Entscheidungsdatum
23.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W250 2241896-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2021 XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 25.07.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 26.07.2020 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er in Pakistan geboren sei und nach Afghanistan abgeschoben worden sei, weil er in Pakistan illegal aufhältig gewesen sei. In Afghanistan, in Kunar, habe er keine Unterkunft gehabt und nicht gewusst wie er dort überleben soll. Er habe zwei Monate in Kunar verbracht und dort die Taliban und ständige Gefechte gesehen. Aus Angst um sein Leben habe er das Land verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wüsste der Beschwerdeführer nicht wie er dort überleben solle.
3. Am 27.10.2020 wurde der Beschwerdeführer von seiner Unterkunft abgemeldet.
4. Mit Aktenvermerk des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.10.2020 wurde das Asylverfahren des Beschwerdeführers gemäß § 24 Abs. 1 Z 2 und Abs. 2 Asylgesetz 2005 – AsylG eingestellt, da der Aufenthaltsort des Beschwerdeführers wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht weder bekannt noch sonst leicht feststellbar war. Der Beschwerdeführer hatte die Unterkunft der Betreuungseinrichtung ohne Angabe einer weiteren Anschrift verlassen.
5. Am 15.03.2021 wurde der Beschwerdeführer aus Frankreich rücküberstellt und das Asylverfahren fortgesetzt.
6. Am 25.03.2021 fand eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Weiteren bezeichnet als Bundesamt bzw. belangte Behörde) statt. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er sich noch nie in Afghanistan aufgehalten habe und bei der Erstbefragung sowie bei der Befragung im Asylverfahren in Frankreich falsche Angaben gemacht habe. Er sei in Pakistan geboren und aufgewachsen und sei noch nie in Afghanistan gewesen. In Afghanistan sei es sehr gefährlich und es gäbe ständig Anschläge. Dies wisse er durch die Nachrichten. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst vor den Taliban.
7. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30.03.2021, zugestellt am 07.04.2021, wies die belangte Behörde sowohl den Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch jenen auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz – BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
Die belangte Behörde führte begründend im Wesentlichen aus, es liege im Fall des Beschwerdeführers keine Gefährdungslage in Bezug auf Afghanistan vor. Die von ihm geltend gemachten Gründe seien nicht asylrelevant und können demnach auch nicht zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und in weiterer Folge zur Gewährung des Asylstatus führen. Der Beschwerdeführer sei als Person unglaubwürdig. Er habe zudem vorgebracht, dass er niemals einer persönlichen Gefährdung ausgesetzt gewesen sei.
Dem Beschwerdeführer sei eine Neuansiedlung in Mazar-e-Sharif jedenfalls möglich und auch zumutbar. Er stamme aus der Provinz Kunar in Afghanistan stammen, er sei in Afghanistan wohnhaft gewesen und habe neben seinen Eltern und einer Schwester in der Türkei, und zwei Brüdern im Iran, auch noch zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester die in Afghanistan leben. Diese könnten ihn bei einer Rückkehr unterstützen. Zudem sei er ein gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter.
Ein schützenswertes Privat- oder Familienleben stellte die belangte Behörde nicht fest.
8. Mit Schreiben vom 22.04.2021, eingelangt am 22.04.2021, erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuung und Unterstützungsleistungen GmbH, fristgerecht und vollumfänglich Beschwerde gegen den obengenannten Bescheid. Darin beantragte er die Gewährung des Status des Asylberechtigten, in eventu die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Behebung des Bescheides und die Zurückverweisung an die belangte Behörde, die Feststellung das eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, sowie die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
In der Beschwerde brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er sei in Pakistan geboren und aufgewachsen und habe sich noch nie in Afghanistan aufgehalten. In Afghanistan habe er auch keinerlei familiären Rückhalt. Bei der Erstbefragung habe er falsche Angaben gemacht, es würden jene Angaben aus der niederschriftlichen Einvernahme stimmen. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei ihm nicht zumutbar.
9. Am 27.04.2021 langte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht ein.
10. Mit Schreiben vom 31.05.2021 legte die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH die ihr vom Beschwerdeführer am 19.04.2021 erteilte Vollmacht im Beschwerdeverfahren zurück.
11. Am 02.06.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung unter Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu anberaumt, zu welcher der Beschwerdeführer nicht erschien. Die Ladung wurde der damaligen Rechtsvertreterin des BF am 30.04.2021 zugestellt. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zum Beschwerdeführer:
1.1.1. Zu seiner Person:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Der Beschwerdeführer spricht Paschtu als Muttersprache, er spricht außerdem noch ein wenig Dari und ein wenig Englisch (AS 156, AS 157).
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Kunar in Afghanistan. Er war in Afghanistan wohnhaft.
Der Beschwerdeführer ist gesund.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig. Er besuchte ab dem Alter von sechs Jahren, für sechs Jahre lang eine Schule. Im Alter von 14 Jahren begann er zu arbeiten. Zunächst arbeitete der Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter und dann in einer Chips-Fabrik. Insgesamt arbeitete er drei Jahre lang (AS 157 bis AS 159).
Der Beschwerdeführer hat einen Vater, eine Mutter und eine elfjährige Schwester die sich in der Türkei aufhalten (AS 157). Der Vater des Beschwerdeführers arbeitet in einer Fabrik (AS 162). Zwei Brüder des Beschwerdeführers, neun und fünfzehn Jahre alt, leben und arbeiten im Iran (AS 157). Der Beschwerdeführer hat zwei ältere Brüder sowie eine ältere Schwester die in Afghanistan leben.
Die Heimatprovinz der Eltern des Beschwerdeführers ist Kunar in Afghanistan (AS 161). Der Beschwerdeführer hat noch einen Onkel väterlicherseits in Pakistan und eine Tante mütterlicherseits in XXXX in Afghanistan (AS 161).
Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinen Familienangehörigen (AS 162).
1.1.2. Zur fehlenden Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer machte über das Verfahren hinweg durchwegs widersprüchliche Angaben über seine Herkunft, seinen Fluchtweg, seine Familienverhältnisse und seinen Fluchtgrund. Er gab zu, im Asylverfahren mehrmals gelogen zu haben. Der Beschwerdeführer ist nicht glaubwürdig. Sein Vorbringen kann nicht als glaubhaft gewertet werden.
1.1.3. Zur vorgebrachten Bedrohung durch die Taliban:
1.1.3.1. Der Beschwerdeführer wurde weder von den Taliban noch von jemand anderem in Afghanistan persönlich bedroht. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Ihm droht keine Verfolgung aus Gründen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung.
Der Beschwerdeführer hat im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine gegen ihn gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder durch Private, im speziellen durch die Taliban, nicht zu erwarten.
1.1.3.2. Darüber hinaus droht dem Beschwerdeführer wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sunniten oder zur Volksgruppe der Paschtunen konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt in Afghanistan. Angehörige der Religionsgemeinschaft der Sunniten oder der Volksgruppe der Paschtunen sind in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Religionszugehörigkeit zu den Sunniten konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
Der Beschwerdeführer war in Afghanistan wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Paschtunen konkret und individuell weder physischer noch psychischer Gewalt ausgesetzt.
1.1.3.3. Der Beschwerdeführer ist aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seines Aufenthalts in einem europäischen Land in Afghanistan weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist und die ihn in Afghanistan exponieren würde.
1.1.4. Zu seinen Rückkehrmöglichkeiten nach Afghanistan:
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Kunar aufgrund der volatilen Sicherheitslage in dieser Provinz ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in die Provinz Kunar ist individuell nicht zumutbar.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung insbesondere in der Stadt Mazar-e Sharif besteht für den Beschwerdeführer als alleinstehenden gesunden leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter, ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf, kein Risiko eines Eingriffs in seine körperliche Unversehrtheit und es liefe der Beschwerdeführer auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann Mazar-e Sharif von Österreich sicher mit dem Flugzeug erreichen.
Der Beschwerdeführer stammt aus Afghanistan, er hat sowohl eine Schulausbildung als auch Berufserfahrung und verfügt über Familienangehörige in Afghanistan. Der Beschwerdeführer hat sich bereits in mehreren Ländern (Pakistan, Iran, Türkei) aufgehalten und dort auf sich alleine gestellt für sein Fortkommen gesorgt.
Die aktuell vorherrschende COVID-19 Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Der Beschwerdeführer ist gesund (AS 156) und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19 Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.
1.1.5. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder (AS 162), er hat keine verwandtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet (AS 163).
Der Beschwerdeführer setzte keine integrationsbegründenden Schritte in Österreich (AS 163).
Er hielt sich seit seiner Antragstellung im Juli 2020 nicht durchgehend im Bundesgebiet auf. Er verließ Österreich und reiste nach Frankreich wo er unter Angabe anderer Identitätsdaten einen erneuten Asylantrag stellte (AS 158).
Der Beschwerdeführer hat sich keine Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet.
Zu seinem Herkunftsstaat Afghanistan bestehen nach wie vor maßgeblichen Bindungen, seine älteren Geschwister leben in Afghanistan. Seine Eltern leben in der Türkei, zu diesen hat er regelmäßig Kontakt.
Der momentane Aufenthaltsort des Beschwerdeführers ist unbekannt. Der Beschwerdeführer ist seit 02.06.2021 nicht mehr in Österreich behördlich gemeldet. Er bezieht keine Grundversorgung, da er unbekannten Aufenthalts ist.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Im Verfahren wurden folgende Quellen zum Herkunftsstaat des Beschwerdeführers herangezogen:
? Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 14.12.2020
? UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018
1.2.1. Zur COVID-19 Situation in Afghanistan
„Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).
Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).“
1.2.2. Zur allgemeinen Sicherheitslage
„Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).
Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).
Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).“
1.2.3. Taliban
„Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).
Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).
Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jallaloudine Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).
Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).
Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).
Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).
Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).“
1.2.4. Paschtunen
„Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze (USDOS 11.3.2020). Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).
Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben (STDOK 7.2016).
Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Passhtunwali zusammengefasst werden (STDOK 7.2016; vgl. NYT 10.6.2019) und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen (STDOK 7.2016).
Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung (BBC 26.5.2016; vgl. RFE/RL 13.11.2018, EASO 9.2016, AAN 4.2011), werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen (EASO 9.2016). Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen (RFE/RL 13.11.2018; vgl. AAN 4.2011, EASO 9.2016). Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (EASO 9.2016).
Anmerkung: Ausführliche Informationen zu Paschtunen und dem Paschtunwali können dem Dossier der Staatendokumentation (7.2016) entnommen werden.“
1.2.5. Zur Herkunftsprovinz Kunar
„Kunar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Nuristan, im Osten an Pakistan (Provinz Khyber Pakhtunkhwa), im Süden an Nangarhar und im Westen an Laghman (NPS Kunar o.D.; vgl. UNOCHA Kunar 4.2014). Neben der Provinzhauptstadt Asad Abad ist die Provinz in die folgenden Distrikte unterteilt: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor und Sheltan (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kunar 2019, UNOCHA Kunar 4.2014, NPS Kunar o.D., OP Kunar 1.2.2017). Sheltan ist als „temporärer Distrikt“ definiert (NSIA 1.6.2020), was bedeutet, dass seine Schaffung nach dem Inkrafttreten der Verfassung von 2004 aufgrund von Sicherheitsbedenken oder anderen Gründen vom Präsidenten beschlossen wurde, aber sein Status als Distrikt vom afghanischen Parlament noch nicht genehmigt wurde (AAN 16.8.2018).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kunar im Zeitraum 2020-21 auf 499.393? Personen (NSIA 1.6.2020). Kunar wird hauptsächlich von Paschtunen bewohnt, gefolgt von Pashai und Nuristani (NPS Kunar o.D.; vgl. OP Kunar 1.2.2017).
Eine Straße erster Ordnung verbindet Asad Abad mit Jalalabad im Südwesten sowie mit einem Grenzübergang zu Pakistan im Nordosten. Zusätzlich führt eine Nebenstraße von Asad Abad nach Osten zur pakistanischen Grenze. Eine weitere Straße verbindet Kunar mit Nuristan (LCA 24.4.2019). Inoffizielle, befahrbare Grenzübergänge zwischen Pakistan und Kunar gibt es in den Distrikten Sar Kani, Marawara und Nari (AAN 28.1.2020). Die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan wurde im 19. Jahrhundert von den Briten gezogen, wodurch die paschtunischen Stämme gespalten wurden. Die aufeinander folgenden afghanischen Regierungen haben die Legitimität dieser Teilung als offizielle Grenze, die als Durand-Linie bekannt ist, infrage gestellt. Die Bemühungen der pakistanischen Regierung, befestigte Zäune und Kontrollpunkte entlang der Grenze zu bauen, haben afghanische Regierungsvertreter und Gemeinden in der Region verärgert (NYT 31.7.2020; vgl. AN 16.7.2020, TN 8.6.2020, TRT 3/2.2.2020). Der Zaun trennt Familien, die auf verschiedenen Seiten der Grenze leben (TN 8.6.2020). Scharmützel und grenzüberschreitender Beschuss zwischen afghanischen und pakistanischen Streitkräften wurden im Jahr 2020 (RJ 19.10.2020, AN 16.7.2020, TRT 3/2.2.2020, MENAFN 20.1.2020) und davor gemeldet (TN 8.6.2020). Im Juli 2020 starben sechs Zivilisten bei einem solchen Ereignis (AN 16.7.2020).
In einigen Distrikten von Kunar werden illegal Edelsteine abgebaut. Die mit diesen Steinen erzielten Gewinne tragen Berichten zufolge zur Fortsetzung des Konflikts bei (RFE/RL 24.4.2020).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteuren
Kunar gehört zu den volatilen Provinzen im Osten Afghanistans, in denen Militante des Islamischen Staates Provinz Khorasan (ISKP) sowie Aufständische von Gruppen wie den Taliban und Al Qaida in einigen seiner unruhigen Distrikte eine beträchtliche Präsenz haben (KP 5.3.2020). Nach Einschätzungen des Long War Journal (LWJ) befand sich der Distrikt Chapa Dara im November 2020 unter Talibankontrolle, während die übrigen Distrikte mit Ausnahme der Provinzhauptstadt, welche unter Regierungskontrolle stand, als umkämpft galten (LWJ o.D.). Eine andere Quelle berichtet, dass sich ein Großteil des Distrikts Marawara seit neun Jahren unter Talibankontrolle befindet (WP 12.7.2020).
Nach der Niederlage des ISKP in Nangarhar wurde Kunar zur verbleibenden Bastion eines geschwächten Islamischen Staats in Afghanistan (AAN 1.3.2020; vgl. UNSC 4/2.2.2020), obwohl er auch in dieser Provinz weiterhin Verluste zu verzeichnen hat (UNSC 4.8.2020; vgl. UNSC 27.5.2020, USDOD 1.7.2020). Schätzungen zur Stärke des ISKP in Kunar schwankten in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zwischen 1.000 (VOA 12.5.2020, TN 8.1.2020) und 2.100 Kämpfern (UNSC 4.2.2020; vgl. UNSC 27.5.2020). Al Qaida ist in Kunar verdeckt aktiv (UNSC 27.5.2020; vgl. AT 14.3.2020). Tehrik-e-Taliban Pakistan (TTP) (UNSC 27.5.2020; vgl. Dawn 14.2.2020), Jaish-i-Mohammed und Lashkar-e-Tayyiba sind ebenfalls in der Provinz präsent (UNSC 27.5.2020).
Auf Regierungsseite befindet sich Kunar im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) "Silab" Corps (USDOD 1.7.2020, KP 5.3.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 256 zivile Opfer (77 Tote und 179 Verletzte) in der Provinz Kunar. Dies entspricht einem Rückgang von 36% gegenüber 2018. Die Hauptursachen für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO), Landminen und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).
Taliban- und ISKP-Mitglieder kämpfen in Kunar sowohl gegeneinander als auch gegen die Regierungstruppen (VOA 23.12.2019; vgl. AAN 18.7.2020, VOA 20.3.2020, UNOCHA 9.3.2020). Die Taliban starteten im Frühjahr 2020 eine Offensive gegen den ISKP (VOA 20.3.2020) und auch die US-amerikanischen sowie afghanischen Regierungstruppen führten Operationen gegen den Islamischen Staat in Kunar durch (XI 5.8.2020b, VOA 20.3.2020, KP 5.3.2020, SAS 25/2.2.2020). Anonymen Militärvertretern zufolge halfen die US-Streitkräfte den gegen den ISKP kämpfenden Taliban, indem sie Taliban-Einheiten, die in Kämpfe gegen den ISKP verwickelt waren nicht angriffen (VOA 20.3.2020) und strategische Luftangriffe gegen Stellungen des ISKP im Vorfeld von Angriffen der Taliban gegen diese Stellungen durchführten (WP 22.10.2020).
Auch wurde im Jahr 2020 über Kämpfe zwischen Regierungstruppen und den Taliban bzw. Angriffe der Taliban auf Regierungsposten in Kunar berichtet (NYTM 1.10.2020, PAJ 22.8.2020, XI 15.8.2020b, XI 7.6.2020, GW 8.4.2020). Darüber hinaus kam es in der Provinz zu Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand (AnA 14.10.2020, AnA 13.2.2020b) sowie eines an einem Fahrzeug angebrachten improvisierten Sprengkörpers (vehicle-borne improvised explosive device, VBIED) (NYTM 1.10.2020) und zu Entführungen (UNAMA 6.2020).“
1.2.6. Balkh und Mazar-e Sharif
„Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Balkh 2019).
Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 1.6.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 8.7.2020).
Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 4.7.2018).
Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.7.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.5.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.7.2020; vgl. TN 20.12.2019).
In Mazar-e Sharif gibt es einen Flughafen mit Linienverkehr zu nationalen und internationalen Zielen (Kam Air Balkh o.D.; BFA Staatendokumentation 25.3.2019).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert (KP 10.2.2020; STDOK 21.7.2020), da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen (KP 10.2.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz, wobei mit Stand Oktober 2019 keine städtischen Zentren unter ihrer Kontrolle standen (STDOK 21.7.2020). Anfang Oktober 2020 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Char Bolak, Chimtal und Zari als umkämpft galten (LWJ o.D.).
Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher, jedoch fanden 2019 beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs) statt, meist in der Nähe der Blauen Moschee. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen (STDOK 21.7.2020). Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften (NYT 16.12.2019; REU 14.3.2019).
Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) "Shaheen" Corps (USDOD 1.7.2020; TN 22.4.2018), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) "Shaheen" Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi (TN 22.4.2018). Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert (SP 7.4.2019). Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz (USDOD 1.7.2020).
Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 22% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020). Im Zeitraum 1.1.-30.9.2020 dokumentierte UNAMA 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) in der Provinz, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist (UNAMA 10.2020). Im ersten Halbjahr 2020 war hinsichtlich der Opferzahlen die Zivilbevölkerung in den Provinzen Balkh und Kabul am stärksten vom Konflikt in Afghanistan betroffen (UNAMA 7.2020).
Der UN-Generalsekretär zählte Balkh in seinen quartalsweise erscheinenden Berichten über die Sicherheitslage in Afghanistan im März und Juni 2020 zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (UNGASC 17.6.2020; UNGASC 17.3.2020; vgl. LWJ 10.3.2020) und auch im September galt Balkh als eine der Provinzen mit den schwersten Talibanangriffen im Land (BAMF 14.9.2020). Es kam zu direkten Kämpfen (UNOCHA 23.9.2020; AJ 1.5.2020; DH 8.4.2020) und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren (UNOCHA 23.7.2020; REU 1.5.2020; UNOCHA 26.2.2020) oder Sicherheitsposten (NYTM 1.10.2020; NYTM 28.8.2020; AnA 18.3.2020; XI 7.1.2020). Die Regierungskräfte führten Räumungsoperationen durch (AN 25.6.2020; MENAFN 24.3.2020; AA 18.3.2020; XI 25.1.2020).
Ebenso wurde von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.8.2020), aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) (TN 25.8.2020; RFE/RL 25.8.2020; vgl. NYTM 28.8.2020) sowie Selbstmordanschlägen berichtet (TN 25.8.2020; RFE/RL 25.8.2020; RFE/RL 19.9.2020). Auch in Mazar-e Sharif kam es wiederholt zu IED-Anschlägen (NYTM 1.10.2020; AN 19.9.2020; TN 1.7.2020; AP 14.1.2020; TN 4.1.2020). Zudem wurde von der Entführung (DH 8.4.2020) und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (NYTM 1.10.2020; DH 8.4.2020).“
1.2.7. Interne Schutzalternative aus den UNHCR Richtlinien
„1. Analyse der Relevanz
I. Gebiete in Afghanistan, die keine interne Schutzalternative bieten Im Lichte der verfügbaren Informationen über schwerwiegende und weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) in den von ihnen kontrollierten Gebieten sowie der Unfähigkeit des Staates, für Schutz vor derartigen Verletzungen in diesen Gebieten zu sorgen, ist UNHCR der Ansicht, dass eine interne Schutzalternative in Gebieten des Landes, die sich unter der tatsächlichen Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte (AGEs) befinden, nicht gegeben ist, es sei denn in Ausnahmefällen, in denen Antragstellende über zuvor hergestellte Verbindungen zur Führung der regierungsfeindlichen Kräfte (AGEs) im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfügen. UNHCR ist der Auffassung, dass eine interne Schutzalternative auch in den von aktiven Kampfhandlungen zwischen regierungsnahen und regierungsfeindlichen Kräften oder zwischen verschiedenen regierungsfeindlichen Kräften betroffenen Gebieten nicht gegeben ist.
II. Prüfung, ob der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet der ursprünglichen Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wäre Ein als interne Schutzalternative vorgeschlagenes Gebiet wäre nicht relevant, wenn der Antragsteller in diesem Gebiet der ursprünglichen Gefahr der Verfolgung ausgesetzt wäre.
1. Hat der Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung durch den Staat oder in dessen Auftrag handelnde Stellen, ist davon auszugehen, dass Überlegungen hinsichtlich einer internen Schutzalternative nicht relevant sind.
2. Hat der Antragsteller begründete Furcht vor Verfolgung, die von Mitgliedern der Gesellschaft aufgrund schädlicher traditioneller Bräuche und religiöser Normen ausgeht, die Verfolgungscharakter aufweisen, so muss die Akzeptanz solcher Normen und Bräuche in weiten Teilen der Gesellschaft und die einflussreichen konservativen Elemente auf allen Ebenen der Regierung als ein Faktor in Betracht gezogen werden, der gegen die Relevanz einer internen Schutzalternative spricht. UNHCR vertritt den Standpunkt, dass – verbunden mit den Nachweisen in Abschnitt II.C betreffend die eingeschränkte Fähigkeit des Staates, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten, – davon auszugehen ist, dass die Erwägung einer internen Schutzalternative in diesen Fällen nicht relevant ist.
3. In Fällen, in denen die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften ausgeht, muss die Relevanz einer vorgeschlagenen Schutzalternative unter Berücksichtigung einer Reihe verschiedener Elemente beurteilt werden.
(i) Geht die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften aus, muss berücksichtigt werden, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Akteure den Antragsteller im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet verfolgen. Angesichts des geografisch großen Wirkungsradius einiger regierungsfeindlicher Kräfte, einschließlich der Taliban und des Islamischen Staates, existiert für Personen, die durch solche Gruppen verfolgt werden, keine interne Schutzalternative.
(ii) Ferner müssen die Nachweise in Abschnitt II.C hinsichtlich der aufgrund ineffektiver Regierungsführung und weit verbreiteter Korruption eingeschränkten Fähigkeit des Staates, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen durch regierungsfeindliche Kräfte zu bieten, berücksichtigt werden.
III. Prüfung, ob der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet neuen Gefahren der Verfolgung oder anderen Form ernsthaften Schadens ausgesetzt wäre Neben den oben genannten Überlegungen zur ursprünglichen Form der Verfolgung im Heimatgebiet des Antragstellers muss der Entscheidungsträger auch nachweisen, dass der Antragsteller in dem als interne Schutzalternative vorgeschlagenen Gebiet keiner neuen Form der Verfolgung und keinem anderen ernsthaften Schaden – etwa infolge willkürlicher Gewalt – ausgesetzt wäre.
IV. Prüfung, ob das als interne Schutzalternative vorgeschlagene Gebiet praktisch, sicher und auf legalem Weg erreichbar ist.“
1.2.8. Bewegungsfreiheit
„Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 11.3.2020) [Anm.: siehe dazu auch Artikel 39 der afghanischen Verfassung (CoA 26.1.2004; vgl. FH 4.2.2019)]. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg (AA 16.7.2020). Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, FH 4.2.2019). In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht (FH 4.2.2019). Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein (USDOS 11.3.2020; vgl. STDOK 6.2020).
Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (AA 16.7.2020).
Die Stadt Kabul ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen und ethnisch gesehen vielfältig. Neuankömmlinge aus den Provinzen tendieren dazu, sich in Gegenden niederzulassen, wo sie ein gewisses Maß an Unterstützung ihrer Gemeinschaft erwarten können (sofern sie solche Kontakte haben) oder sich in jenem Stadtteil niederzulassen, der für sie am praktischsten sie ist, da viele von ihnen - zumindest anfangs - regelmäßig zurück in ihre Heimatprovinzen pendeln. Die Auswirkungen neuer Bewohner auf die Stadt sind schwer zu evaluieren. Bewohner der zentralen Stadtbereiche neigen zu öfteren Wohnortwechseln, um näher bei ihrer Arbeitsstätte zu wohnen oder um wirtschaftlichen Möglichkeiten und sicherheitsrelevanten Trends zu folgen. Diese ständigen Wohnortwechsel haben einen störenden Effekt auf soziale Netzwerke, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht „man kenne seine Nachbarn nicht mehr“ (AAN 19.3.2019).
Auch in größeren Städten erfolgt in der Regel eine Ansiedlung innerhalb von ethnisch geprägten Netzwerken und Wohnbezirken. Die Absorptionsfähigkeit der genutzten Ausweichmöglichkeiten, vor allem im Umfeld größerer Städte, ist durch die hohe Zahl der Binnenvertriebenen und der Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan bereits stark in Anspruch genommen. Dies schlägt sich sowohl in einem Anstieg der Lebenshaltungskosten als auch in einem erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt nieder (AA 16.7.2020).
Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen, für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangharhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr (AA 2.9.2019).“
1.2.9. Rückkehr
„In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Während der Großteil der Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan kommt, sinken die Anerkennungsquoten für Afghanen im Asylbereich in der Europäischen Union und die Zahl derer die freiwillig, unterstützt und zwangsweise nach Afghanistan zurückkehren nimmt zu (MMC 1.2019). Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen (IOM 7.5.2020).
Von 1.1.2020 bis 12.9.2020 sind 527.546 undokumentierter Afghanen aus Iran (523.196) und Pakistan (4.350) nach Afghanistan zurückgekehrt - in der Woche vom 6.9.2020 bis 12.9.2020 waren es ca. 21.500 undokumentierte Rückkehrer (UNHCR 17.9.2020). Im gesamten Jahr 2018 kehrten, im Vergleich dazu, aus den beiden Ländern insgesamt 805.850 nach Afghanistan zurück: 773.125 (laut AA 775.000) aus Iran und 32.725 (laut AA 46.000) aus Pakistan (IOM 5.1.2019, vgl. AA 16.7.2020). Die Anzahl der seit 1.1.2020 bis 31.7.2020 von IOM unterstützten Rückkehrer aus Iran (53.595) und Pakistan (1.731) beläuft sich auf 55.326 (IOM 29.8.2020).
Die freiwillige Rückkehr nach Afghanistan ist aktuell (Stand 24.9.2020) über den Luftweg möglich. Es gibt internationale Flüge nach Kabul, Mazar-e Sharif und Kandahar (IOM 23.9.2020; vgl. Flightradar 24.9.2020). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Flugverbindungen unzuverlässig sind - in Zeiten einer Pandemie können Flüge gestrichen oder verschoben werden (IOM 23.9.2020).
Seit 12.8.2020 ist der Spin Boldak Grenzübergang an der pakistanischen Grenze sieben Tage in der Woche für Fußgänger und Lastkraftwagen geöffnet (UNHCR 12.9.2020). Der pakistanische Grenzübergang in Torkham ist Montags und Dienstags für Rückkehrbewegungen nach Afghanistan und zusätzlich am Samstag für undokumentierte Rückkehrer und andere Fußgänger geöffnet (UNHCR 12.9.2020)
Die Wiedervereinigung mit der Familie wird meist zu Beginn von Rückkehrern als positiv empfunden und ist von großer Wichtigkeit im Hinblick auf eine erfolgreiche Reintegration (MMC 1.2019; vgl. IOM KBL 30.4.2020, Reach 10.2017). Ohne familiäre Netzwerke kann es sehr schwer sein sich selbst zu erhalten, da in Afghanistan vieles von sozialen Netzwerken abhängig ist. Eine Person ohne familiäres Netzwerk ist jedoch die Ausnahme und einige wenige Personen verfügen über keine Familienmitglieder in Afghanistan, da diese entweder nach Iran, Pakistan oder weiter nach Europa migrierten (IOM KBL 30.4.2020; vgl. Seefar 7.2018). Der Reintegrationsprozess der Rückkehrer ist oft durch einen schlechten psychosozialen Zustand charakterisiert. Viele Rückkehrer sind weniger selbsterhaltungsfähig als die meisten anderen Afghanen. Rückkehrerinnen sind von diesen Problemen im Besonderen betroffen (MMC 1.2019).
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 14.7.2020; IOM AUT 23.1.2020). Für Rückkehrer leisten UNHCR und IOM in der ersten Zeit Unterstützung. Bei der Anschlussunterstützung ist die Transition von humanitärer Hilfe hin zu Entwicklungszusammenarbeit nicht immer lückenlos. Wegen der hohen Fluktuation im Land und der notwendigen Zeit der Hilfsorganisationen, sich darauf einzustellen, ist Hilfe nicht immer sofort dort verfügbar, wo Rückkehrer sich niederlassen. UNHCR beklagt zudem, dass sich viele Rückkehrer in Gebieten befinden, die für Hilfsorganisationen aufgrund der Sicherheitslage nicht erreichbar sind (AA 16.7.2020).
Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich (IOM KBL 30.4.2020; vgl. MMC 1.2019, Reach 10.2017). Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk (STDOK 13.6.2019, IOM KBL 30.4.2020), auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage, d