Entscheidungsdatum
15.06.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W265 2212790-1/16E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 12.12.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I., II. und III. gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Z 1 und 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG wird der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt IV. stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
III. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
IV. Die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheids werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein damals noch minderjähriger männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 13.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag erfolgte durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er Hazara und schiitischer Moslem sei und im Ort XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Ghazni geboren sei. Er habe fünf Jahre die Grundschule besucht und als Hilfsarbeiter gearbeitet. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter lebe mit seiner Schwester in Afghanistan.
2. Der Beschwerdeführer wurde am 17.07.2018 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Zu seinen persönlichen Verhältnissen gab er dabei ergänzend an, er habe mit seiner Familie in einem Lehmhaus gelebt. Seine Mutter und seine Schwester würden jetzt bei seinem Onkel mütterlicherseits in einem anderen Dorf, namens XXXX , leben. Sein Onkel sei Bauer. Er habe eine Tante väterlicherseits und drei Tanten mütterlicherseits im Distrikt XXXX , zu diesen habe er jedoch keinen Kontakt. Sonst habe er keine Verwandten in Afghanistan. Er sei drei Monate Hilfsarbeiter bei einem Tischler in XXXX gewesen.
Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, dass er in Afhanistan keine Sicherheit habe. Als er in der Tischlerei gearbeitet habe, habe er immer nach Ghazni reisen sollen, um dort Holz zu holen. Diese Strecke sei jedoch sehr gefährlich. Die Taliban würden Hazara auf dem Weg aufhalten und würden auch immer wieder Hazara töten. Deshalb habe er nicht mehr in der Tischlerei arbeiten können. Die Taliban hätten auch Anschläge verübt. Zweimal seien Bomben in seinem Heimatdorf explodiert und die Polizei habe nichts unternommen. Von seiner Familie sei niemand getötet worden, aber andere Dorfbewohner. Er sei nach der Arbeit in der Tischlerei zu seinem Onkel mütterlicherseits, in den Iran gereist und habe dort drei Monate auf einer Baustelle gearbeitet. Die Gefahr in Afghanistan bestehe immer noch.
3. Der Beschwerdeführer gab mit Eingabe vom 25.07.2018, durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen und zur Asylrelevanz des Vorbringens ab. Dazu führte er im Wesentlichen aus, dass die von der belangten Behörde vorgebrachten Länderinformationen sehr allgemein gehalten, teilweise veraltet seien und darin wesentliche fallspezifische Informationen fehlen würden. Zur Schutzfähigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden, zur Situation von Hazara, zu der Verfolgung durch die Taliban sowie Berichte zur besonders vulnerablen Personengruppe der Kinder seien keine detaillierten Informationen enthalten. Die Sicherheitslage in Ghazni sei volatil. Die aktuellen Länderinformationen würden zeigen, dass gerade schiitische Muslime immer wieder das Ziel von gewaltsamen Angriffen seien. Die Sicherheitslage habe sich in ganz Afghanistan verschlechtert. Laut einem aktuellen Bericht wachse die Anzahl und der Einflussbereich von antiregierungsfeindlichen Elementen in Afghanistan stetig stärker an. In Bezug auf eine mögliche Neuansiedelung könne derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass eine solche in den Großstädten zumutbar wäre. Der EASO-Bericht „Country of Origin Information Report. Afghanistan: Key socio-economic indicators, state protection and mobility in Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City“ vom August 2017 zeige, dass in allen drei Städten eine sehr angespannte Arbeitsmarktsituation herrsche. Für Rückkehrer sei außerdem die lebensnotwendige medizinische Grundversorgung nicht gesichert. Selbst wenn Rückkehrende Familie in Afghanistan hätten, könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese auch bereit sind, Schutz und Unterstützung zu bieten. Der Beschwerdeführer sei, aufgrund seiner Minderjährigkeit, seiner Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Hazara, seines schiitischen Glaubens und seines fehlenden familiären Netzwerkes besonders vulnerabel.
4. Der Beschwerdeführer gab mit Eingabe vom 05.12.2018, durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung eine ergänzende Stellungnahme zu weiteren vorgelegten Länderinformationen ab. Er führte dazu wieder aus, dass die Länderinformationen unvollständig seien und wesentliche fallspezifische Informationen fehlen würden.
5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 12.12.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
6. Der Beschwerdeführer erhob mit Schriftsatz vom 09.01.2019 durch seine damalige bevollmächtigte Vertretung, die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe nicht wissen können, wie genau er sein Fluchtvorbringen erstatten hätte müssen und die Behörde hätte diesbezüglich genauer nachfragen müssen. Es könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr Unterstützung von seiner Familie erhalten könne. Die Kernfamilie bestehe nur aus der Mutter und Schwester und diese würden selbst Unterstützung durch Verwandte benötigen. Der Beschwerdeführer habe keine weiteren Verwandten außerhalb von Ghazni. Die belangte Behörde habe auch besondere Manuduktions- und Sorgfaltspflichten verletzt, da sie die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers während der Einvernahme nicht berücksichtigt habe. Die belangte Behörde habe auch die Ermittlungen bezüglich einer innerstaatlichen Fluchtalternative mangelhaft durchgeführt. Des Weiteren sei die Beweiswürdigung mangelhaft. Es sei kein gesteigertes Vorbringen zu erkennen, der Beschwerdeführer habe erst in der Einvernahme die Möglichkeit gehabt, detailliert den fluchtrelevanten Sachverhalt darzustellen. Außerdem wäre der Beschwerdeführer einer realen Gefahr ausgesetzt, Opfer von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu werden und das Recht auf Privat- und Familienleben ungenügend berücksichtigt. Es wurde zudem die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
7. Die belangte Behörde legte die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 09.01.2019 vor, wo es am 11.01.2019 in der Gerichtsabteilung W167 einlangte (vgl. OZ 1).
8. Aufgrund der Volljährigkeit des Beschwerdeführers wurde diesem am 16.05.2019 ein Rechtsberater des Vereins für Menschenrechte Österreich zur Seite gestellt (vgl. OZ 2).
9. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W167 abgenommen und der Gerichtsabteilung W265 neu zugeteilt, wo sie am 03.02.2021 einlangte (vgl. OZ 3).
10. Mit Eingabe vom 23.04.2021 gab der Beschwerdeführer die Vollmacht der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH bekannt. Zudem gab der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme ab und legte weitere Integrationsunterlagen vor. In der Stellungnahme führte er im Wesentlichen aus, dass sich der Beschwerdeführer seit mehr als fünf Jahren in Österreich befinde, sozial sehr aktiv sei und einen großen Freundeskreis mit österreichischen Freunden habe. Er habe vor Corona im Verein Fußball gespielt. Außerdem spreche er sehr gut Deutsch, auf dem B2-Niveau. Er verfüge bereits über eine Zusage zur Ausbildung als Einzelhandelskaufmann, im Falle einer positiven Entscheidung. Schließlich sei er mit 14 Jahren nach Österreich gekommen und habe wesentliche Jahre der Sozialisierung hier in Österreich erfahren und deshalb eine starke Bindung zu Österreich. Im Falle einer Rückkehr wäre er auf sich alleine gestellt. Er habe keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte. Seine Mutter und seine Schwester würden bei seinem Onkel leben und von diesem auch unterstützt werden und sein Onkel erwarte, dass er das Geld für die Flucht zurückzahle. Jedenfalls sei sein Onkel weder in der Lage, noch gewillt, ihn, im Falle der Rückkehr, finanziell zu unterstützen. Des Weiteren seien die Auswirkungen der Pandemie auf Afghanistan zu berücksichtigen. Dem Beschwerdeführer stehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da er in Afghanistan kein Leben ohne unbillige Härte führen könnte. (vgl. OZ 6)
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 19.05.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen, der Situation im Falle seiner Rückkehr und zu seiner Person und derzeitigen Situation in Österreich befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit einer Stellungnahme ein.
12. Mit Eingabe vom 26.05.2021 legte der Beschwerdeführer einen weiteren Integrationsnachweis vor (vgl. OZ 14).
13. Mit Eingabe vom 07.06.2021 legte der Beschwerdeführer einen weiteren Integrationsnachweis vor (vgl. OZ 15).
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er wurde im Ort XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Ghazni am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und wuchs als schiitischer Muslim auf. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi und Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Sein Vater hieß XXXX , er ist vor ca. 11 Jahren verstorben. Seine Mutter heißt XXXX , ihr Alter ist unbekannt. Er hat eine Schwester, XXXX , sie ist ca. 21 Jahre alt.
Der Beschwerdeführer lebte mit seiner Familie in seinem Heimatdorf, bis zu seiner Ausreise in den Iran und später, 2016, nach Europa. Der Beschwerdeführer besuchte in seinem Heimatdorf fünf Jahre die Grundschule und eine Koranschule. Danach arbeitete er für drei Monate als Hilfsarbeiter in einer Tischlerei in seinem Heimatdorf und für drei Monate auf einer Baustelle im Iran.
Seine Mutter und seine Schwester leben bei seinem Onkel mütterlicherseits im gleichen Heimatdistrikt, in einem anderen Dorf, namens XXXX . Er hat Kontakt zu seiner Familie. Des Weiteren hat er eine Tante väterlicherseits und drei Tanten mütterlicherseits, die im Distrikt XXXX leben. Er hat keinen Kontakt zu diesen.
Am 13.01.2016 stellte er den Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen jungen gesunden Mann im arbeitsfähigen Alter, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
1.2.1. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer persönlich bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr physischer und /oder psychischer Gewalt durch die Taliban, droht.
Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls die Möglichkeit in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und zu leben.
1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Hazara und zu der Religionsgemeinschaft der Schiiten individuell und konkret weder physische noch psychische Gewalt.
1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und ist seit seiner Antragstellung am 13.01.2016 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Er bezieht seit seiner Antragstellung Leistungen aus der Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse besucht und konnte bereits das Sprachzertifikat auf dem Niveau B2 in Deutsch erwerben. Im Schuljahr 2015/16 besuchte er die Polytechnische Schule XXXX . Im Jahr 2018 absolvierte er die Übergangsklasse des BORG XXXX . Im Jahr 2019 absolvierte er den Pflichtschulabschluss in der XXXX .
Er war ab dem Jahr 2016 immer wieder ehrenamtlich für die Gemeinde XXXX tätig. Im Semester 2016/17 besuchte er die Volkshochschule XXXX . Von September bis November 2016 nahm er am Werteworkshop XXXX der XXXX teil. Im Jahr 2017 nahm er an dem sexualpädagogischen Workshop XXXX der XXXX und an verschiedenen Workshops der Volkshochschule XXXX teil und absolvierte im Rahmen des Finanzführerscheins das Modul XXXX der XXXX . In den Jahren 2017 und 2018 besuchte er die Sommerschule der Volkshochschule XXXX . Für die ÖIF Integrationsprüfung auf A2-Niveau hat sich der Beschwerdeführer bereits angemeldet und wird diese am 18.06.2021 absolvieren.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über soziale Kontakte, hat Freunde und ist in die österreichische Gesellschaft integriert. In seiner Freizeit spielt er gerne Volleyball, geht laufen und spazieren. Er war Mitglied in der Volleyballgemeinschaft XXXX und beim XXXX . Familienangehörige hat der Beschwerdeführer in Österreich nicht.
Er wird von seinen Vertrauenspersonen als gut integriert, tüchtig, aufgeweckt, interessiert, höflich, wissbegierig, intelligent, reflektiert, witzig, charmant, hilfsbereit, ruhig, pünktlich, verlässlich, ehrgeizig, fröhlich, herzlich, engagiert, zuverlässig, gewissenhaft, sympathisch, bemüht, strebsam und energisch beschrieben.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsort XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Ghazni, aufgrund der relativ volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. (siehe die folgenden Feststellungen unter 1.5.10.1.).
Dem Beschwerdeführer steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm, auch unter Berücksichtigung der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie, möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen zu können. Die Gefahr in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten besteht sohin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.
Der Beschwerdeführer ist jung, gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Aufgrund der Covid-19-Pandemie stehen diese derzeit zwar nur sehr eingeschränkt zur Verfügung, es besteht aber zusätzlich die Möglichkeit, dass ihm seine Familienmitglieder in Afghanistan – zumindest zu Beginn als Starthilfe und in geringem Umfang – finanzielle Unterstützung zukommen lassen. Er hat einen Onkel mütterlicherseits, bei dem auch seine Mutter und Schwester leben, der ihn zumindest anfänglich unterstützen könnte. Dieser hat ihn auch vor der Ausreise unterstützt und ihm auch die Reise nach Europa finanziert. Die finanzielle Situation seines Onkels mütterlicherseits stellt sich auch in Afghanistan als gut dar, dieser ist Bauer und besitzt Grundstücke.
Die Covid-19-Pandemie stellt für den Beschwerdeführer kein Hindernis dar. Der Beschwerdeführer ist körperlich gesund und jung. Er hat keine einschlägigen Vorerkrankungen und gehört daher auch keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan geboren, hat dort fünf Jahre die Schule besucht und drei Monate als Hilfsarbeiter gearbeitet, ihm sind die kulturellen und sozialen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut und er spricht einer der in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) als Muttersprache. In Österreich hat er sowohl Schulbildung erhalten als auch verschiedenste gemeinnützige Tätigkeiten geleistet, welche er bei einem Leben in Mazar-e Sharif nutzen wird können.
Der Beschwerdeführer kann Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Fassung vom 01.04.2021 (LIB)
- UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)
- EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)
- Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 10.06.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 10.06.2021 (WHO)
- Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 24.02.2016: Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara); Verhalten der Taliban gegenüber Hazara, die aus dem Iran zurückkehren
- ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 02.08.2016: Lage der Hazara
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).
Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).
In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).
1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft
Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).
Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)
1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 23.1).
Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 23.1).
Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (LIB, Kapitel 23.3).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).
Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte (LIB, Kapitel 23.3).
Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 23.3).
Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (LIB, Kapitel 23.3).
Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (LIB, Kapitel 23.2).
Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (LIB, Kapitel 23.2).
Afghanistan ist von einem Wohlfahrtsstaat weit entfernt, und Afghanen rechnen in der Regel nicht mit Unterstützung durch öffentliche Behörden. Verschiedene Netzwerke ersetzen und kompensieren den schwachen staatlichen Apparat. Das gilt besonders für ländliche Gebiete, wo die Regierung in einigen Gebieten völlig abwesend ist (LIB, Kapitel 23.5).
Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch (LIB, Kapitel 23.5).
Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt (LIB, Kapitel 23.5).
Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 23.6).
1.5.3. Medizinische Versorgung
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20 (LIB, Kapitel 24).
Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (LIB, Kapitel 24).
Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan, und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (LIB, Kapitel 24)
90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt, Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund zehn Mio. Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (LIB, Kapitel 24).
Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (LIB, Kapitel 24).
Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden, was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (LIB, Kapitel 24).
Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste. Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt. Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (LIB, Kapitel 24).
Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar, und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (LIB, Kapitel 24.1).
Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals sowie Sicherheitsgründe (LIB, Kapitel 24.1).
Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe. In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich (LIB, Kapitel 24.1).
Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essenziellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht (LIB, Kapitel 24.2)
Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall. Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert (LIB, Kapitel 24.1).
Afghanistan bleibt trotz deutlicher Verbesserungen in den letzten Jahren einer der gefährlichsten Orte der Welt, um zu gebären, mit der dritthöchsten Sterblichkeitsrate weltweit. Geburten finden zunehmend in medizinischen Einrichtungen oder unter der Obhut von geschultem medizinischem Personal statt, und auch die postnatale Betreuung hat zugenommen. Während die Mehrheit der Frauen in städtischen Gebieten bei der Geburt von geschultem Personal betreut wird, gilt dies in ländlichen Gebieten noch für weniger als die Hälfte aller Geburten (LIB, Kapitel 24.2).
Das Zusammenwirken von Krieg, Armut, häuslicher Gewalt und sozialer Marginalisierung führt dazu, dass Frauen überproportional von psychischen Problemen und psychosozialen Behinderungen betroffen sind. Dort, wo Dienste verfügbar sind, führen kulturelle Barrieren, Stigmatisierung und die begrenzte Anzahl weiblicher Anbieter psychischer Gesundheit häufig dazu, dass Frauen vom Zugang zu geeigneten Diensten ausgeschlossen sind. Frauen sind auch beim Zugang zur Gesundheitsversorgung mit spezifischen Problemen konfrontiert, darunter beispielsweise einem geringen Wissen über Gesundheitsprobleme, einer niedrigen Alphabetisierungsrate, Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit und einem beschränkten Zugang zu finanziellen Mitteln. Verbote von medizinischen Untersuchungen von Patientinnen durch männliches medizinisches Personal wirken sich aufgrund des niedrigeren Anteils von Frauen in medizinischen Berufen negativ auf den Zugang von Frauen zu medizinischen Leistungen aus. Gemäß afghanischen Gesellschaftsnormen sollten Frauen von Ärztinnen untersucht werden. Es kommt somit zu Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung von Frauen, wenn keine Ärztinnen verfügbar sind. Manche Frauen konsultieren in den Dörfern oder Distrikten allerdings unter Umständen auch Ärzte. Einschränkungen bei der Bewegungsfreiheit wirken sich auch auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus: In Gebieten unter Talibankontrolle ist es für Frauen manchmal nicht möglich, zum Arzt zu gelangen (LIB, Kapitel 24.2).
Afghanistan gehört zu den wenigen Ländern, in welchen die Selbstmordrate von Frauen höher ist als die von Männern. Die weite Verbreitung psychischer Erkrankungen unter Frauen wird von Experten mit den rigiden kulturellen Einschränkungen, welchen Frauen unterworfen sind und welche ihr Leben weitgehend auf das eigene Heim beschränken, in Verbindung gebracht (LIB, Kapitel 24.2).
Viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig. Gemäß der „Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023“ erhalten weniger als 10% der Bevölkerung die für die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen erforderlichen medizinischen Leistungen, und nur ein psychosozialer Berater steht für je 46.000 Menschen zur Verfügung. Da es kaum Anzeichen für eine Einstellung der Feindseligkeiten oder einen dauerhaften humanitären Waffenstillstand im Jahr 2021 gibt, wird geschätzt, dass bis zu 310.500 Traumafälle aufgrund des anhaltenden und eskalierenden Konflikts eine medizinische Notfallbehandlung benötigen (LIB, Kapitel 24.3).
Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung oder psychosozialer Unterstützung bleibt für viele unerreichbar, insbesondere in ländlichen Gebieten. Obwohl psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützungsdienste (Mental Health and Psychosocial Support Services, MHPSS) in das nationale Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Hospital Services (EPHS) integriert wurden, stehen landesweit nur 320 Krankenhausbetten im öffentlichen und privaten Sektor für Menschen mit psychischen Problemen zur Verfügung (LIB, Kapitel 24.3).
In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden - genauso wie Kranke und Alte - gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig (LIB, Kapitel 24.3)
Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (LIB, Kapitel 24.3).
Die Internationale Psycho-Soziale Organisation (IPSO) bietet Menschen in Kabul Beratungsdienste zu psychosozialen und psychischen Gesundheitsfragen an, und Peace of Mind Afghanistan ist eine nationale Kampagne zur Sensibilisierung für psychische Gesundheit, die Botschaften und Instrumente zum psychischen Wohlbefinden verbreitet (LIB, Kapitel 24.3).
In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten:
Mazar-e Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital), die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazar-e Sharif existieren z.B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 24.3).
1.5.4. Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen. Daon sind ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 19).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 19.3)
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara – an. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel 19.3.).
Lage der Hazara
Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) berichtet in ihrem Jahresbericht 2015 vom Februar 2016, dass es im Jahr 2015 einen starken Anstieg an Entführungen und Tötungen von ZivilistInnen, die den Hazara angehören, durch regierungsfeindliche Kräfte gegeben habe. Im Jahr 2015 habe es mindestens 146 Entführungen von Hazara in 20 verschiedenen Zwischenfällen gegeben. Alle bis auf einen Zwischenfall hätten in Gebieten mit gemischter Bevölkerung, in denen sowohl Hazara als auch andere Volksgruppen leben würden, stattgefunden. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können, 13 seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden und zwei weitere in der Gefangenschaft verstorben. UNAMA könne den Verbleib der restlichen Geiseln nicht verifizieren. Zu den Motiven für die Entführungen würden Lösegelderpressung, Gefangenenaustausch, der Verdacht, dass die Geiseln Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte sein könnten, oder die Weigerung, illegale Steuern zu bezahlen, gehören. UNAMA führt als Beispiel einen Vorfall vom 23. Februar 2015 an, bei dem 30 Hazara aus zwei öffentlichen Bussen im Bezirk Shajoy in der Provinz Zabul enführt worden seien. Drei der entführten Personen seien getötet worden, zwei weitere seien in Gefangenschaft verstorben. Zwischen Mai und August 2015 seien die anderen Geiseln freigelassen worden, Berichten zufolge im Austausch für eine von der Regierung festgehaltene Gruppe von Gefangenen.
Als weiteres Beispiel nennt UNAMA die Entführung von sieben Hazara, darunter zwei Frauen, zwei Burschen und ein Mädchen, durch regierungsfeindliche Kräfte am 13. Oktober 2015. Die Entführung habe sich auf der Schnellstraße zwischen Kabul und Kandahar auf dem Weg in den Bezirk Jaghuri in der Provinz Ghazni ereignet. Zwischen 6. und 8. November 2015 hätten die Entführer alle sieben ZivilistInnen getötet, in Folge sei es zu Demonstrationen in Kabul gekommen, bei denen ein besserer Schutz für die Gemeinschaft der Hazara gefordert worden sei. (UNAMA, Februar 2016, S. 49-50)
Auch die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erwähnt in ihrem World Report vom Jänner 2016, dass es im Jahr 2015 einen Anstieg von Entführungen und Geiselnahmen von ZivilistInnen durch aufständische Gruppen gegeben habe, darunter auch zwei Vorfälle in der Provinz Zabul, nämlich die Entführung und Tötung von 7 ZivilistInnen am 9. November und die Entführung von 31 Businsassen am 23 Februar, von denen 19 wieder freigelassen worden seien. In beiden Fällen seien die Opfer offenbar wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Hazara ins Visier genommen worden. (HRW, 27. Jänner 2016)
Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union zur Förderung der praktischen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich, erwähnt in seinem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016 im Kapitel zur Sicherheitslage in der Provinz Wardak den Konflikt zwischen Kuchi-Nomaden und den Hazara angehörenden DorfbewohnerInnen in den beiden Behsud-Bezirken und teilweise in Daymirdad. Der Konflikt reiche mehrere Generationen zurück und drehe sich um den Zugang zu Weideland für die Nomaden. Nach Zusammenstößen in Markaz-i Behsud im Juni 2015 seien zwischen zwei und vier Personen getötet worden, im Juli seien in Daymirdad mehrere Häuser in Brand gesteckt worden. (EASO, Jänner 2016, S. 55)
Die internationale Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) schreibt in einem Artikel vom Dezember 2015, dass es westlich der Stadt Maidan Shahr einen 40 Kilometer langen Abschnitt einer Schnellstraße gebe, der als „Todesstraße“ bekannt sei, da dort Mitglieder der Hazara-Minderheit von Aufständischen getötet würden. Ein Busfahrer berichtet davon, dass er über die Jahre zahlreiche Leichen ohne Kopf an der Straße gesehen habe. Die Menschen seien von den Taliban getötet worden. Nach einer Reihe von Enthauptungen und Entführungen und Befürchtungen vor den wiederauflebenden Taliban und dem Aufstieg der Gruppe Islamischer Staat hätten Tausende in Kabul gegen die unsichere Lage der Hazara demonstriert. (AFP, 5. Dezember 2015)
In einem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2015 thematisiert die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) die Situation von Hazara und beschreibt Maßnahmen gegen Hazara wie folgt:
„Diskriminierung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten sind verbreitet und es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äußert sich in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung. Hazara wurden überdurchschnittlich oft zu Opfern gezielter Ermordungen.“ (SFH, 13. September 2015, S. 18)
Der im April 2016 veröffentlichte Länderbericht des US-Außenministeriums (US Department of State, USDOS) zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr: 2015) hält fest, dass Hazara von fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Inhaftierung betroffen seien. Laut NGOs seien Hazara-Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden als Nicht-Hazara-Beamte. Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, seien eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer hätten Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Im Februar 2015 hätten Aufständische 31 Hazara-