TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/15 W248 2196299-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.06.2021
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Entscheidungsdatum

15.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z2
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W248 2196299-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. NEUBAUER über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.05.2021 zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG idgF als unbegründet abgewiesen.

II.      Die Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen.

III.    In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides aufgehoben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

IV.       XXXX wird gemäß § 55 Abs. 2 und § 54 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

V.       Die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides werden gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1        Verfahrensgang:

XXXX , geb. am XXXX (im Folgenden Beschwerdeführer), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste illegal in die Republik Österreich ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Erstbefragung fand am XXXX und die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: belangte Behörde, BFA) am XXXX statt. Dem Beschwerdeführer wurden die Protokolle rückübersetzt, er erhob keine Einwände und gab an, den Dolmetscher einwandfrei verstanden zu haben.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 27.04.2018, XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte III. bis V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe, wonach er von den Taliban bedroht und verfolgt worden sei und die Taliban ihn gezwungen hätten, Drogen zu verkaufen, nicht habe glaubhaft machen können. Auch aus sonstigen Umständen könne keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung festgestellt werden. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer verfüge über eine 5-jährige Schulbildung und Berufserfahrungen als Schneider, sei wirtschaftlich genügend abgesichert und könne für seinen Unterhalt grundsätzlich sorgen. Es sei nicht zu befürchten, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Er würde auch nicht Gefahr laufen, dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können. Es liege zwar im Fall des Beschwerdeführers eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf seine unmittelbare Heimatprovinz, Baghlan, aber nicht in Bezug auf ganz Afghanistan vor. Er könne eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul in Anspruch nehmen, wo die Sicherheitslage für Zivilisten ausreichend sicher sei. Da Kabul über einen internationalen Flughafen verfüge, könne der Beschwerdeführer Kabul erreichen, ohne einer besonderen Gefährdung ausgesetzt zu sein. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 27.04.2018 zugestellt.

Mit Verfahrensanordnung vom 27.04.2018 wurde dem Beschwerdeführer der XXXX als Rechtsberatung amtswegig zur Seite gestellt.

Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid des BFA mit Schreiben vom 15.05.2018 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Er brachte im Wesentlichen vor, dass sein Vater Kommandant bei der Polizei gewesen sei und von den Taliban getötet worden sei, als der Beschwerdeführer selbst noch ein kleines Kind gewesen sei. Auch nach dem Tod des Vaters sei die Familie nicht in Ruhe gelassen worden. „Sie“ (d.h. die Taliban) hätten gewollt, dass der Beschwerdeführer für sie Drogen verkaufe, was er auch ein paar Mal gemacht habe, da sie gedroht hätten, seine Familie und ihn sonst zu töten. Schließlich habe er dann beschlossen, das Haus nicht mehr zu verlassen, und er habe nicht weiter in die Schule gehen können. Kurz vor seiner Ausreise hätten die Taliban ihn erneut bedroht und verlangt, dass er mit ihnen nach XXXX ziehe, um dort mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das sei der Grund gewesen, warum er dann ausgereist sei. Bei ordnungsgemäßer Würdigung der vorliegenden Beweise und richtiger Einschätzung der vorliegenden Gefährdungslage hätte die belangte Behörde nach Ansicht des Beschwerdeführers zu dem Ergebnis kommen müssen, dass dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen sei. Außerdem verwies der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde auf die in letzter Zeit dramatisch verschlechterte Sicherheitslage in Afghanistan. Auch in der Stadt Kabul, die von der belangten Behörde es innerstaatliche Fluchtalternative genannt werde, sei die Lage so gefährlich, dass eine Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, weshalb dem Beschwerdeführer zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren sei. In diesem Zusammenhang nannte der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde einen Zeitungsartikel der Tageszeitung XXXX vom 22.04.2018 und einen Artikel des Wochenmagazins XXXX vom 21.03.2018. Die belangte Behörde sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan über Angehörige verfüge, von denen er im Fall einer Rückkehr Unterstützung erhalten könnte. Die belangte Behörde habe nicht überprüft, ob die Verwandten des Beschwerdeführers in der Lage und gewillt wären, ihn zu unterstützen. Insofern sei die Ansicht des BFA, dass der Beschwerdeführer Unterstützung von seinem Verwandten erhalten könnte, völlig unbegründet. Schließlich wies der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde auf seine Integration und seine Bemühungen hin, die deutsche Sprache zu erlernen. Er beantragte, ihm den Status eines Asylberechtigten zu zuerkennen, in eventu den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die 1. Instanz zurückzuverweisen, in eventu den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt werde, allenfalls die gegen ihn ausgesprochene Rückkehrentscheidung aufzuheben und auf Dauer für unzulässig zu erklären, in eventu festzustellen, dass seine Abschiebung nach Afghanistan nicht zulässig sei, und jedenfalls eine öffentliche mündliche Verhandlung anzuberaumen, damit er seine Fluchtgründe noch einmal vor unabhängigen Richtern persönlich und unmittelbar schildern und glaubhaft machen könne.

Die Beschwerde und der Behördenakt wurden mit Schreiben vom 22.05.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo der Eingang am 24.05.2018 protokolliert wurde. Die Sache wurde der Gerichtabteilung XXXX zugewiesen. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 12.10.2020 wurde die Rechtssache der Abteilung XXXX abgenommen und der Gerichtabteilung W248 neu zugewiesen.

Mit Schreiben vom 23.03.2021 wurde für den 17.05.2021 eine mündliche Verhandlung am Hauptsitz des Bundesverwaltungsgerichtes anberaumt. Dem Beschwerdeführer wurde mitgeteilt, welche Länderinformationen jedenfalls der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Dem Beschwerdeführer wurde angeboten, diese Länderinformationen bei Bedarf entweder durch schriftliche Übermittlung oder im Wege der Akteneinsicht zu erhalten.

Am 30.03.2021 beauftragte und bevollmächtigte der Beschwerdeführer die XXXX mit seiner Vertretung.

Mit Schreiben vom 14.05.2021 äußerte sich die Vertretung des Beschwerdeführers zum Verfahren und legte Integrationsunterlagen vor.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.05.2021 eine mündliche Verhandlung durch.

Mit Schreiben vom 01.06.2021 wurden vom Beschwerdeführer im Wege seiner Vertretung weitere Integrationsunterlagen vorgelegt. Es handelt sich dabei insbesondere um zwei Einstellungszusagen, eine Bestätigung des Stadtamtes XXXX über ehrenamtliche Tätigkeiten, ein Unterstützungsschreiben und eine Anmeldebestätigung für die ÖIF-Integrationsprüfung Deutsch A2.

Die vom Beschwerdeführer vorgelegten Dokumente wurden dem BFA im Wege des Parteiengehörs übermittelt. Das BFA äußerte sich dazu nicht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

2        Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht mit hinreichender Sicherheit fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1      Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist am XXXX im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz Baghlan, geboren und dort aufgewachsen.

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.

Der Beschwerdeführer ist volljährig, gesund und ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer hat fünf Jahre die Schule in Afghanistan besucht. Er hat in Afghanistan als Schneider gearbeitet. Mit dieser Tätigkeit war es ihm möglich, den Lebensunterhalt für sich zu erwirtschaften.

Der Vater des Beschwerdeführers ist bereits verstorben, als der Beschwerdeführer noch ein Kleinkind war. Der Beschwerdeführer hat neben seiner Mutter noch drei Brüder und eine Schwester. Außerdem verfügt er über 5 Onkel und 3 Tanten väterlicherseits und 5 Onkel und 5 Tanten mütterlicherseits. Diese leben – bis auf einen Onkel, der in Kabul lebt – in der Herkunftsprovinz Baghlan. Ein Bruder des Beschwerdeführers lebt im Iran, die restlichen Geschwister halten sich nach wie vor in Afghanistan auf, wobei zwei Brüder in Baghlan leben und die Schwester in XXXX wohnt. Die Mutter des Beschwerdeführers ist in der Türkei aufhältig.

Die Familie lebte bis zur Ausreise des Beschwerdeführers in einem Mietshaus, das jedoch zwischenzeitig geplündert wurde und dem Beschwerdeführer nicht mehr zur Verfügung steht.

Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten bestens vertraut.

Der Beschwerdeführer steht in regelmäßigem Kontakt mit seiner Schwester und seiner Mutter. Da es sich bei den Brüdern des Beschwerdeführers um Halbbrüder handelt, hat er zu ihnen kein gutes Verhältnis und auch keinen Kontakt.

2.2      Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan nicht aufgrund einer konkreten und individuellen Bedrohung durch die Taliban oder andere Personen. Der Tod des Vaters des Beschwerdeführers ereignete sich bereits viele Jahre vor der Ausreise des Beschwerdeführers und steht mit dieser Ausreise in keinem Zusammenhang.

Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht.

Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Der Beschwerdeführer wurde weder von den Taliban entführt noch festgehalten oder von diesen bedroht. Der Beschwerdeführer wird von den Taliban nicht gesucht.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan exponieren würde.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Tadschiken konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

2.3      Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Oktober 2015 und reiste über Pakistan, den Iran, die Türkei, Griechenland, Kroatien und weitere dem Beschwerdeführer unbekannte Länder schlepperunterstützt nach Österreich, wo er unter Umgehung der Grenzkontrollen einreiste. Er hält sich zumindest seit XXXX durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom XXXX in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich bisher mehrere Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht und die Integrationsprüfung auf dem Niveau A1 abgelegt. Er ist im Jänner 2020 zur Integrationsprüfung A2 angetreten, hat diese jedoch nicht bestanden. Er hat sich bisher für die Gemeinde XXXX , für die Pfarre in XXXX sowie für die Stadtgemeinde XXXX gemeinnützig betätigt, wo er derzeit 22 Stunden pro Monat tätig ist. Außerdem war der Beschwerdeführer bisher für den Physiotherapeuten XXXX XXXX tätig, wofür er mit Dienstleistungsschecks bezahlt wurde. Die Ehegatten XXXX haben in einem Unterstützungsschreiben erklärt, den Beschwerdeführer im Rahmen des Dienstleistungsscheckmodells weiter zu unterstützen. Auch in einem Altersheim hilft der Beschwerdeführer mit, beteiligte sich intensiv an den Aktivitäten und Projekten des Vereins XXXX und besuchte regelmäßig das Weltcafé, einen interkulturellen Treffpunkt in XXXX .

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt bisher nicht integriert und geht keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach. Er konnte allerdings zwei Einstellungszusagen vorlegen, die sich insgesamt zu einer Vollzeitbeschäftigung summieren. Es wird seitens des erkennenden Gerichts davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer, sobald er einen Aufenthaltstitel bekommt, erwerbstätig sein wird und nicht mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen sein wird.

Die Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers gehen mittlerweile über das durch positiv bestandene Prüfungen dokumentierte Niveau A1 deutlich hinaus. In der mündlichen Verhandlung am 17.05.2021 konnte er einen Großteil der Verhandlung ohne Zuhilfenahme der für die Sprache Dari bestellten Dolmetscherin bestreiten, wobei er die ihm gestellten Fragen flüssig beantwortete und auch auf Zwischenfragen spontan und weitgehend grammatikalisch korrekt antworten konnte.

Der Beschwerdeführer konnte in Österreich Freundschaften zu Mitgliedern seiner Gemeinde knüpfen. Der Beschwerdeführer verfügt jedoch weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen, wie Ehefrau oder Kinder in Österreich und hat in Österreich bisher keine Sorgepflichten. Er hatte eine afghanische Freundin, mit der er nach Österreich gekommen ist, doch hat er zu ihr keinen Kontakt mehr.

Der Beschwerdeführer legte Unterstützungsschreiben vor, in denen er als zuverlässig, gewissenhaft, sorgfältig, hilfsbereit, engagiert, ehrlich und in allen Belangen korrekt, liberal, weltoffen und rücksichtsbedacht beschrieben wird.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich bisher strafgerichtlich unbescholten.

2.4      Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in die Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Die Mutter des Beschwerdeführers wohnt derzeit in der Türkei. Die Schwester des Beschwerdeführers lebt in XXXX , zwei Brüder lieben nach wie vor in der Provinz Baghlan, ein Bruder hält sich im Iran auf. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Mutter und zu seiner Schwester, die mit einem Lehrer verheiratet ist und in gesicherten Verhältnissen lebt. Der Beschwerdeführer unterstützt seine Familie derzeit finanziell nicht. Es ist ungewiss, ob die Familie des Beschwerdeführers ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest vorübergehend finanziell unterstützen könnte. Es wird seitens des erkennenden Gerichtes nicht für wahrscheinlich gehalten, dass die Brüder des Beschwerdeführers, bei denen es sich um Halbbrüder handelt, bereit wären, ihn zu unterstützen oder bei sich aufzunehmen.

Der Beschwerdeführer verfügt zudem in Baghlan über zahlreiche Onkel und Tanten, zu denen jedoch derzeit kein Kontakt besteht.

Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der Beschwerdeführer hat keine Ortskenntnisse betreffend die Stadt Herat oder Mazar-e Sharif. Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan noch in keiner Großstadt gelebt, doch verfügt er über eine große Lernfähigkeit und rasche Auffassungsgabe, sodass er sich schnell die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen könnte, um sich in städtische zurechtzufinden.

Der Beschwerdeführer ist anpassungsfähig und gesund und kann einer regelmäßigen, auch körperlich herausfordernden Arbeit nachgehen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

2.5      Zur Lage im Herkunftsstaat

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers getroffen (Schreibfehler teilweise korrigiert):

?        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung vom 01.04.2021

?        UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018

?        EASO Country Guidance Afghanistan - Guidance note and common analysis (December 2020)

?        ACCORD - Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif vom 30.04.2020

?        ACCORD - Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage der Stadt Herat vom 23.04.2020

?        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020

?        ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 27.01.2021

?        OCHA, WHO: Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 96 (6 May 2021)

2.5.1   Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

Am 30. September endete die Finanzierung der afghanischen Lokalpolizei (Afghan Local Police - ALP), der größten und am längsten bestehenden afghanischen lokalen Verteidigungseinheit. Die Truppe hat eine gemischte Bilanz vorzuweisen: Einige Einheiten haben ihre Gemeinden effektiv und entschlossen verteidigt, während andere sich so schlecht verhielten, dass sie Unterstützung für die Taliban hervorriefen. Doch wie auch immer die Bilanz der einzelnen Einheiten ausfällt, die Auflösung der Truppe wird zwangsläufig Auswirkungen auf die Sicherheit haben Der Plan sieht vor, dass ein Drittel der ALP entwaffnet und in den Ruhestand versetzt wird, ein Drittel in die Afghanische Nationalpolizei (ANP) und ein Drittel in die Afghanische Nationale Armee (Afghan National Army Territorial Force - ANA-TF) überführt wird. Die Innen- und Verteidigungsministerien haben nun drei Monate Zeit, um die rund 18.000 bewaffneten Männer zu sortieren, zu versetzen und umzuschulen oder zu entwaffnen und in den Ruhestand zu versetzen, die sich in 31 der 34 Provinzen Afghanistans aufhalten - inmitten eines Krieges und einer immer noch andauernden Pandemie (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

2.5.2   Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel 5).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel 4).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt. Für den Berichtszeitraum 01.01.2020-31.12.2020 verzeichnete UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte). Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu. Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu. In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten. Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 4 und 5).

Die Vereinten Nationen verzeichneten zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.02.2021 7.138 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 46,7 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 und im Gegensatz zu den traditionell niedrigeren Zahlen während der Wintersaison. Die etablierten Trends der Art der Vorfälle blieben unverändert, wobei bewaffnete Zusammenstöße 63,6 Prozent aller Vorfälle ausmachten. Regierungsfeindliche Elemente waren für 85,7 Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle verantwortlich, einschließlich 92,1 Prozent der bewaffneten Zusammenstöße. Die südlichen, gefolgt von den östlichen und nördlichen Regionen, verzeichneten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Auf diese Regionen entfielen zusammen 68,9 Prozent aller registrierten Vorfälle, wobei die meisten Vorfälle in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nangarhar und Balkh verzeichnet wurden. Keine Konfliktpartei konnte nennenswerte Gebietsgewinne erzielen. Die Taliban hielten den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, darunter auch gefährdete Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Fernstraßen zu sichern und Taliban-Gewinne wieder zurückzubringen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar. Zwischen dem 01.01.2021 und dem 31.03.2021 verzeichnete die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte), was die dringende Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verringerung der Gewalt und die ultimative, übergeordnete Notwendigkeit, ein dauerhaftes Friedensabkommen zu erreichen, unterstreicht. Die Zahl der getöteten und verletzten ZivilistInnen stieg im Vergleich zum ersten Quartal 2020 um 29 Prozent; dies umfasste auch einen Anstieg in den Opferzahlen sowohl bei Frauen (plus 37 Prozent) als auch bei Kindern (plus 23 Prozent). Mindestens 301 regierungsnahe Kräfte und 89 ZivilistInnen wurden im April in Afghanistan getötet (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021).

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.01.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (LIB, Kapitel 4).

2.5.3   COVID-19

COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht, ohne Krankenhausaufenthalt, bei ca. 15 % der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich, allerdings benötigen diese Personen Sauerstoffzufuhr. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen (60 Jahre oder älter) und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Bluthochdruck, Herz- und Lungenproblemen, Diabetes, Fettleibigkeit oder Krebs) auf, einschließlich Verletzungen von Herz, Leber oder Nieren (https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 01.04.2021).

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt. Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis Dezember 2020 50.536 bestätigte COVID-19 Erkrankungen. Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht. Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (LIB, Kapitel 3).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19. Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (LIB, Kapitel 3).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, Kapitel 3).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (LIB, Kapitel 3).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (LIB, Kapitel 3).

2.5.4   Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. UNOCHA erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio. Menschen; 2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u. a. Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung) angewiesen sein werden. Laut einer IPC-Analyse [Anm.: Integrated Food Security Phase Classification] vom April wurde geschätzt, dass die Zahl der Menschen, die in Afghanistan unter akuter Ernährungsunsicherheit der Stufe 4 des Emergency-IPC-Index leiden, im Zeitraum August 2020 - März 2021 3,6 Millionen betragen würde (LIB, Kapitel 23.1).

In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze. Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird. Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (LIB, Kapitel 3. und 23.1).

Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 23).

Während der Wintersaat von Dezember 2017 bis Februar 2018 gab es in Afghanistan eine ausgedehnte Zeit der Trockenheit. Diese hatte primär Auswirkungen auf den Agrarsektor mit Verlusten bei Viehbeständen und verschlechterte die Situation für die von Lebensmittelunsicherheit geprägte Bevölkerung weiter. Auch folgten schwerwiegende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Existenzgrundlagen, was wiederum zu Binnenflucht führte und es den Binnenvertriebenen mittelfristig erschwert, sich wirtschaftlich zu erholen sowie die Grundbedürfnisse selbständig zu decken. Im März 2019 fanden in Afghanistan Überschwemmungen statt, welche Schätzungen zufolge Auswirkungen auf mehr als 120.000 Personen in 14 Provinzen hatten. Sturzfluten Ende März 2019 hatten insbesondere für die Bevölkerung in den Provinzen Balkh und Herat schlimme Auswirkungen. Unter anderem waren von den Überschwemmungen auch Menschen betroffen, die zuvor von der Dürre vertrieben worden waren. Günstige Wetterbedingungen während der Aussaat 2020 lassen eine weitere Erholung der Weizenproduktion von der Dürre 2018 erwarten. COVID-19-bedingte Sperrmaßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, da sie in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt werden konnten (LIB, Kapitel 23).

Die Auswirkungen von Covid-19 und der damit einhergehende Lockdown hatten katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der afghanischen Bürger. Aufgrund des Lockdowns verloren viele Menschen Arbeit und Einkommen. Die Inflation der Preise bei Grundnahrungsmitteln wie Öl und Kartoffeln verschärfte die wirtschaftliche Notlage eines erheblichen Teils der afghanischen Bevölkerung. Nach Angaben des Biruni-Instituts haben sechs Millionen Menschen aufgrund der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren (ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif vom 16.10.2020).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die sich in ganz Afghanistan weiter verschlechtert und voraussichtlich einen ähnlichen Schweregrad erreichen wird, wie während der Dürre 2018/2019 beobachtet wurde. Nach Angaben der Vereinten Nationen lag die Zahl der Menschen, die von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, im Zeitraum von August bis Oktober 2020 bei etwa 36% der untersuchten Bevölkerung, und die Zahl für den Zeitraum von November 2020 bis März 2021 wurde ein Anstieg auf 42% - zwischen 11,15 (ICP) und 13,9 (USAID) Millionen Menschen – prognostiziert. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es durch die COVID-19 Pandemie zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte, wieder gesunken zu sein, wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind. Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht lagen die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 weiterhin über dem Durchschnitt, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel auf den Quellmärkten zurückzuführen ist, insbesondere für Weizen in Kasachstan. Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert. Auf nationaler Ebene waren die Preise für Weizenmehl in Afghanistan von November bis Dezember 2020 stabil, allerdings auf einem Niveau, das 11% über dem des letzten Jahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist. Die afghanischen Grenzen sind alle offen, was den normalen Handel mit Lebensmitteln erleichtert. In städtischen Gebieten werden die geringere Verfügbarkeit von Einkommensmöglichkeiten während des Winters, unterdurchschnittliche Rücküberweisungen und überdurchschnittliche Nahrungsmittelpreise wahrscheinlich den Zugang zu Nahrung und Einkommen für viele arme Haushalte einschränken, wobei während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 ohne Hilfe eine Bewertung mit IPC Stufe 3 („Crisis“) erwartet wird. Wenn die Umsetzung des COVID-19- Hilfsprogramms voranschreitet, werden sich die Haushalte, welche humanitäre Hilfe erhalten, wahrscheinlich auf IPC Stufe 2 („Stressed“) verbessern, bis sie die Hilfe ausschöpfen. Nach den vorliegenden Informationen (Stand 29.01.2021) haben insgesamt 3.020 städtische Haushalte (ca. 21.000 Personen, was weniger als 1% der Bevölkerung entspricht) in 13 Provinzhauptstädten diese Unterstützung erhalten. Die meisten ländlichen Gebiete haben IPC Stufe 2 („Stressed“) und es wurde erwartet, dass dies während des gesamten Zeitraums bis Mai 2021 bestehen bleibt. In Gebieten, in denen die Ernte geringer ausgefallen ist und in Gebieten, die am stärksten von Konflikten betroffen sind, ist jedoch für den Rest der ertragsarmen Saison ein Abrutschen auf IPC Stufe 3 („Crisis“) wahrscheinlich. Im ganzen Land wird erwartet, dass eine zunehmende Anzahl von armen Haushalten - insbesondere solche mit unterdurchschnittlichen Vorräten oder solche, die nur geringe Geldsendungen erhalten - mit IPC Stufe 3 („Crisis“) zu bewerten wären, wenn die Vorräte aufgebraucht sind (LIB, Kapitel 3. und 23.1).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 23.6).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an. Neben einer mangelnden Arbeitsplatzqualität ist auch die große Anzahl an Personen im wirtschaftlich abhängigen Alter (insbes. Kinder) ein wesentlicher Armutsfaktor. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (LIB, Kapitel 3. und 23.3).

Etwa 8 Mio. Einwohner (24,4%) der afghanischen Bevölkerung lebt in urbanen und etwa 23,4 Mio. (71%) leben in ländlichen Gegenden. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72 %, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen (EASO, Common analysis: Afghanistan, 5.).

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden – vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen. Rückkehrende können bis zu zwei Wochen im IOM Empfangszentrum Spinzar Hotel unterkommen. Die Kosten dafür betragen 1.425 AFN pro Nacht. Viele Rückkehrer wohnen nach ihrer Ankunft übergangsweise in Teehäusern. Diese waren während des Lockdowns in Afghanistan im März 2020 vorübergehend geschlossen, sind jedoch aktuell wieder geöffnet (LIB, Kapitel 23.2).

Afghanistan ist von einem Wohlfahrtsstaat weit entfernt und Afghanen rechnen in der Regel nicht mit Unterstützung durch öffentliche Behörden. Verschiedene Netzwerke ersetzen und kompensieren den schwachen staatlichen Apparat. Das gilt besonders für ländliche Gebiete, wo die Regierung in einigen Gebieten völlig abwesend ist. So sind zum Beispiel die Netzwerke und nicht der Staat - von kritischer Bedeutung für die Sicherheit, den Schutz, die Unterstützung und Betreuung schutzbedürftiger Menschen. Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen (LIB, Kapitel 23.5).

2.5.5   Medizinische Versorgung

In einem Bericht aus dem Jahr 2018 kommt die Weltbank zu dem Schluss, dass sich die Gesundheitsversorgung in Afghanistan im Zeitraum 2004-2010 deutlich verbessert hat, während sich die Verbesserungen im Zeitraum 2011-2016 langsamer fortsetzten. Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Millionen Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren. Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt. Es mangelt grundsätzlich an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark (LIB, Kapitel 24).

Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. In den großen Städten und auf Provinzebene ist die medizinische Versorgung gewährleistet, aber auf Distrikt- und Dorfebene sind die Einrichtungen oft weniger gut ausgestattet und es kann schwierig sein, Spezialisten zu finden (LIB, Kapitel 24.1).

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen. Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden. Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt (LIB, Kapitel 3 und 24).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt. Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (LIB, Kapitel 3).

Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt. Im Jahr 2018 stand Afghanistan mit 91 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldeten Angriffen auf das Gesundheitswesen an dritter Stelle bei der Anzahl an Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen weltweit. Die Angriffe setzten sich 2019 fort, mit 119 gemeldeten Vorfällen in 23 Provinzen bis Ende Dezember. Zwischen dem 01.01.2020 und dem 21.10.2020 gab es 67 [gemeldete] Vorfälle, die von Konfliktparteien gegen medizinisches Personal oder Einrichtungen verübt wurden. Angriffe bei denen Gesundheitseinrichtungen angegriffen oder aufgrund derer der Zugang zu diesen eingeschränkt wird, setzen sich im Jah

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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