TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/21 W164 2167106-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.06.2021
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Entscheidungsdatum

21.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W164 2167106-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert Bitsche, Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, vom 18.07.2017, Zl. 1091146206-151554546, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung

A)

I. beschlossen

Das Beschwerdeverfahren wird, soweit es Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides betrifft, gem. § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) eingestellt.

II. zu Recht erkannt:

II.1. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II.2. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für ein Jahr erteilt.

II.3. Die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitischen Glauben. Er stellte am 14.10.2015 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Bei der Erstbefragung am 15.10.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er sei XXXX geboren; seine Eltern und sein Bruder seien bereits verstorben. Der BF sei im frühen Kindesalter gemeinsam mit seinem Onkel in den Iran übersiedelt. Er habe 9 Jahre lang die Grundschule besucht und zuletzt als Hilfsarbeiter gearbeitet. An Afghanistan könne er sich kaum erinnern. Zuletzt habe er allein im Iran, XXXX , gelebt. Den Iran habe er verlassen, da sein dortiger Aufenthalt illegal gewesen sei und er keine Dokumente gehabt habe. Er habe Angst gehabt von den iranischen Behörden nach Afghanistan abgeschoben zu werden. In Afghanistan gebe es keine Sicherheit und im Iran habe er niemanden mehr.

3. Am 29.01.2016 wurde der BF einer ärztlichen Untersuchung zum Zweck einer medizinischen Altersdiagnose unterzogen. Das Sachverständigengutachten ergab das spätest mögliche "fiktive" Geburtsdatum des BF per XXXX .

4. Am 30.06.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Der BF bestätigte zunächst die bei der Erstbefragung protokollierten Angaben und korrigierte lediglich die dort angeführte Reiseroute und die Höhe der Reisekosten. Bezüglich seines Geburtsdatums seien im Kinderheim zwei mögliche Jahre geführt worden, XXXX und XXXX . Dies entspreche XXXX und XXXX . Der BF wisse nicht, wie dieses Geburtsdatum festgestellt wurde. Zu seinen persönlichen Daten befragt gab er an, dass er nur wisse, dass er in Afghanistan geboren worden sei, seinen Geburtsort bzw. die Provinz kenne er nicht. Als er zwei Jahre alt gewesen sei, sei er mit seinem Onkel in den Iran gezogen. Dort habe er dann in einem Kinderheim gelebt. Er wisse nicht, wo sich sein Vater befinde bzw. ob dieser noch am Leben sei. Seine Mutter und sein Bruder seien verstorben. Den Namen seines Bruders kenne er nicht. Die Namen seiner Eltern habe er von den Betreuern im Kinderheim erfahren, ferner, dass ihn sein Onkel im Alter von etwa drei Jahren in das Kinderheim gebracht habe. Während seines Aufenthalts im Kinderheim habe der BF versucht, seinen Onkel zu finden. Der Leiter des Kinderheimes habe eine Nummer dieses Onkels gehabt, er habe ihn jedoch nicht erreichen können. Die Unterkunft des BF sei ein privates afghanisches Kinderheim unter der Kontrolle eines iranischen Kinderheimes gewesen. Der Besitzer des Kinderheimes habe die Kosten für das Heim getragen und es hätten auch verschiedene Personen für das Heim gespendet. Auch das Geld für die Ausreise habe der BF von einem Spender erhalten. Im Iran habe der BF 5 Jahre lang die Grundschule, 3 Jahre lang die Hauptschule und ein halbes Jahr lang das Gymnasium besucht. Es sei eine afghanische Schule gewesen, da er ohne Dokumente nicht in eine öffentliche Schule hätte gehen können. In den Ferien habe der BF auf einer Baustelle und in einer Schneiderei gearbeitet (insgesamt 6 Monate während zweier Sommer). Er habe auch gelernt Silberschmuck zu machen.

Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der BF an, er habe gehört, dass seine Eltern und sein Bruder getötet wurden. Er wisse aber nicht, wie und warum sie getötet wurden. Dies habe ihm niemand erzählt. Sein Onkel und dessen Frau seien in den Iran geflüchtet und hätten ihn mitgenommen. Wenig später habe ihn sein Onkel in das Kinderheim gebracht, in dem er dann aufgewachsen sei. Ein Betreuer habe Beziehungen zur Sepah gehabt. Dieser habe gewusst, dass in dem Heim afghanische Jugendliche ohne Aufenthaltsrecht leben und habe verlangt, dass diese nach Vollendung des 18. Lebensjahres entweder nach Afghanistan zurückkehren oder in den Syrienkrieg ziehen. Der BF habe gewusst, dass vier volljährige Personen aus dem Kinderheim nach Afghanistan abgeschoben wurden. Über einen ehemaligen Heimbewohner sei erzählt worden, dass dieser in Afghanistan bei einem Attentat getötet worden sei. Der BF habe nicht nach Syrien gehen wollen und auch nicht nach Afghanistan. In Mazar-e Sharif habe es vor einigen Monaten einen Anschlag gegeben. Der BF habe auch gehört, dass Schiiten und Hazara Probleme mit den Taliban hätten. Er habe nicht mehr in dem Kinderheim bleiben können. Im Iran hätte er hätte illegal weiterleben müssen. Einmal sei er bereits von der Polizei angehalten und nur deshalb wieder freigelassen worden, da er noch unter 14 Jahren war und im Kinderheim wohnte. Ein Betreuer habe den im Heim wohnenden Jugendlichen ihnen vorgeschlagen nach Europa zu reisen, da die Grenze offen sei. Nach Afghanistan habe der BF nicht zurückkehren wollen, da er dort niemanden kenne und es keine Sicherheit gebe. Dass Afghanistan nicht sicher sei, habe jeder im Kinderheim gewusst und es sei auch im Fernsehen gebracht worden. Der BF habe Kontakt mit einem Freund gehabt, der nach Afghanistan abgeschoben worden sei. Dieser habe ihm erzählt, dass er dort geschlagen worden, mit dem Messer attackiert und dass sein Telefon gestohlen worden sei. Er habe dort keine richtige Unterkunft gehabt und sein Geld sei ihm gestohlen worden. Die Afghanen würden den afghanischen Rückkehrern aus dem Iran Schwierigkeiten machen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan fürchte der BF, dort getötet zu werden.

Zu seiner Situation in Österreich befragt gab der BF an, dass er die Schule besuche und mit den Schulkollegen und dem Lehrer in Kontakt stehe. In seiner Freizeit besuche er das Fitnessstudio, lerne Deutsch und lese Bücher. Er leide an Migräne und nehme bei Bedarf Schmerzmittel. Der BF legte eine Bestätigung über die Teilnahme an einem freiwilligen Deutschtraining vor.

5. Mit Bescheid vom 18.07.2017, Zl. 1091146206-151554546 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG 2005 erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist zur freiwilligen Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe keine gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung in Afghanistan glaubhaft machen können. Er sei im Iran aufgewachsen. Seine Vorbringen über Vorfälle im Iran hätten keine Asylrelevanz. Der BF habe auch nicht näher erläutern können, weshalb sein Onkel Afghanistan verlassen habe. Auch über den Verbleib seiner Eltern und seines Bruders habe er nur vage Angaben machen können. Der BF habe seinen Lebensunterhalt bisher durch seine eigene Arbeitsleistung bestreiten können und sei mit der Sprache und der Kultur Afghanistans vertraut, da er in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen sei. Ihm stehe Kabul und allenfalls Mazar-e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative offen. Der BF sei ein junger, arbeitsfähiger Mann, der an keiner schwerwiegenden Krankheit leide und bereits berufliche Erfahrungen aufweise. Er würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan somit nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten. Der BF verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe. Es würden auch keine Hinweise vorliegen, die auf eine außerordentliche Integration hinweisen würden. Aufgrund der Gesamtabwägung der Interessen unter Beachtung aller bekannten Umstände ergebe sich, dass die Ausweisung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sei.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine damalige Rechtsvertretung fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Verletzung von Verfahrensvorschriften. Darin wurde, soweit für den Fall wesentlich vorgebracht, die von der Behörde herangezogenen Länderfeststellungen seien mangelhaft, unvollständig und teilweise unrichtig. Diesbezüglich wurde auf mehrere Berichte betreffend die Sicherheitslage in Kabul und Mazar-e Sharif, sowie betreffend die Situation von Rückkehrern bzw. Binnenvertriebenen verwiesen. Aus diesen gehe eindeutig hervor, dass dem BF eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul bzw. Mazar-e Sharif nicht zumutbar sei. Der BF habe keine Verwandten mehr in Afghanistan und damit kein soziales Netz. Auch verfüge er nicht über die notwendigen finanziellen Mittel, um sich eine neue Existenz aufzubauen, weswegen ihm ein Abdriften in Armut drohe. Der BF sei noch sehr jung gewesen sei als er Afghanistan verlassen habe und sei in einem Waisenhaus untergebracht worden. Er könne daher verständlicherweise keine Auskunft über die Gründe für die Ausreise seines Onkels aus Afghanistan und den Verbleib seiner Eltern geben. Außerdem habe die Behörde die prekäre Sicherheitslage in Kabul nicht in ihre Beweiswürdigung einfließen lassen. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids wurde vorgebracht, dass der BF als schiitischer Hazara aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seiner religiösen Einstellung durch die Taliban verfolgt werden würde. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage, den BF vor dieser Verfolgung zu schützen. Hinsichtlich Spruchpunkt II. wurde entgegnet, unter Zugrundelegung der angeführten Länderberichte könne eine Verletzung der Art. 2 und Art. 3 EMRK sowie der Zusatzprotokolle Nr. 6 und Nr. 13 nicht ausgeschlossen werden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative nach Kabul bzw. Mazar-e Sharif sei nicht gegeben. In Bezug auf Spruchpunkt III. wurde vorgebracht, dass der BF sehr bemüht sei, sich in Österreich zu integrieren und Anschluss an die österreichische Gesellschaft zu finden, Deutschkurse besuche, strafrechtlich unbescholten sei und die österreichische Rechts- und Werteordnung respektiere.

7. Mit Schreiben vom 11.09.2017 gab der im Spruch genannte Vertreter seine Vollmacht für das gegenständliche Verfahren bekannt.

8. Mit Schreiben vom 03.05.2021 langte eine Stellungnahme des Rechtsvertreters des BF ein, worin dieser auf die „Country Guidance“ von EASO hinwies, wonach eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif für Personen mit dem Personenprofil des BF nicht zumutbar sei. Außerdem sei aufgrund der Cornona-Pandemie das ohnehin schlecht ausgestattete Gesundheitssystem in Afghanistan überlastet.

Weiters wurde festgehalten, dass sich der BF nunmehr seit knapp 6 Jahren in Österreich befinde und sich nachhaltig integriert habe. Er sei stets gewillt sich weiterzubilden und zu engagieren. Der BF habe die Landesberufsschule XXXX besucht und die Lehre als Koch erfolgreich abgeschlossen. Er gehe ordentlich und fleißig einer Beschäftigung im Rahmen seiner Ausbildung nach und sei 4 Jahre lang bei der XXXX als Lehrling beschäftigt gewesen. Aufgrund der schweren Corona-Situation sei er gekündigt worden. Der BF habe sich auch in sozialer Hinsicht engagiert, indem er für Personen, die durch das Coronavirus besonders gefährdet waren, Einkäufe, Abholungen in der Apotheke oder ähnliche Tätigkeiten übernommen habe. Er habe sich in all den Jahren seines Aufenthaltes ein soziales Netz an Freunden und Bekannten aufgebaut und verfüge über weitreichende persönliche Bindungen.

Folgende Dokumente wurden vorgelegt: Ein Empfehlungsschreiben der XXXX vom 10.03.2021, Lohnzettel für die Jahre 2020 und 2021, ein Lehrvertrag für die Ausbildung zum Lehrberuf Koch bei der XXXX vom 22.11.2017, ein Zertifikat über die positiv absolvierte Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Koch vom 19.02.2021, mehrere Schulbesuchsbestätigungen der Landesberufsschule XXXX , Jahreszeugnisse der ersten und zweiten Fachklasse sowie ein Jahres- und Abschlusszeugnis der dritten Fachklasse für den Lehrberuf Koch der Landesberufsschule XXXX , ein Projektpass „ XXXX “ für die Bestätigung der Teilnahme an Workshops und Beratungstermine der Bildungsberatung XXXX , eine Kursbestätigung der Bildungsberatung XXXX vom 27.09.2017, eine weitere Bestätigung der Bildungsberatung XXXX über den Besuch von Workshops, Kompetenzerhebung und der Teilnahme an Einzelberatungen vom 11.10.2017, eine Kursbestätigung Deutsch als Zweitsprache B1/1 der Volkshochschule XXXX vom 19.12.2018, Bestätigungen über die Teilnahme an freiwilligem Deutschtraining des XXXX , eine Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs Mittelstufe B1.2 des ÖSD Prüfungszentrums XXXX , ein Dankesschreiben der Gemeinde XXXX über einen freiwilligen Einkaufsdienst während der Corona-Krise vom 30.04.2020 und ein Empfehlungsschreiben einer Caritas-Mitarbeiterin.

9. Am 05.05.2021 wurde beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung abgehalten, anlässlich deren der BF im Beisein seiner Rechtsvertretung und eines Dolmetschers für die Sprache Dari befragt wurde. Das ebenfalls geladene BFA hat an der Verhandlung nicht teilgenommen. Dem BFA wurden eine Ausfertigung des Verhandlungsprotokolls und die im Vorfeld der Verhandlung vom BF vorgelegten Integrationsnachweise schriftlich zur Kenntnis gebracht.

Der BF brachte in der mündlichen Verhandlung vor, dass er im Iran etwa 13 bis 14 lang im Kinderheim gelebt habe. Er habe selbst keine Erinnerungen mehr an seine Eltern oder seinen Onkel, er habe sämtliche Informationen von seinem Betreuer im Kinderheim erhalten. Der Onkel habe eine Telefonnummer im Kinderheim hinterlassen. Als der Betreuer versucht habe, ihn zu kontaktieren, sei der Onkel über diese Nummer nicht mehr erreichbar gewesen. Im Iran habe er achteinhalb Jahre lang eine Schule für afghanische Jugendliche besucht. Sofern bei der Befragung durch das BFA protokolliert wurde, dass er ein halbes Jahr ein Gymnasium besucht habe, so sei das nicht richtig. Es habe sich dabei um ein Vorbereitungsjahr für die Universität gehandelt. Der BF habe diese Schule aber nicht länger als ein halbes Jahr besuchen können. Was seine berufliche Tätigkeit in der Schneiderei im Iran betrifft, so habe er dort lediglich einmal im Sommer drei Monate lang als Hilfsarbeiter bzw. Reinigungskraft gearbeitet. Damals sei er in der sechsten Klasse gewesen. Im Jahr darauf habe er im Sommer für eineinhalb Monate auf einer Baustelle gearbeitet. Zu der Arbeit mit Silberschmuck sei er über einen Lehrer seiner Schule gekommen. Er habe bei der Herstellung von Schmuckstücken mitgeholfen bzw. assistiert. Diese Tätigkeit habe er in der achten Klasse neben der Schule ausgeübt. Es sei ihm nicht möglich gewesen, im Iran eine Lehre zu absolvieren, da er über keine Aufenthaltsberechtigung verfügt habe. Er wisse nichts über etwaige noch aufhältige Verwandte in Afghanistan.

Befragt nach seinem Gesundheitszustand gab der BF an, dass er ein paar Mal in der Arbeit einen Migräneanfall bzw. Kopfschmerzen gehabt habe und es ihm dann sehr schlecht gegangen sei. Schmerzmittel nehme er nur bei Bedarf ein. Seine Lehrabschlussprüfung habe er nunmehr beim zweiten Versuch bestanden. Vor der Lehre habe er die Übergangsstufe an der BMHS besucht. Was seine berufliche Tätigkeit bei seinem ehemaligen Arbeitgeber betrifft, so habe ihn dieser wegen der Coronapandemie abgemeldet. Sobald die Coronakrise vorbei bzw. das Hotel wieder geöffnet sei, könne er dort aber weiterarbeiten.

Ergänzend vorgelegt wurde eine Bestätigung des Abschlusses der Übergangsstufe an BMHS.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung zog der BF die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurück.

10. Nachgereicht wurde ein Bescheid des AMS, wonach dem BF eine Beschäftigungsbewilligung für die Zeit von 24.02.2021 bis 23.02.2022 erteilt wurde sowie eine Meldung seines Dienstgebers und ehemaligen Lehrherrn darüber, dass der BF ab 17.05.2021 bei der XXXX beschäftigt ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der strafrechtlich unbescholtene BF führt den Namen XXXX , er wurde am XXXX in Afghanistan geboren und ist afghanischer Staatsangehöriger. Der genaue Geburtsort bzw. die Herkunftsprovinz sind unbekannt. Der BF gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitischen Glauben. Er spricht Farsi, Dari und mittlerweile auch Deutsch. Der BF ist ledig und kinderlos. Die Mutter und der Bruder des BF sind bereits verstorben, als der BF ca. 2 Jahre alt war. Der Aufenthaltsort bzw. der Status seines Vaters ist ungewiss. Der BF wurde im Alter von ca. 2 Jahren von einem Onkel väterlicherseits aufgenommen und ist mit der Familie des Onkels in den Iran gezogen. Der Onkel hat den BF dann kurze Zeit später in einem Kinderheim abgegeben, wo dieser seine Kindheit und Jugend verbrachte. Vom Schicksal seiner Eltern sowie von der Aufnahme durch seinen Onkel erfuhr der BF durch Erzählungen seines Betreuers im Kinderheim. Der BF hat im Iran insgesamt achteinhalb Jahre lang eine nichtoffizielle afghanische Schule besucht. Nebenbei hat der BF zeitweise in einer Schneiderei, auf einer Baustelle und bei einem Juwelier gearbeitet, wobei er lediglich einfache Hilfstätigkeiten verrichtete.

Der BF verfügt weder in Afghanistan noch im Iran über aufrechte familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte. Eine Kontaktaufnahme mit seinem Onkel, welcher ihn in das Kinderheim gebracht hatte, ist gescheitert. Der BF ist mit den örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan nicht vertraut. Er verließ den Iran, weil er dort über keine Aufenthaltsberechtigung verfügte und befürchtete, entweder in den Krieg nach Syrien geschickt oder nach Afghanistan abgeschoben zu werden.

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im Jahr 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Der BF leidet gelegentlich an Migräneanfällen bzw. starken Kopfschmerzen und nimmt bei Bedarf Medikamente (Schmerzmittel) ein. Der BF ist uneingeschränkt arbeitsfähig.

In Österreich besuchte der BF mehrere Deutschkurse, Workshops und nahm an Bildungsberatungen teil. Im Jahr 2017 absolvierte er die Übergangsstufe an der BMHS und begann im Anschluss daran eine Lehre als Koch bei der XXXX . Am 19.02.2021 hat der BF die Lehrabschlussprüfung beim zweiten Versuch bestanden. Nachdem der BF zwischenzeitig Corona-bedingt von seinem Arbeitgeber abgemeldet wurde, ist er seit 17.05.2021 wieder bei der XXXX beschäftigt. Der BF wird von seinem Arbeitgeber wegen seiner fleißigen, netten und ehrlichen Art sehr geschätzt. Der BF hat sich während der Corona-Krise ehrenamtlich bei der Gemeinde XXXX engagiert und Einkaufsdienste für einer COVID-Risikogruppe zugehörige Personen im Ort übernommen. Der BF verfügt über einen österreichischen Freundeskreis, mit denen er seine Freizeit verbringt.

Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

Quellen: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021, EASO Leitlinien zu Afghanistan von Juni 2019:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, S 23).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, S 34).

Drei Behörden sind für die Sicherheit in Afghanistan zuständig: Das afghanische Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das Nationale Direktorat für Sicherheit (NDS). Die dem Innenministerium unterstellte Afghanische Nationalpolizei (ANP) trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die Afghan Local Police (ALP), eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht in der Lage ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Im Juni 2020 kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afghanische Lokalpolizei in andere Zweige der Sicherheitskräfte einzugliedern, vorausgesetzt, die Personen können eine Bilanz vorweisen, die frei von Vorwürfen der Korruption und Menschenrechtsverletzungen ist. Ende 2020 war die Umsetzung dieser Pläne im Gange. Die Major Crimes Task Force, die ebenfalls dem Innenministerium unterstellt ist, untersucht schwere Straftaten, darunter Korruption der Regierung, Menschenhandel und kriminelle Organisationen. Die Afghanische Nationalarmee (ANA), die dem Verteidigungsministerium untersteht, ist für die äußere Sicherheit zuständig, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Aufstandsbekämpfung im Inneren. Das NDS fungiert als Nachrichtendienst und ist für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen (USDOS 30.3.2021). Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (USDOD 1.7.2020). (LIB S 266)

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB S 239).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB S 37)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88. Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt.

Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein.

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB S 27f).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB S 34f).

UNHCR: Afghanistan ist weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen, bei dem die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), unterstützt von den internationalen Streitkräften, mehreren regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) gegenüberstehen.

Dem UN-Generalsekretär zufolge steht Afghanistan weiterhin vor immensen sicherheitsbezogenen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Sicherheitslage soll sich insgesamt weiter verschlechtert und zu einer sogenannten „erodierenden Pattsituation“ geführt haben. Berichten zufolge haben sich die ANDSF grundsätzlich als fähig erwiesen, die Provinzhauptstädte und die wichtigsten städtischen Zentren zu verteidigen, im ländlichen Raum hingegen mussten sie beträchtliche Gebiete den Taliban überlassen.

Von dem Konflikt sind weiterhin alle Landesteile betroffen. Seit dem Beschluss der Regierung, Bevölkerungszentren und strategische ländliche Gebiete zu verteidigen, haben sich die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) und der afghanischen Regierung intensiviert. Es wird berichtet, dass regierungsfeindliche Kräfte immer öfter bewusst auf Zivilisten gerichtete Anschläge durchführen, vor allem durch Selbstmordanschläge mit improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und komplexe Angriffe. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) setzen ihre groß angelegten Angriffe in Kabul und anderen Städten fort und festigen ihre Kontrolle über ländliche Gebiete. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit und Effektivität der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) geäußert, die Sicherheit und Stabilität in ganz Afghanistan zu gewährleisten.

Trotz der ausdrücklichen Verpflichtung der afghanischen Regierung, ihre nationalen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten, ist der durch sie geleistete Schutz der Menschenrechte weiterhin inkonsistent. Große Teile der Bevölkerung einschließlich Frauen, Kindern, ethnischer Minderheiten, Häftlingen und anderer Gruppen sind Berichten zufolge weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden laut Berichten in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betreffenden Gebiete tatsächlich kontrolliert. In von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es Berichten zufolge regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und seine Vertreter. In Gebieten, die (teilweise) von regierungsnahen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, begehen diese Berichten zufolge straflos Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich sind in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten Menschenrechtsverletzungen, darunter durch die Etablierung paralleler Justizstrukturen, weit verbreitet. Zusätzlich begehen sowohl staatliche wie auch nicht-staatliche Akteure Berichten zufolge außerhalb der von ihnen jeweils kontrollierten Gebiete Menschenrechtsverletzungen. Aus Berichten geht hervor, dass besonders schwere Menschenrechtsverletzungen insbesondere in umkämpften Gebieten weit verbreitet sind.

Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der nach nationalem und internationalem Recht bestehenden Verpflichtung Afghanistans diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsführung Afghanistans und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung.

Gemäß der Verfassung darf niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren festgenommen oder inhaftiert werden. Die Verfassung enthält außerdem ein absolutes Verbot des Einsatzes von Folter. Der Einsatz von Folter stellt nach dem Strafgesetzbuch eine Straftat dar, während die harte Bestrafung von Kindern durch das Jugendgesetz untersagt ist. Darüber hinausverabschiedete das Oberhaus der Nationalversammlung im Januar 2018 den konsolidierten Wortlaut eines neuen Anti-Folter-Gesetzes.

Trotz dieser Rechtsgarantien bestehen Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gegenüber Häftlingen, insbesondere von im Zusammenhang mit dem Konflikt verhafteten Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird und die in Gefängnissen des Inlandsgeheimdienstes (NDS), der afghanischen nationalen Polizei (ANP) (einschließlich der afghanischen nationalen Grenzpolizei ANBP), der afghanischen nationalen Streitkräfte (ANA) und der afghanischen lokalen Polizei (ALP) inhaftiert sind. UNAMA berichtete 2017, dass in vom Inlandsgeheimdienst (NDS) betriebenen Gefängnissen in fünf Provinzen „systematisch oder regelmäßig und weitverbreitet“ gefoltert wird und dass „ausreichend glaubhaften und verlässlichen Berichten zufolge in 17 anderen Provinz- oder staatlichen Einrichtungen des Inlandsgeheimdienstes gefoltert wird“. UNAMA dokumentierte außerdem „systematische Folterung und Misshandlung” in Haftanstalten der afghanischen nationalen Polizei (ANP) oder der afghanischen nationalen Grenzpolizei (ANBP) in den Provinzen Kandahar und Nangarhar sowie „Berichte über Verstöße in 20 anderen Provinzen, wobei die Behandlung von Häftlingen durch die ANP in den Provinzen Farah und Herat” besondere Sorge bereitet. Unter den Inhaftierten, bei denen die Anwendung von Folter festgestellt wurde, befanden sich auch Kinder.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde weiters durch Abhaltung der mündlichen Verhandlung vom 05.05.2021.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit des BF, ferner zu seiner Schulbildung und Berufserfahrung beruhen auf seinen plausiblen, im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben. Sein Geburtsdatum wurde auf Grundlage eines medizinischen Gutachtens festgelegt. Sein aktueller Wohnort ergibt sich aus dem zentralen Melderegister der Republik Österreich. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem österreichischen Strafregister.

Die Feststellungen zu den individuellen Verhältnissen des BF, v.a. hinsichtlich des Fehlens eines familiären oder sozialen Netzes in Afghanistan, beruhen auf seinen diesbezüglich glaubwürdigen Angaben, zuletzt in der mündlichen Verhandlung. Da der BF Afghanistan bereits in seiner frühen Kindheit verlassen hat und seither nicht mehr zurückgekehrt ist, erscheint es nachvollziehbar, dass kein Kontakt zu Personen in Afghanistan besteht bzw. dass der BF keine Angaben über etwaige noch im Herkunftsstaat aufhältige Verwandte machen konnte. Es war daher festzustellen, dass der BF über keinerlei familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan verfügt. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit des BF ergeben sich aus seinem eigenen Vorbringen, zuletzt in der mündlichen Verhandlung.

Betreffend die Integration des BF in Österreich wurden dessen Angaben im Verfahren sowie die im Laufe des Verfahrens vorgelegten Unterlagen den Feststellungen zugrunde gelegt. Die Feststellungen zu seinen in Österreich besuchten Kursen und Workshops ergeben sich aus den vorgelegten Teilnahmebestätigungen und Zertifikaten. Dass der BF seine Lehre erfolgreich abgeschlossen hat, ergibt sich aus dem vorgelegten Zertifikat über die positiv absolvierte Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Koch vom 19.02.2021. Dass der BF aktuell wieder bei seinem Ausbildungsbetrieb arbeitet, ergibt sich aus der vorgelegten Meldung der Beschäftigungsaufnahme, wonach der BF am 17.05.2021 seine Beschäftigung bei der XXXX aufgenommen hat. Die Feststellungen zur ehrenamtlichen Tätigkeit ergeben sich aus den vorgelegten Dankes- bzw. Empfehlungsschreiben.

Soweit anlässlich der Erstbefragung XXXX als Geburtsjahr de BF protokolliert wurde, während die nachfolgende Altersfeststellung das fiktive Geburtsdatum XXXX ergab, so hat der BF nachvollziehbar dargelegt, dass er sein genaues Geburtsdatum nicht kenne, und sich auf die Daten gestützt habe, die im Kinderheim geführt wurden. Die Glaubwürdigkeit des BF ist daher aus diesem Grund nicht anzuzweifeln.

Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Quellen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides; Einstellung des Verfahrens:

Soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gerichtet hat, ergibt sich Folgendes:

Die Zurückziehung einer Beschwerde ist in jeder Lage des Verfahrens ab Einbringung der Beschwerde bis zur Erlassung der Entscheidung möglich (§ 7 Abs. 2 VwGVG, § 17 VwGVG iVm § 13 Abs. 7 AVG).

Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerde, insoweit sie sich gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gerichtet hat, in der mündlichen Verhandlung vom 05.05.2021 zurückgezogen. Das Beschwerdeverfahren war daher insoweit einzustellen. Der angefochtene Bescheid wurde im Umfang seines Spruchpunktes I. rechtskräftig.

Zu Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides; Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten:

Soweit sich die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gerichtet hat, war zu prüfen, ob es begründete Anhaltspunkte dafür gibt, dass durch die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK verletzt werden würde:

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 3 und 6 AsylG ist der Asylantrag bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Daraus und aus mehreren anderen Vorschriften (§ 2 Abs. 1 Z 13, § 10 Abs. 1 Z 2, § 27 Abs. 2 und 4 und § 57 Abs. 11 Z 3 AsylG) ergibt sich, dass dann, wenn dem Asylwerber kein subsidiärer Schutz gewährt wird, sein Asylantrag auch in dieser Beziehung förmlich abzuweisen ist.

Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz setzt voraus, dass die Abschiebung des Betroffenen in seine Heimat entweder eine reale Gefahr einer Verletzung insbesondere von Art. 2 oder 3 EMRK bedeuten würde oder für ihn eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Herkunftsstaat des Betroffenen mit sich bringen würde.

Um von der realen Gefahr ("real risk") einer drohenden Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte eines Asylwerbers bei Rückkehr in seinen Heimatstaat ausgehen zu können, reicht es nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, wenn eine solche Gefahr bloß möglich ist. Es bedarf vielmehr einer darüberhinausgehenden Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Gefahr verwirklichen wird (vgl. VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016).

Für die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK setzt die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Einzelfallprüfung voraus. In diesem Zusammenhang sind konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 08.09.2016, Ra 2016/20/0063).

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 23.02.2016, Ra 2015/01/0134, ausgeführt hat, reicht es für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Afghanistan nicht aus, bloß auf die allgemeine schlechte Sicherheits- und Versorgungslage zu verweisen. Hinsichtlich der Sicherheitslage geht der Verwaltungsgerichtshof von einer kleinräumigen Betrachtungsweise aus, wobei er trotz der weiterhin als instabil bezeichneten Sicherheitslage eine Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere nach Mazar-e Sharif, im Hinblick auf die regional und sogar innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt unterschiedliche Sicherheitslage als nicht grundsätzlich ausgeschlossen betrachtet (vgl. VwGH 10.08.2017, Ra 2016/20/0369-11).

Da der BF Afghanistan im Alter von ca. zwei Jahren verlassen hat und keine Angaben über seinen Geburtsort machen konnte, kann dem BF keine „Heimatprovinz“ im eigentlichen Sinne zugewiesen werden.

Zur Frage einer innerstaatlichen Schutzalternative:

Selbst wenn einem Antragsteller in seiner Herkunftsregion eine Art. 3 EMRK-widrige Situation drohen sollte, ist seine Rückführung dennoch möglich, wenn ihm in einem anderen Landesteil seines Herkunftsstaates eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) zur Verfügung steht (§ 8 Abs. 3 AsylG).

Für die Prüfung einer innerstaatlichen Schutzalternative ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Schutzalternative ins Auge gefassten Gebiet Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiären Schutz rechtfertigen würden, gegeben sind. Daher scheidet das ins Auge gefasste Gebiet aus, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Art. 3 EMRK widersprechen. Von dieser Frage ist getrennt zu beurteilen, ob dem Asylwerber der Aufenthalt in diesem Gebiet zugemutet werden kann, bzw. dass vom ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem betreffenden Gebiet niederzulassen.

Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, muss es dem Asylwerber möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (VwGH 05.04.2018, Ra 2018/19/0154 mit Verweis auf VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).

UNHCR ist der Auffassung, dass angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.

Bei Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh, handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.

In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keine Lebensmittelknappheit. In Mazar-e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu Sanitäreinrichtungen.

Mazar-e Sharif und die Provinz Balkh sind historisch betrachtet das wirtschaftliche und politische Zentrum der Nordregion Afghanistans. Mazar-e Sharif profitierte dabei von seiner geografischen Lage, einer vergleichsweise effektiven Verwaltung und einer relativ guten Sicherheitslage (STDOK 21.7.2020; vgl. GoIRA 2015). Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten (GoIRA 2015). Die Arbeitsmarktsituation ist auch in Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer, einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden (STDOK 21.7.2020) (LIB S 367f).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt (ILO 5.2012; vgl. ACCORD 7.12.2018). Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (FAO 23.11.2018; vgl. Haider/Kumar 2018), wobei der landwirtschaftliche Sektor gemäß Prognosen der Weltbank im Jahr 2019 einen Anteil von 18,7% am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte (Industrie: 24,1%, tertiärer Sektor: 53,1%; WB 7.2019). 45% aller Beschäftigen arbeiten im Agrarsektor, 20% sind im Dienstleistungsbereich tätig (STDOK 10.2020; vgl. CSO 2018). Afghanistan erlebte von 2007 bis 2012 ein beispielloses Wirtschaftswachstum. Während die Gewinne dieses Wachstums stark konzentriert waren, kam es in diesem Zeitraum zu Fortschritten in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Seit 2014 verzeichnet die afghanische Wirtschaft ein langsames Wachstum (im Zeitraum 2014-2017 durchschnittlich 2,3%, 2003-2013: 9%) was mit dem Rückzug der internationalen Sicherheitskräfte, der damit einhergehenden Kürzung der internationalen Zuschüsse und einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Verbindung gebracht wird (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020). Im Jahr 2018 betrug die Wachstumsrate 1,8%. Das langsame Wachstum wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: einerseits hatte die schwere Dürre im Jahr 2018 negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft, andererseits verringerte sich das Vertrauen der Unternehmer und Investoren. Das Wirtschaftswachstum konnte sich zuletzt aufgrund der besseren Witterungsbedingungen für die Landwirtschaft erholen und lag 2019 laut Weltbank-Schätzungen bei 2,9%. Für 2020 geht die Weltbank COVID-19-bedingt von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (AA 16.7.2020; vgl. WB 4.2020). Eine Reihe von U.S.- Wirtschafts- und Sozialentwicklungsprogrammen haben ihre Ziele für das Jahr 2020, aufgrund COVID-19-bedingter Einschränkungen nicht erreicht (SIGAR 30.1.2021) (LIB S 356f).

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten.

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021). Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt.

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020). Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021) (LIB S 17f).

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt (AA 16.7.2020; AF 2018). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden (UNGASC 9.12.2020); .(LIB S 358f)).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 10.2020). Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert (STDOK 10.2020; vgl. Ahmend 2018; CSO 2018). 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen (AAN 3.12.2020; vgl.: CSO 2018). Schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten sind Tagelöhner, von denen sich eine unbestimmte Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammelt und nach Arbeit sucht, die, wenn sie gefunden wird, ihren Familien nur ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (AAN 3.12.2020). Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen (AA 16.7.2020; cf. IOM 18.3.2021) ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten (AAN 3.12.2020), auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (IOM 23.9.2020). Schätzungen zufolge sind rund 67% der Bevölkerung unter 25 Jahren alt (NSIA 1.6.2020; vgl. STDOK 10.2020). Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können (STDOK 4.2018). Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können (WB 8.2018; vgl. STDOK 10.2020, CSO 2018). In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar.

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich (STDOK 4.2018; vgl. CSO 2018).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (CSO 8.6.2017). Im Rahmen einer Befragung an 15.012 Personen gaben rund 36% der befragten Erwerbstätigen an, in der Landwirtschaft tätig zu sein (AF 2018).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 13.6.2019, STDOK 4.2018). Bei Ausschreibung einer Stelle in einem Unternehmen gibt es in der Regel eine sehr hohe Anzahl an Bewerbungen und durch persönliche Kontakte und Empfehlungen wird mitunter Einfluss und Druck auf den Arbeitgeber ausgeübt (STDOK 13.6.2019). Eine im Jahr 2012 von der ILO durchgeführte Studie über die Beschäftigungsverhältnisse in Afghanistan bestätigt, dass Arbeitgeber persönliche Beziehungen und Netzwerke höher bewerten als formelle Qualifikationen. Analysen der norwegischen COI-Einheit Landinfo zufolge gibt es keine Hinweise, dass sich die Situation seit 2012 geändert hätte (STDOK 4.2018). In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (CSO 2018; vgl. IOM 18.3.2021).

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (VIDC 1.2021; vgl. IOM KBL 30.4.2020, MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019 IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert (STDOK 13.6.2019).

Haben die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder haben sie zusammen mit der gesamten Familie Afghanistan verlassen, ist es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt ist. Dies kann die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stellt für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Der Zugang zum Arbeitsmarkt hängt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Die afghanische Regierung kooperiert mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung, vulnerable Personen einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran zu unterstützen, bleibt begrenzt und ist weiterhin von der Hilfe der internationalen Gemeinschaft abhängig. Moscheen unterstützen in der Regel nur besonders vulnerable Personen und für eine begrenzte Zeit.

Viele Rückkehrer, die wieder in Afghanistan sind, werden de-facto IDPs, weil die Konfliktsituation sowie das Fehlen an gemeinschaftlichen Netzwerken sie daran hindert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Viele Rückkehrer leben in informellen Siedlungen, selbstgebauten Unterkünften oder gemieteten Wohnungen. Die meisten Rückkehrer im Osten des Landes leben in überbelegten Unterkünften und sind von fehlenden Möglichkeiten zum Bestreiten des Lebensunterhaltes betroffen (UNOCHA 12.2018).(LIB S 359f).

Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist es einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. VwGH 13.02.2020, Ra 2019/01/0488).

Der Verfassungsgerichtshof verweist zur Frage der innerstaatlichen Schutzalternative für afghanische Staatsangehörige, die außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, auf die notwendige Berücksichtigung der EASO-Country Guidance (Stand Juni 2019):

Danach sind für jene Rückkehrer, die außerhalb Afghanistans geboren wurden und/oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, qualifizierte Umstände erforderlich, um von einer im Hinblick auf Art. 2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können: Die wesentlichen Kriterien bestehen im Vorhandensein eines Unterstützungsnetzwerks oder sonstiger besonderer Verbindungen zu Afghanistan, weiters im Vorhandensein einer Ortskenntnis der betroffenen Person, ihrer Bildung und Berufserfahrung einschließlich ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl. VfGH E 3369/2019 vom 12.12.2019, E 1728/2020 vom 06.10.2020, E 1887/2020 vom 06.10.2020). Der VfGH hat in diesem Zusammenhang auf konkrete Sachverhalte Bezug genommen. Daraus ist folgendes abzuleiten: Fehlt ein einschlägiges Unterstützungsnetzwerk so spricht fehlende Schulbildung gegen das Bestehen einer Selbsterhaltungsfähigkeit im oben genannten Sinn (E 744/2020 vom 23.02.2021). Fehlt ein einschlägiges Unterstützungsnetzwerk, so führt außerhalb Afghanistans erworbene Schulbildung und Berufserfahrung nicht ohne weiters zu dem Schluss, dass der Rückkehrende aktuell in der Lage wäre, sich in Afghanistan oh

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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