trotz Fehlens von konkreten Anhaltspunkten – bis heute währenden diesbezüglichen Verfolgungsgefahr reicht im vorliegenden Gesamtzusammenhang für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus.

Es ergaben sich ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass der BF im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan der konkreten Gefahr einer Zwangsrekrutierung ausgesetzt sein würde.

Auch daraus, dass der BF sich in Österreich gut eingelebt hat und die hier gängige "westlichen" Lebenseinstellung angenommen hat, kann keine konkret und gezielt gegen den BF als Person aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität abgeleitet werden, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte. Die entfernte Möglichkeit einer solchen Verfolgung reicht für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).

Die Beschwerde war daher, soweit sie sich gegen Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides richtet, als unbegründet abzuweisen.

Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides; zur Frage des Anspruches auf subsidiären Schutz:

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 3 und 6 AsylG ist der Asylantrag bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Daraus und aus mehreren anderen Vorschriften (§ 2 Abs. 1 Z 13, § 10 Abs. 1 Z 2, § 27 Abs. 2 und 4 und § 57 Abs. 11 Z 3 AsylG) ergibt sich, dass dann, wenn dem Asylwerber kein subsidiärer Schutz gewährt wird, sein Asylantrag auch in dieser Beziehung förmlich abzuweisen ist.

Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt voraus, dass die Abschiebung des Betroffenen in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Herkunftsstaat des Betroffenen mit sich bringen würde.

Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016).

Für die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK setzt die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Einzelfallprüfung voraus. In diesem Zusammenhang sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, ausgeführt hat, reicht es für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Afghanistan nicht aus, bloß auf die allgemeine schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu verweisen. Hinsichtlich der Sicherheitslage geht der Verwaltungsgerichtshof von einer kleinräumigen Betrachtungsweise aus, wobei er trotz der weiterhin als instabil bezeichneten Sicherheitslage eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Mazar-e Sharif, im Hinblick auf die regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt unterschiedliche Sicherheitslage als nicht grundsätzlich ausgeschlossen betrachtet (vgl. VwGH 10.08.2017, Ra 2016/20/0369-11).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen (vgl. VwGH 19.06.2017, Ra 2017/19/0095).

Dem BF steht eine Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Laghman nicht offen, da ihm aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Zur Frage einer innerstaatlichen Schutzalternative:

Selbst wenn einem Antragsteller in seiner Herkunftsregion eine Art. 3 EMRK-widrige Situation drohen sollte, ist seine Rückführung dennoch möglich, wenn ihm in einem anderen Landesteil seines Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) zur Verfügung steht (§ 8 Abs. 3 AsylG). Dies ist gemäß § 11 Abs. 1 AsylG dann der Fall, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann (Prüfung der konkreten Lebensumstände am Zielort). Für die Frage der Zumutbarkeit (im engeren Sinn) muss daher ein geringerer Maßstab als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes als maßgeblich angesehen werden (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, 2016, § 11 AsylG, K15).

Für die Prüfung einer innerstaatlichen Schutzalternative ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Schutzalternative ins Auge gefassten Gebiet Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben sind. Daher scheidet das ins Auge gefasste Gebiet aus, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen. Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen.

Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, muss es dem Asylwerber möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (VwGH 05.04.2018, Ra 2018/19/0154 mit Verweis auf VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.

Bei Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.

In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keine Lebensmittelknappheit. In Maza

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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