TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/29 W177 2153375-1

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Veröffentlicht am 29.06.2021
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Entscheidungsdatum

29.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §52

Spruch


W177 2153375-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. Clemens LAHNER, 1070 Wien, Burggasse 116, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 22.03.2017, Zahl: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.05.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, § 8 Abs. 1 AsylG und § 57 AsylG als unbegründet abgewiesen.

II.      Es wird gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, iVm § 9 Absatz 3 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idgF festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

III. XXXX wird gemäß §§ 54 und 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer 12 Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“), ein afghanischer Staatsbürger, reiste illegal ins österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 20.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der am 21.05.2015 erfolgten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF an, er stamme aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Maidan Wardak. Er habe eine zweijährige Schulbildung, jedoch keine Berufsausbildung, erhalten und zuletzt als Teppichknüpfer gearbeitet. Er sei Moslem, schiitischer Glaubensrichtung und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Dari. Seine Mutter, sein Bruder und seine drei Schwestern würden in Kabul leben, wo er sich vor seiner Ausreise ebenfalls aufgehalten habe. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF aus, dass sein Vater seit einigen Jahren verschollen sei und sein Onkel ihn in den Krieg habe schicken wollen. Er habe sich geweigert und fürchte deswegen um sein Leben. Außerdem sei die wirtschaftliche Lage seiner Familie schlecht, sodass er hier eine Arbeit finden und diese unterstützen wolle.

3. Ein am 11.08.2015 ausgestellter Patientenbrief bestätigte, dass der BF in der Zeit vom 22.05.2015 bis zum 12.082015 wegen Lungentuberkulose stationär in einem Krankenhaus behandelt wurde.

4. Ein am 14.11.2015 nach einer am selben Tag stattgefundenen Untersuchung erstelltes Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung ergab, dass beim BF die Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen werden könne und sein angegebenes Geburtsdatum plausibel sei.

5. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: „BFA“) am 06.09.2016 gab der BF an, dass es ihm gut gehe, er jedoch psychisch angeschlagen sei, weil er erfahren habe, dass seine Schwester vor Kurzem verstorben sei. Seine Familie sei 2014 nach Kabul gegangen, weil sein Onkel diese aus seinem Haus geworfen habe.

Er sei ledig und gesund. Er stamme aus der Provinz Maidan Wardak, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , wo er sich auch bis etwa ein Jahr vor seiner Ausreise aus Afghanistan aufgehalten habe. Zwei Schwestern und ein Bruder würden nun zusammen mit seiner Mutter in Kabul aufhältig sein. Seine Heimatregion werde immer wieder von den Kuchis angegriffen. Sein Vater sei 2013 in den Kampf gegen diese gezogen und werde seither vermisst. Er sei in regelmäßigem Kontakt mit seiner Familie. In Afghanistan habe er in der Landwirtschaft und als Teppichknüpfer gearbeitet.

Er könne zwar keine Dokumente aus Afghanistan vorlegen, jedoch habe ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen mit. Seine Tazkira befinde sich in Afghanistan.

In seinem Heimatland sei kein Mitglied einer politischen Partei oder politisch aktiv gewesen und nicht wegen seiner politischen Gesinnung verfolgt worden. Er habe einmal im Jahr 2013 am Kampf gegen die Kuchis teilgenommen. Jedoch seien sie dreimal besiegt worden, weshalb er nach Kabul geflohen sei. Er sei Angehöriger der Volksgruppen der Hazara und gehöre der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Er habe zwei Jahre die Grundschule besucht. Er habe sein Heimatland nicht aus wirtschaftlichen Gründen verlassen. Sein Zielland wäre die Schweiz gewesen. Afghanistan habe er im Dezember 2014 über den Iran und die Türkei verlassen. In seinem Heimatland habe er keine strafrechtlichen Delikte begangen und kein Problem mit der Polizei oder staatlichen Stellen gehabt.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass er Probleme mit seinem Onkel gehabt habe, der ihn misshandelt und am Besuch der Schule gehindert hätte. 2013 sei sein Vater in den Kampf gegen die Kuchis gezogen und gelte seither als verschollen. Ein Kommandant vermeinte, dass die Kuchis erfolgreich werden würden und er weitere Männer für den Kampf benötige, sodass sein Onkel ihn dazu bewegen wollte, dass er sich melde. Der BF habe sich geweigert und sei von seinem Onkel zusammengeschlagen worden. Der BF sei schließlich in den Kampf gezogen, jedoch seien sie vor einem geplanten Angriff auf die Kuchis selbst angegriffen worden. Im Zuge dieses Gefechts sei der BF dann nach Kabul geflohen. Sein Onkel habe ihn in Kabul aufgespürt, ihn dort mit dem Messer angegriffen und verletzt. Da der BF nicht mehr hätte kämpfen wollen, sei er aus dem Krankenhaus geflohen und sei in den Iran gegangen.

Sein Vater habe sich auch bei der Polizei gegen seinen Onkel beschwert, wobei diese der Familie des BF nicht geholfen hätte. Seine Eltern wären gegen den Onkel machtlos gewesen und hätten dem BF auch nicht helfen können. Sein Vater habe bereits im Jahr 2009 gegen die Kuchis gekämpft, um das Dorf zu schützen. Seine Familie sei nach ihm nach Kabul gegangen, weil der Onkel sie aus dem Haus geworfen hätte. In Kabul habe der BF keinen Kontakt zu seiner Familie gehabt. Der Onkel würde die Familie noch in Kabul heimsuchen und nach dem BF fragen. Er habe seine Mutter gesagt, dass er den BF töten wolle. Da er mit dem Messer angegriffen worden sei und er wieder in den Kampf gegen die Kuchis hätte geschickt werden sollen, habe er sein Heimatland verlassen. Sein Onkel habe ihn damals auf seiner Arbeitsstelle mit einem Taschenmesser angegriffen. Er sei ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo ihn sein Onkel ebenfalls bedroht hätte. Er habe danach niemanden mehr in der Firma erreicht und sei auch nicht zur Polizei gegangen. Die Polizei hätte ihm nur geholfen, wenn er etwas gezahlt hätte, weshalb er sich entschlossen habe, dass er dieses Geld gleich in die Flucht investiere.

Ein weiterer Fluchtgrund sei es, dass Hazara in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt seien. Persönlich habe er deswegen keine Probleme gehabt, jedoch sei er als Kind oft von den Taliban angehalten worden. Er habe in der Erstbefragung den heute geschilderten Vorfall nicht erwähnt, weil man ihm damals nur gefragt habe, warum er geflohen sei und man nicht nach expliziten Vorfällen nachgefragt hätte. Die Dolmetscherin habe gemeint, dass er diese expliziten Vorfälle vor dem BFA schildern könne. Dass er aus wirtschaftlichen Gründen geflohen wäre, habe er damals nicht gesagt. Die Vorfälle mit seinem Onkel wären fluchtauslösend gewesen. Seine Fluchtgründe wären nach wie vor aktuell, weil sein Onkel seine Mutter in Kabul ausfindig gemacht hätte. Aufgrund dessen habe er auch keine innerstaatliche Fluchtalternative, weil ihn sein Onkel überall finden würde.

Danach wurden dem BF die Länderfeststellungen zu Afghanistan ausgehändigt und ihm eine Frist von zwei Wochen zur Stellungnahme eingeräumt. Der BF verzichtete jedoch darauf, weil er über die Lage in seinem Heimatland ausreichend informiert sei.

In Österreich habe er keine Verwandten und lebe von der Grundversorgung. Er beginne mit einem B1-Deutschkurs und treffe in seiner Freizeit Freunde.

6. Mit Bescheid vom 23.03.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass dem BF zwar geglaubt werde, dass dieser kein gutes Verhältnis zu seinem Onkel gehabt habe und er sein Heimatdorf im Zuge eines Gefechts mit den Kuchis verlassen habe, jedoch sei es nicht glaubwürdig gewesen, dass der BF in Kabul von seinem Onkel aufgespürt und angegriffen worden sei. Einerseits habe der BF diesen Angriff nicht in der Erstbefragung geschildert, andererseits wären die Schilderungen um diesen Vorfall oberflächlich, widersprüchlich und in keiner Weise lebensnah geschildert worden. Eine mögliche Sorge vor einem erneuten Kampfeinsatz gegen die Kuchis aufgrund des Aufspüren des Onkels basiere einerseits auf bloßen Mutmaßungen, sei andererseits in Bezug auf die geschilderten Morddrohungen durch den Onkel nicht nachvollziehbar gewesen.

Der BF vermittelte durch sein Aussageverhalten, dass er lediglich an den sozialen Vorteilen des österreichischen Staates interessiert sei. Eine Gruppenverfolgung der Hazara würde ebenfalls nicht vorliegen, zumal sich deren Lage zuletzt positiv entwickelt hätte.

Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Die psychische Krankheit des BF sei in Afghanistan einerseits behandelbar andererseits würde der BF wegen dieser auch nicht in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten. Dem BF stünde mit der Stadt Kabul eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternativen zur Verfügung, zumal er arbeitsfähig und arbeitswillig sei, er über Berufserfahrung und Ortskenntnis verfüge sowie anpassungsfähig sei. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

7. Mit Verfahrensanordnung vom 24.03.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 24.03.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

8. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 11.04.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde festgehalten, dass der vom BF geschilderte Fluchtgrund ausreichend konkretisiert dargelegt worden sei und es dem BF nicht vorgeworfen werden könne, dass er sein Fluchtvorbringen in der Erstbefragung nicht detaillierter ausgeführt habe. seine Mitwirkungspflicht dargelegt, jedoch habe die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt. Dieses sei ebenfalls mit einer mangelhaften Beweiswürdigung belastet gewesen, weshalb die belangte Behörde zum Schluss kommen hätte müssen, dass der afghanische Staat den BF nicht vor der vom BF vorgebrachten Verfolgung zu schützen. Daher drohe dem BF eine asylrechtlich relevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat, zumal er der Gefahr einer Rekrutierung durch seinen Onkel ausgesetzt sei. Angesichts der in Afghanistan vorherrschenden Sicherheitslage, sei es auch evident, dass der BF als Hazara und Schiite einer sozialen Gruppe angehöre, die in der Vergangenheit verfolgt und diskriminiert worden sei. Schon alleine dies schließe eine innerstaatliche Fluchtalternative für den BF aus. Daher hätte die belangte Behörde dem BF zumindest den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen müssen.

9. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 12.04.2017 vom BFA vorgelegt.

10. Mit Schreiben vom 29.05.2017 gab der BF bekannt, dass er nunmehr in gegenständlichem Verfahren von Rechtsanwalt Mag. Peter PETZ vertreten werde. Seine Rechtsvertretung legte mit Schreiben vom 22.08.2017 ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Ebenso erfolgte eine Stellungnahme, in der ausgeführt wurde, dass der BF keinen ausreichenden staatlichen Schutz vor den von ihm geschilderten Fluchtgründen haben würde und ihn sein Onkel im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan leicht ausfindig machen könnte. Aufgrund seiner Volksgruppezugehörigkeit sei es dem BF auch nicht möglich in gewisse Landesteile zu ziehen. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan sei ihm eine Ansiedlung dort nicht zumutbar, weshalb ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt hätte werden müssen. Ebenso könne er seine gute Integration belegen.

11. Mit Schreiben vom 20.01.2020 wurde dem Gericht mitgeteilt, dass sich der BF in einem Lehrverhältnis befindet. Es wurde hierbei auch die Eintragung des Lehrvertrages vom 31.10.2018 vorgelegt. Der BF würde in der Zeit von 01.09.2018 bis zum 31.08.2021 eine Lehre als Koch absolvieren.

12. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache vom bisher zuständigen Gerichtsabteilung (W258) abgenommen und der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

13. Mit Schreiben vom 14.05.2021 legte der BF ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

14. Mit Schreiben vom 20.05.2021 gab der BF bekannt, dass er in gegenständlichem Verfahren nunmehr von Rechtsanwalt Mag. Clemens LAHNER vertreten werde.

15. Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 25.05.2021, im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF, ebenso wie seine bevollmächtige Vertretung persönlich und drei Zeugen teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde verzichtete, mit Beschwerdevorlage vom 12.04.2017 entschuldigt, auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Nachdem die Parteien auf das Verlesen der Aktenteile verzichteten, erklärte der erkennende Richter diese Aktenteile zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der hier zu Grunde liegenden Niederschrift. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19.

Der BF führte aus, dass er im bisherigen Verfahren immer die Wahrheit gesagt habe und betonte nochmals, dass die Dolmetscherin bei der Erstbefragung gemeint habe, er soll sich auf den Fluchtweg konzentrieren. Die Fluchtgründe könne er beim BFA ausreichend schildern. Aus seiner Heimat habe er keine neuen Nachrichten, jedoch könne er einen Befundbericht vorlegen, der die genähte Schnittwunde zeige. Diese habe ihm sein Onkel zugefügt und zu einem Krankenhausaufenthalt geführt. Seine Familienangehörigen würden mittlerweile im Iran leben. In Afghanistan habe er nur mehr weitschichtige Verwandte.

Nach Erörterung der Situation im Falle einer Rückkehr des BF, gab der Rechtsvertreter bekannt, dass diesen Feststellungen widersprochen werde, zumal der BF kein soziales Netz mehr vorfinden würde, Rückkehrer es besonders schwer hätten und sich die Lage durch COVID-19 noch einmal verschlechtert habe.

Der BF legte danach ein weiteres Konvolut an Integrationsunterlagen vor, unter anderem Schulzeugnisse, einen Beschäftigungsbewilligungsbescheid und Gehaltsabrechnungen. Er habe sich außergewöhnlich integriert und die 2.Fachklasse mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen. Er besuche die Schule, habe österreichische Freunde und betreibe viel Sport, wie etwas Fußball, Wandern und Racketlon. Er lebe mit der Tochter eine Zeugin zusammen, habe mit dieser aber keine Lebensgemeinschaft. Seit 2018 arbeite er auch ehrenamtlich, in dem er Lebensmittel an Bedürftige verteile.

Die erstbefragte Zeugin gab an, dass sie Obfrau eines Patenschaftsverein sei. Im Zuge dessen habe sie 2016 auch den BF kennengelernt. Der BF sei mittlerweile ein Botschafter des Vereins. Er bringe sich bei einem Projekt ein und kümmere sich sehr um die Neuankömmlinge.

Der zweibefragte Zeuge sei Küchenchef und kenne den BF über ein Praktikum. Der BF habe hierbei überzeugt, dass sich seine Firma schließlich für seine Beschäftigungsbewilligung eingesetzt habe. Der BF sei zwar etwas zurückhaltend, werde aber von allen respektiert.

Die drittbefragte Zeugin gab an, dass sie den BF über einen Deutschkurs kenne. Er sei ihr in Erinnerung geblieben, weil er schon damals öfters gefehlt habe, weil er einer Arbeit im Lager nachgegangen sei. Seither habe sie sich für ihn eingesetzt. Er bilde eine Wohngemeinschaft mit ihrer Tochter und sei mittlerweile der sechste Enkel für sie. Sie sehe den BF regelmäßig bei diversen gemeinnützigen Tätigkeiten.

Es wurde festgestellt, dass der BF ausgezeichnet Deutsch spreche und überdies ausgezeichnet integriert sei.

Danach folgte der Schluss der mündlichen Verhandlung. Gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel die Verkündung der Entscheidung.

16. Der BF legte im Laufe des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        Tazkira

?        Teilnahmebestätigungen an Deutschkursen

?        Schulbesuchsbestätigung

?        Sprachzertifikate ÖSD A2, B1

?        Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau B1

?        Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben

?        Bestätigung des Lehrganges Übergangsstufe an BMHS

?        Lehrvertrag, Eintragung des Lehrvertrages

?        Schulnachrichten sowie Jahres- und Abschlusszeugnis einer Berufsschule für Gastgewerbe

?        Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs

?        Bestätigungen über die Durchführung von gemeinnützigen Tätigkeiten

?        Referenzschreiben eines Sportverbandes

?        Unterschriftenliste

?        Zahlreiche Bilder und Schreiben eines ehrenamtlichen Vereins

?        Medizinisch Unterlagen über Schnittwunde

?        Bescheinigung über Erste-Hilfe-Kurs (Auffrischung)

?        Lohn-Gehaltsabrechnungen (Jänner 2021 bis April 2021)

?        AMS-Bescheid Beschäftigungsbewilligung wegen Lehrvertrag

?        Aktueller Meldezettel

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest.

1.1.    Zum sozialen Hintergrund des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und gehört der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Die Muttersprache des BF ist Dari. Er ist im erwerbsfähigen Alter und ist gesund.

Der BF wurde nach seinen Angaben im Dorf XXXX , Distrikt XXXX , in der Provinz Maidan Wardak geboren, wo er bis zu seinem einjährigen Aufenthalt in Kabul vor seiner erstmaligen Ausreise aus Afghanistan im Jahr 2014 lebte. In seinem Heimatland hat der BF insgesamt zwei Jahre eine Schule besucht und Kabul Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Teppichknüpfer gesammelt. Er hat Kontakt zu seinen mittlerweile im Iran aufhältigen Verwandten. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF ist in Österreich bislang strafrechtlich unbescholten. Der BF war in seinem Heimatland nicht inhaftiert, hatte in seinem Herkunftsstaat keine Probleme mit Behörden und war politisch nicht aktiv.

Der BF ist nach seiner Ausreise aus Afghanistan im Dezember 2014 über Iran und die Türkei in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist. Am 20.05.2015 stellte er in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF stellte am 20.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Seinen Antrag auf internationalen Schutz begründet der BF im Wesentlichen damit, dass er sein Heimatland verlassen habe, weil sein Vater seit einigen Jahren verschollen sei und sein Onkel ihn in den Krieg habe schicken wollen. Er habe sich geweigert und fürchte deswegen um sein Leben. Außerdem sei die wirtschaftliche Lage seiner Familie schlecht, sodass er hier eine Arbeit finden und diese unterstützen wolle. Dieses Vorbringen ändert der BF dahingehend ab, dass er in Kabul von seinem Onkel angegriffen worden sei und dies auch sein fluchtauslösender Vorfall gewesen wäre. Ebenso werde er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt.

Es wird festgestellt, dass der BF weder seitens einer Privatperson noch von einer regierungsfeindlichen Gruppierung bedroht bzw. gesucht wird. Ebenso wird der BF nicht von der Regierung oder den Taliban oder einer Privatperson gesucht bzw. bedroht.

Der BF wurde weder von den Taliban noch einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung noch von sonstigen Privatpersonen entführt, festgehalten oder von diesen oder dieser bedroht. Der BF wurde seitens der Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen nicht aufgefordert mit diesen oder dieser zusammen zu arbeiten oder diese zu unterstützen. Der BF wurde von den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen weder angesprochen noch angeworben noch sonst in irgendeiner Weise bedroht. Er hatte in Afghanistan keinen Kontakt zu den Taliban oder einer sonstiger regierungsfeindlichen Gruppierung oder von sonstigen Privatpersonen, die ihn suchen würden.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung durch eine Privatperson bzw. einer regierungsfeindlichen Gruppierung oder durch die Regierung oder durch die Taliban ausgesetzt ist.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem BF individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch eine sonstige regierungsfeindliche Gruppierung oder durch andere Personen oder die Regierung.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

Es kann daher festgestellt werden, dass der BF keiner konkreten Verfolgung oder Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt ist oder eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten hätte.

1.3.    Zur Situation im Fall einer Rückkehr des BF:

Im Falle einer Verbringung des BF in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Dem BF ist eine Rückkehr in die Herkunftsprovinz Maidan Wardak, die als volatile Provinz eingestuft wird, aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage nicht zumutbar. Da seine weitere Herkunftsprovinz Kabul nicht zu den volatilen Provinzen Afghanistans zählt, ist eine Rückkehr in diese möglich. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch noch – neben einer Rückkehr nach Kabul – die Ansiedlung in einer der größeren Städten Afghanistans zumutbar. Auch bei einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder der Stadt Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Herat oder Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des BF nach Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen, konnten nicht festgestellt werden. Der BF ist gesund und leidet an keinen Krankheiten. Es bestehen keine Zweifel an der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit des BF.

Der BF hat keinen Kontakt zu etwaigen Angehörigen in Afghanistan. Daher ist eine Unterstützung durch in Afghanistan lebende Verwandten des BF bei seiner Rückkehr nach Afghanistan ausgeschlossen.

Für den Fall, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch keine Unterstützung von seinen im Ausland lebenden Familienangehörigen, wie etwa seiner im Iran lebenden Familie erhalten würde, hat der BF jedenfalls die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen. Der BF wurde in der Beschwerdeverhandlung über die Rückkehrunterstützungen und Reintegrationsmaßnahmen in Kenntnis gesetzt.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, weil er in seinem Heimatland in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen ist und er dort auch zwei Jahre die Schule besucht sowie Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und als Teppichknüpfer gesammelt hat.

1.4.    Zum Leben in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 20.05.2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 20.05.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF hat keine weiteren Familienangehörigen in Österreich. Beim BF finden sich keine besonderen Merkmale zur einer Abhängigkeit zu anderen im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Personen.

Der BF pflegte in Österreich freundschaftliche Beziehungen zu Österreichern und anderen Afghanen. Darüber hinaus konnten keine weiteren substanziellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens festgestellt werden. Der BF ist kein Mitglied von politischen Parteien und ist auch sonst nicht politisch aktiv. Neben den erwähnten Freundschaften, ist der BF Mitglied in einem Sportverband. Schließlich wird das soziale Verhalten des BF in der Gesellschaft durch Referenzschreiben belegt, wo der BF als hilfsbereit, freundlich und fleißig wahrgenommen wird.

Der BF besuchte zahlreiche Deutschkurse und konnte dies auch durch Teilnahmebestätigungen und Zertifikate bestätigen. Er ist daher in der Lage, bei klarer Standardsprache über vertraute Dinge aus Arbeit, Schule, Freizeit usw. auf Deutsch zu reden. Darüber hinaus kann er über Erfahrungen und Ereignisse berichten, Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben und zu Plänen und Ansichten kurze Begründungen oder Erklärungen geben. Er ist bemüht seine Sprachkenntnisse zu vertiefen und hat bereits das ÖSD-Zertifikat B1-Kurs.

Der BF hat in Österreich die Schulreife erlangt und befindet sich seit 01.09.2018 in einem Arbeitsverhältnis, das auf einem Lehrvertrag basiert. Der BF wird im Lehrberuf Koch ausgebildet, wobei das Lehrverhältnis mit 31.08.2021 beendet werden sollte. Durch die durch dieses Beschäftigungsverhältnis lukrierten Einnahmen ist der BF nun seit über drei Jahren selbsterhaltungsfähig. Ebenfalls wird dem BF attestiert, dass er in der Berufsschule ausgezeichnete Leistungen abruft. Er hat sich sohin in sprachlicher, privater und beruflicher Hinsicht im Zuge seines über sechsjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet ausgezeichnet integriert. Da sich der sein Arbeitgeber sehr für den Erhalt einer Beschäftigungsbewilligung eingesetzt hat, ist davon auszugehen, dass der BF nach der Beendigung seiner Lehre weiterbeschäftigt wird. Ebenso ist der BF in der österreichischen Gesellschaft ausgezeichnet vernetzt und hat sich jahrelang Kontakte aufgebaut, über die er in zahlreichen Bereichen sozial und ehrenamtlich engagiert ist. Der BF hat eine konkrete Vorstellung über seine weitere Berufslaufbahn und seine Zukunft in Österreich hat, ist davon auszugehen, dass dem sowohl eine private als auch eine wirtschaftliche Integration gelungen ist.

1.5.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 in der Aktualisierung vom 02.04.2021 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (3.2021) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

COVID-19

Letzte Änderung: 31.03.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl. UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.5.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 31.03.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohung durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen (USDOS 11.3.2020). Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 6.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.5.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als „Katastrophe“ und die beiden Wahlkommissionen als „ineffizient“ (AAN 17.5.2019).

Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Richtigkeit von Hunderttausenden von Stimmen waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen. Afghanistan hat eine geschätzte Bevölkerung von 35 Millionen Einwohnern (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommissionen und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise, die erst Mitte Mai 2020 gelöst werden konnte. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020; vgl. TN 11.5.2020). Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Min

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