TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/21 W192 2134242-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.06.2021
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Entscheidungsdatum

21.06.2021

Norm

AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52

Spruch


W192 2134242-2/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Christian SCHMAUS, Rechtsanwalt in 1060 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2019, Zahl: 1079477601-191001198, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.06.2021 zu Recht:

A) Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. wird gemäß §§ 9 Abs. 1 Z 1, 8 Abs. 4 und 57 AsylG 2005 i.d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. wird ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 i.d.g.F. iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG i.d.g.F. auf Dauer unzulässig ist. Gemäß §§ 54 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

B) Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 24.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

1.2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.07.2015 und seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 10.03.2016 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, in Kabul geboren worden zu sein und im Alter von einem bis eineinhalb Jahren mit der Familie von der Provinz Ghazni in den Iran übersiedelt zu sein. Nachdem ihm im Iran ein weiterer Aufenthalt infolge Entzugs seiner dortigen Aufenthaltsberechtigung nicht mehr möglich gewesen wäre, sei dieser mit dem PKW in die Türkei und anschließend über das Mittelmeer mit dem Schlauchboot nach Griechenland und schließlich über Mazedonien und Serbien nach Österreich geflüchtet. Zu seinem Fluchtgrund führte der Beschwerdeführer aus, dass er nicht nach Afghanistan zurückkehren könne, weil er dort keine Verwandten habe, als Hazara sein Leben in Gefahr sei und er zudem möglicherweise als Lustknabe missbraucht würde.

1.3. Mit Bescheid vom 27.07.2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm jedoch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 27.07.2017 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine konkret gegen die Person des Beschwerdeführers gerichtete Verfolgungsgefahr nicht behauptet worden sei. Es seien auch sonst im Gesamtverfahren keinerlei Anhaltspunkte hervorgekommen, die auf eine mögliche Asylrelevanz der behaupteten Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat hindeuten würden. Aufgrund der allgemeinen schlechten Lage in Afghanistan sowie aufgrund der derzeitig prekären Lage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers und mangels eines tragfähigen sozialen Netzes und entsprechender beruflicher Qualifikation sei dem Beschwerdeführer jedoch subsidiärer Schutz zuzuerkennen und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung zu erteilen gewesen.

1.4. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Beschwerde gegen die erfolgte Versagung des Status des Asylberechtigten mit Erkenntnis vom 14.03.2017 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewiesen.

1.5. Das BFA hat dem Beschwerdeführer in weiterer Folge auf Antrag die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 zuletzt bis zum 27.07.2019 erteilt.

2.1. Mit Eingabe vom 07.06.2019 beantragte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine weitere Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005.

Der Beschwerdeführer wurde am 02.10.2019 vor dem BFA zur Prüfung der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung und allfälligen Einleitung eines Aberkennungsverfahrens niederschriftlich einvernommen, wobei er zusammengefasst angab, er beherrsche Deutsch auf dem Niveau B1, habe die diesbezügliche Prüfung jedoch nicht geschafft. Er sei gesund, nehme keine Medikamente ein und arbeite gegenwärtig als Hilfskraft in einer fixen Anstellung in einer Bäckerei. Der Beschwerdeführer sei in Kabul geboren, im Alter von eineinhalb Jahren sei er in den Iran übersiedelt, habe dort für drei Jahre die Schule besucht und in der Folge bis zur Ausreise als Schuhmacher gearbeitet. Sein Vater sei drei Jahre zuvor nach Afghanistan abgeschoben worden, seine Mutter, sein Bruder, seine beiden Schwestern und ein Onkel hielten sich im Iran auf. In Afghanistan habe der Beschwerdeführer keine Angehörigen mehr. In Österreich habe er Deutsch- und Integrationskurse besucht, er habe eine Arbeit aufgenommen, pflege Kontakt zu Arbeitskollegen, lebe alleine in einer Mietwohnung und bestreite seinen Lebensunterhalt durch sein Einkommen. Der Beschwerdeführer mache derzeit den Führerschein und habe während seines Aufenthalts keine strafbaren Handlungen begangen. Eine Rückkehr nach Afghanistan fürchte er wegen der dort schlechten Sicherheitslage und seines fehlenden Bezugs zu diesem Land. Konkrete Befürchtungen bezüglich einer Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat könne er nicht nennen, zumal ihm diese Orte nicht bekannt wären. Dem Beschwerdeführer wurde sodann vorgehalten, dass sich seine Lage nach Ansicht des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl im Vergleich zum Zeitpunkt der Gewährung subsidiären Schutzes geändert hätte und nichts mehr festzustellen wäre, das eine reale Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat bedeuten würde. Diesem sei eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Mazar-e Sharif, zumutbar, zumal er dort Sicherheit und zumutbare Lebensbedingungen vorfinden werde und seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit und Unterstützung seiner im Iran lebenden Familie bestreiten können werde. Der Beschwerdeführer verzichtete auf die Abgabe einer Stellungnahme und erklärte, kein weiteres Vorbringen erstatten zu wollen.

Mit Aktenvermerk vom 02.10.2019 leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf Grundlage des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ein.

2.2. In weiterer Folge wurde mit dem angefochtenen Bescheid der dem Beschwerdeführer mit Bescheid des BFA vom 27.07.2016 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt, sein Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen, ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist, und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt.

Begründend wurde im angefochtenen Bescheid im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer gesund und arbeitsfähig sei, eine Beschäftigung ausübe und Schulbildung und Arbeitserfahrung besitze. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten würden nicht mehr vorliegen und die subjektive Lage des Beschwerdeführers habe sich im Vergleich zum seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt, als ihm subsidiärer Schutz gewährt worden ist, geändert. Es bestehe eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative und der Beschwerdeführer könne seinen Lebensunterhalt in Herat oder Mazar-e Sharif bestreiten.

Die Situation des Beschwerdeführers habe sich gegenüber dem Zeitpunkt der Zuerkennung der subsidiären Schutzberechtigung dahingehend verbessert, indem ihm nun eine innerstaatlichen Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe. Weiters habe der Beschwerdeführer im Gegensatz zum Zeitpunkt der Schutzgewährung massiv an Arbeitserfahrung dazu gewonnen, was ihm bei einer Neuansiedlung von Nutzen sei. Der Beschwerdeführer habe die Möglichkeit der Aus- und Fortbildung in Österreich genutzt und dadurch einen Erfahrungsschatz und fachliche Kompetenzen erworben, was ihm bei einer Arbeitssuche und der Wiedereingliederung in der afghanischen Gesellschaft nützlich sei. Die erfolgreiche Absolvierung von Deutschkursen sowie die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Bäckergehilfe in Österreich hätten ersichtlich gemacht, dass es sich bei diesem um eine Person mit einer raschen Auffassungsgabe und Flexibilität handle, zumal es ihm möglich gewesen wäre, sich in einem Land mit einer für ihn fremden Kultur und Sprache zurechtzufinden. Auch bestehe nunmehr für sämtliche relevanten staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen die übereinstimmende Einschätzung, dass alleinstehende, arbeitsfähige Männer in gewissen Regionen Afghanistans jedenfalls ein zumutbares Leben führen können. Diese Beurteilung der Lage entspreche der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs sowie der Einschätzung durch EASO und der UNHCR-Richtlinie vom 30.08.2018. Gegenständlich habe daher eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG zu erfolgen, zumal im Falle des Beschwerdeführers die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zum Entscheidungszeitpunkt nicht vorliegen würden. Sein Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung sei folglich abzuweisen gewesen.

Angesichts des Fehlens familiärer oder sonstiger enger Bindungen im Bundesgebiet würden auch angesichts der beginnenden Deutschkenntnisse und der Ausübung einer Beschäftigung keine Hinderungsgründe gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidungen vorliegen.

2.3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, durch den damaligen Rechtsvertreter mit Schriftsatz vom 13.11.2019 eingebrachte, Beschwerde, in welcher ausgeführt wurde, die belangte Behörde sei ihrer Verpflichtung zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes nicht ausreichend nachgekommen. Der im Lichte des Art. 16 der Statusrichtlinie auszulegende § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 stelle auf eine Änderung der Umstände ab, die so wesentlich und nicht nur vorübergehend sei, dass eine Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz gehabt hätte, tatsächlich nicht länger Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Gegenständlich liege seit der erstmaligen Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine im Wesentlichen unveränderte persönliche Situation des Beschwerdeführers vor, auch die objektive Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan habe keine wesentliche Verbesserung erfahren. Dem Beschwerdeführer wäre es in Afghanistan nicht möglich, ohne jegliche sozialen Kontakte sowie seiner Ortsunkenntnis eine Existenz aufzubauen; alleine die Tatsache, dass der Beschwerdeführer es geschafft hätte, in Österreich eine Arbeit zu finden und seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, stelle nicht eine so wesentliche Änderung der persönlichen Umstände dar, welche eine nunmehrige Abschiebung nach Afghanistan rechtfertigen würde. Aus näher angeführten Länderberichten ergebe sich, dass die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, dies auch in der Provinz Balkh, nach wie vor äußerst prekär sei und familiäre und soziale Anknüpfungspunkte sehr wohl erforderlich seien, um dort als alleinstehender Mann nicht in eine ausweglose Lage zu geraten. Den Richtlinien des UNHCR vom 30.08.2018 sei zu entnehmen, dass insbesondere die Zivilbevölkerung die Hauptlast des Konflikts in Afghanistan tragen würde. Informationen der Staatendokumentation aus November 2018 würden die schwierigen Versorgungsbedingungen auch in den Städten Herat und Mazar-e Sharif beschreiben und aufzeigen, dass der Beschwerdeführer nicht in der Lage sein würde, in den angeführten Gebieten Wohnraum und eine Arbeit zu finden. Mangels Vorliegens einer zumutbaren innerstaatlichen Schutzalternative hätte die Behörde bei richtiger rechtlicher Beurteilung dem Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 stattgeben müssen. Der unbescholtene Beschwerdeführer halte sich seit knapp viereinhalb Jahren durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet auf, habe sich während dieses Zeitraums nachhaltig integriert und sich eine Existenz aufgebaut. Dieser spreche mittlerweile gut Deutsch, befinde sich in einem aufrechten Beschäftigungsverhältnis und werde auch künftig in der Lage sein, seinen Lebensunterhalt unabhängig von staatlichen Unterstützungsleistungen zu finanzieren. Die Berücksichtigung dieser Aspekte führe im Rahmen einer Gesamtabwägung zu einem Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet.

2.4. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 27.12.2019, Zahl: W192 2134242-2/2E, als unbegründet ab.

Begründend wurde in der Entscheidung zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe in Österreich Berufserfahrung gesammelt und zuletzt problemlos selbständig seinen Lebensunterhalt bestritten. Nach den aktuellen Länderberichten bestehe somit für den Beschwerdeführer als arbeitsfähigen Mann, der im Vergleich zur übrigen urbanen Bevölkerung Afghanistans eine überdurchschnittlich qualifizierte Berufserfahrung aufweise, eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif. Dem stehe unter Verweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer Afghanistan im Kleinkindalter verlassen habe und im Iran aufgewachsen sei.

2.5. Mit Erkenntnis vom 05.03.2020, Zahl: E394/2020, hat der Verfassungsgerichtshof in Stattgabe einer gegen das dargestellte Erkenntnis eingebrachten Beschwerde ausgesprochen, dass der Beschwerdeführer durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden sei und das Erkenntnis aufgehoben.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt:

„4.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht im Wesentlichen davon aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten weggefallen seien, weil dem Beschwerdeführer auf Grund der aktuellen Länderberichte und vor dem Hintergrund seiner in Österreich gesammelten Berufserfahrung nunmehr eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe.

4.2. Der Verfassungsgerichtshof hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die im Asylverfahren herangezogenen Länderberichte hinreichend aktuell sein müssen; dies betrifft insbesondere Staaten mit sich rasch ändernder Sicherheitslage (vgl. etwa VfSlg. 19.466/2011; VfGH 21.9.2012, U 1032/12; 26.6.2013, U 2557/2012; 11.12.2013, U 1159/2012; 11.3.2015, E 1542/2014; 22.9.2016, E 1641/2016; 23.9.2016, E 1796/2016; 27.2.2018, E 2124/2017; vgl. im vorliegenden Zusammenhang zuletzt insbesondere VfGH 12.12.2019, E 236/2019; 12.12.2019, E 2692/2019; 12.12.2019, E 3350/2019; 12.12.2019, E 3369/2019).

4.3. Im vorliegenden Fall stützt das Bundesverwaltungsgericht seine Feststellungen, dass dem Beschwerdeführer eine Ansiedelung in Herat und Mazar-e Sharif möglich und zumutbar sei, auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018.

4.4. Dabei übersieht das Bundesverwaltungsgericht, dass eine aktuelle und spezifische Information betreffend Fälle wie jenen des Beschwerdeführers, der seit seinem zweiten Lebensjahr im Iran gelebt hat und aufgewachsen ist, vorliegt.

Die "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO auf dem Stand Juni 2018 (ebenso nach dem Stand der aktuelleren Fassung aus Juni 2019) enthält eine spezifische Beurteilung für jene Gruppe von Rückkehrern, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben:

Aus dem Bericht des EASO geht hervor, dass für die genannte Personengruppe eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könnte, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw. Verbindungen zu Afghanistan, sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund (insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung, Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans).

4.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht diese – zum Entscheidungszeitpunkt bereits veröffentlichte – maßgebliche Information nicht berücksichtigt, hat es seine Entscheidung auf veraltete Länderberichte gestützt und damit die Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen (vgl. VfGH 12.12.2019, E 236/2019; 12.12.2019, E 2692/2019; 12.12.2019 E 3350/2019; ferner 12.12.2019, E 3369/2019). Ein bloßer Verweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu ähnlichen Fällen kann eine Auseinandersetzung mit den Länderberichten im Einzelfall nicht ersetzen.

4.6. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich somit schon aus diesen Gründen im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 und 3 EMRK als verfassungswidrig. Sie ist im Hinblick auf die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten des Beschwerdeführers und den daran anknüpfenden übrigen Spruchinhalt mit Willkür behaftet und daher zur Gänze aufzuheben.

4.7. Mit Blick auf die dargestellte Berichtslage und die wiedergegebene Rechtsprechung bedarf es daher im fortgesetzten Verfahren einer Begründung, auf Grund welcher außergewöhnlichen Umstände es dem Beschwerdeführer, der seit seinem zweiten Lebensjahr bis zur Ausreise ins Bundesgebiet im Iran lebte, dennoch möglich sein könnte, nach Afghanistan zurückzukehren, ohne dass er in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art. 3 EMRK, weder der Folter, noch erniedrigender oder unmenschlicher Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt wird (vgl. auch VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160).“

2.5. Nach Anberaumung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde durch den nunmehr bevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers am 27.05.2021 eine schriftliche Stellungnahme eingebracht, in welcher zusammengefasst ausgeführt wurde, dass sich die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowohl aufgrund der fehlenden Sachverhaltsänderung als auch vor dem Hintergrund der anhaltenden höchst volatilen Sicherheits- und Versorgungslage im gesamten afghanischen Staatsgebiet als rechtswidrig darstelle. Der Beschwerdeführer sei im Alter von eineinhalb Jahren mit seiner Familie von Afghanistan in den Iran geflüchtet, habe keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung und keine Erfahrung auf dem afghanischen Arbeitsmarkt. In Österreich habe der Beschwerdeführer Deutschkurse absolviert und sei seit mittlerweile zwei Jahren als Hilfsarbeiter in einem Bäckereibetrieb tätig. Durch diese Tätigkeit habe er sich keine besonderen beruflichen Qualifikationen im Vergleich zum Zeitpunkt der Schutzzuerkennung aneignen können, insbesondere keine solchen, die ihm am ohnehin überspannten afghanischen Arbeitsmarkt zu Gute kommen würden. Die Versorgungslage in Afghanistan, wo der Beschwerdeführer unverändert über kein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk verfügen würde, habe sich durch die Covid-19-Pandemie noch weiter verschlechtert. Zudem gehöre der Beschwerdeführer als Person, die lange außerhalb Afghanistans gelebt habe, jener Personengruppe an, für die laut den aktualisierten EASO-Leitlinien aus Dezember 2020 eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht ohne Weiteres anzunehmen sei. Eine Neuansiedelung, insbesondere in den Städten Herat und Mazar-e Sharif, stelle sich aufgrund der jahrelangen Abwesenheit, der fehlenden Ortskenntnis sowie mangels sozialer Netzwerke in Afghanistan demnach für den Beschwerdeführer als unzumutbar dar. Zudem habe sich der Beschwerdeführer innerhalb seines fünfjährigen Aufenthalts in Österreich erfolgreich in die lokale Gesellschaft integriert und sich hier ein schützenswertes Privat- und Familienleben aufgebaut.

2.6. Am 02.06.2021 führte das Bundesveraltungsgericht zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Vertreter sowie ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilgenommen haben. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte im Vorfeld schriftlich mitgeteilt, auf eine Teilnahme an der Verhandlung zu verzichten.

Vom Beschwerdeführer wurden eine Bestätigung seines Arbeitgebers vom 20.05.2021 sowie Belege zu seinem Einkommen vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seiner Situation in Afghanistan:

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, volljährig, ledig und kinderlos. Er gehört der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung an. Der Beschwerdeführer, dessen Familie ursprünglich aus der Provinz Ghazni stammt, ist im Alter von eineinhalb Jahren mit seiner Familie aus Kabul in den Iran übersiedelt, wo er drei Jahre lang die Schule besucht und im Anschluss einige Jahre im Betrieb eines Schusters gearbeitet hat. Der Beschwerdeführer beherrscht Dari und Farsi in Wort und Schrift. Seine Mutter, seine Geschwister und ein Onkel sind unverändert im Iran aufhältig, verfügen dort über ein Aufenthaltsrecht und leben in durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Im Oktober 2018 besuchte der Beschwerdeführer seine Familie im Iran.

1.1.2. Der Beschwerdeführer verließ den Iran im Frühjahr 2015, ist im Juli 2015 unrechtmäßig ins Bundesgebiet eingereist, stellte am 24.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz und war zunächst als Asylwerber vorläufig aufenthaltsberechtigt.

Mit Bescheid vom 27.07.2016 erkannte ihm das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 27.07.2017 eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer aufgrund der allgemeinen schlechten Lage in Afghanistan sowie aufgrund der derzeitig prekären Lage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers und mangels eines tragfähigen sozialen Netzes und entsprechender beruflicher Qualifikation subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen sei.

Das BFA hat dem Beschwerdeführer in weiterer Folge mit Bescheid vom 21.08.2017 auf Antrag die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 zuletzt bis zum 27.07.2019 erteilt. Mit Eingabe vom 07.06.2019 beantragte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine weitere Verlängerung seiner Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005.

1.1.3. Der Beschwerdeführer ist gesund und hat im Bundesgebiet keine ärztliche Behandlung in Anspruch genommen. Er gehört keiner Risikogruppe für einen schwerwiegenden Verlauf einer Covid-19-Infektion an.

Der Beschwerdeführer ist unbescholten und bestreitet seinen Lebensunterhalt eigenständig.

Er hat nach seiner Ausreise Berufserfahrung in Österreich erworben und ist seit April 2019 in einem Bäckereibetrieb beschäftigt, wobei das Dienstverhältnis laut Schreiben seines Arbeitgebers vom 25.09.2019 aufgrund der guten Arbeitsergebnisse und der positiven persönlichen Eigenschaften des Beschwerdeführers in ein unbefristetes Dienstverhältnis übergegangen ist. Der Beschwerdeführer hat den Bewerbungsprozess für sein gegenwärtiges Arbeitsverhältnis im Wesentlichen selbständig bestritten. Sein Aufgabengebiet umfasst das Herstellen von Backwaren in der Produktion, zudem hat er im Verkauf und in weiteren Abteilungen gearbeitet. Der Beschwerdeführer war ab Februar 2018 mit Ausnahme von kurzfristigen Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld regelmäßig beschäftigt und selbsterhaltungsfähig. Er hat seit Dezember 2017 keine Leistungen des Grundversorgungssystems in Anspruch genommen.

Der Beschwerdeführer besuchte Deutsch- und Integrationskurse, er beherrscht die deutsche Sprache etwa auf dem Niveau B1, hat jedoch keinen formellen Nachweis über eine absolvierte Deutschprüfung in Vorlage gebracht. Dieser wohnt alleine in einer Mietwohnung mit einer Fläche von ungefähr 20-25 m2. Er hat sich einen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich aufgebaut.

Der Beschwerdeführer hat während seines Aufenthalts in Österreich eine überdurchschnittliche Anpassungsfähigkeit gezeigt und seine Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans mehrjährig unter Beweis gestellt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in Mazar-e Sharif oder Herat besteht für den Beschwerdeführer als gesunden, leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf keine konkrete Gefahr mehr, einen Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit zu erleiden und liefe der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es ist nicht zu erkennen, dass sich seine Situation in Bezug auf die Prognose seiner Selbsterhaltungsfähigkeit maßgeblich von jener eines in Afghanistan außerhalb von Mazar-e Sharif oder Herat aufgewachsenen jungen Mannes unterscheidet.

1.2. Zur Allgemeinsituation in Afghanistan:

COVID-19

Letzte Änderung: 10.06.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

[…]

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.06.2021

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021). Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman (LWJ 20.5.2021) und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021b; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung (BAMF 31.5.2021; vgl. UNOCHA 2.6.2021).

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021). Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LWJ 6.6.2021; vgl. RFE/RL 1.6.2021). Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10% gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019 (UNASC 12.3.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020). Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 % (UNGASC 12.3.2021).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020, USDOS 30.3.2021).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021; vgl. UNGASC 12.3.2021, AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat (UNGASC 12.3.2021; vgl. AAN 16.8.2020), scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020). Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar (UNGASC 12.3.2021).

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (UNAMA 4.2021; vgl. UNSC 1.6.2021).

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021a; AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021a).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).

Obwohl ein Rückgang der durch regierungsfeindliche Elemente verletzten Zivilisten im Jahr 2020, der hauptsächlich auf den Mangel an zivilen Opfern durch wahlbezogene Gewalt und den starken Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordattentate im Vergleich zu 2019 zurückzuführen ist, festgestellt werden konnte, so gab es einen Anstieg zivilen Opfer durch gezielte Tötungen, durch wahllos von Opfern aktivierte Druckplatten-IEDs und durch fahrzeuggetragene Nicht-Selbstmord-IEDs (UNAMA 2.2021a; vgl. ACCORD 6.5.2021b).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021). Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht (HRW 16.3.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

[Grafik gelöscht, Anm.]

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (UNAMA 4.2021; vgl. BAMF 19.4.2021) .

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Ver

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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