Entscheidungsdatum
29.06.2021Norm
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1Spruch
W146 2197276-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Stefan HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.05.2018, Zahl 15-1097955402/151929957, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, der Bescheid hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte V. und VI. aufgehoben, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG idgF für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste als Minderjähriger illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Am 04.12.2015 fand die Erstbefragung des Beschwerdeführers vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er im Wesentlichen zusammengefasst an, im Bundesgebiet studieren zu wollen. In Afghanistan habe er nicht so gute Bildungsmöglichkeiten und es sei in Afghanistan nicht sicher.
Am 28.02.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinem Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, dass die Taliban versucht hätten, ihn zwangszurekrutieren.
Mit angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.05.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn einen Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde als Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt IV.).
Gegen diesen am 07.05.2018 rechtswirksam zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, welche am 30.05.2018 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einlangte.
Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 04.06.2018 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegt. In der Beschwerde wurde die Mangelhaftigkeit des Verfahrens gerügt. So seien unrichtige Feststellungen aufgrund einer antizipierenden Beweiswürdigung getroffen worden. Auch finde sich eine unrichtige rechtliche Beurteilung im Bescheid wieder. Beantragt wurde, eine mündliche Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, der Beschwerde Folge zu geben und den angefochtenen Bescheid dahingehend abzuändern, dass dem Beschwerdeführer Asyl gewährt werde, in eventu, dass dem Beschwerdeführer subsidiärer Schutz gewährt werde, in eventu einen humanitären Aufenthaltstitel zuzuerkennen, in eventu den Bescheid aufzuheben und die Rechtssache zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Mit Eingabe vom 22.10.2019 legte der rechtliche Vertreter des Beschwerdeführers Integrationsunterlagen vor.
Mit Eingabe vom 31.05.2021 legte der rechtliche Vertreter des Beschwerdeführers weitere Integrationsunterlagen vor.
Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 02.06.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer persönlich im Beisein seines bevollmächtigten Vertreters teilnahm. Ein Vertreter des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung nicht teil. Eine Zeugin wurde einvernommen.
Mit Schriftsatz vom 15.06.2021 zog der Beschwerdeführer die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides zurück. Zugleich legte er weitere Unterlagen zur Integration vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
1. Feststellungen
Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Er bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtunisch. Der Beschwerdeführer stammt aus dem Dorf XXXX , Provinz XXXX (Afghanistan), wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Der Beschwerdeführer besuchte insgesamt zehn Jahre die Schule und hat seinem Vater seit Kindesalter in der Landwirtschaft geholfen.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit seiner Antragstellung am 03.12.2015 durchgehend in Österreich.
Der Beschwerdeführer hat keine Familienangehörigen im Bundesgebiet und lebt nicht in einer Lebensgemeinschaft. Der Beschwerdeführer hat soziale Kontakte geknüpft und mehrere Empfehlungsschreiben von Privatpersonen vorgelegt, die ihm Wohlverhalten bescheinigen und sich für seinen Verbleib im Bundesgebiet aussprechen.
Der Beschwerdeführer hat Deutschkurse besucht, am Grund- und Basiskurs „Bildung für Flüchtlinge“ des Bundesministeriums für Bildung teilgenommen, Deutschprüfungen absolviert und ein Zeugnis über die Integrationsprüfung Sprachkompetenz/Werte- und Orientierungswissen auf dem Sprachniveau B1 erworben. Er hat am 15.07.2020 ein Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung erworben. Der Beschwerdeführer versteht Fragen des Alltags in deutscher Sprache und kann diese sinnzusammenhängend beantworten.
Der Beschwerdeführer hat mehrmals freiwillig im Forstgarten der Gemeinde XXXX bei Pflegearbeiten teilgenommen und war ehrenamtlich im Freiwilligenzentrum XXXX , beim XXXX Sozialen Dienst sowie im Flüchtlingsheim tätig. Der Beschwerdeführer hat an der Aktion „72 Stunden ohne Kompromiss“ im Jahr 2018 mitgearbeitet. In seiner Freizeit boxt der Beschwerdeführer und nahm auch bereits an Boxwettkämpfen teil.
Der Beschwerdeführer steht in der Grundversorgung und war bisher nicht erwerbstätig.
Der Beschwerdeführer verfügt über einen Vorvertrag zu einem Arbeiter-Dienstvertrag als Lagerarbeiter und Beifahrer bei Transport- und Übersiedelungsfahrten. Nach dem Erwerb des Führerscheins soll er als Kurierdienst/Zustellfahrer tätig sein.
Der Beschwerdeführer ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung strafrechtlich unbescholten.
2. Beweiswürdigung
Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers getroffen wurden, beruhen diese auf den Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren vor der belangten Behörde und vor dem BVwG. Der Beschwerdeführer hat eine Tazkira vorgelegt.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Muttersprache, zur Volksgruppenzugehörigkeit, zum Glauben und zum Heimatort stützen sich auf die Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren.
Die Feststellung zur Aufenthaltsdauer des Beschwerdeführers ergibt sich unstrittig aus dem Zeitpunkt seiner Antragstellung und dem Akteninhalt.
Dass der Beschwerdeführer keine Familienangehörigen oder Verwandten in Österreich hat und auch in keiner Lebensgemeinschaft lebt, ergibt sich aus seinen Angaben in der Beschwerdeverhandlung.
Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen, zur Teilnahme an Bildungsangeboten, zur positiv abgelegten Pflichtschul-Abschlussprüfung, zu seinen beruflichen Möglichkeiten im Bundesgebiet bei entsprechendem Aufenthaltstitel, seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten und seinem sozialen Gefüge im Bundesgebiet stützen sich auf die Angaben des Beschwerdeführers in der Beschwerdeverhandlung, die vorgelegten Bestätigungen sowie die in Vorlage gebrachten Empfehlungsschreiben.
Die Feststellungen zu den Freizeitaktivitäten konnte aufgrund seiner diesbezüglichen glaubhaften Angaben sowie den vorgelegten Unterlagen getroffen werden.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Grundversorgung steht, ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Betreuungsinformationssystem.
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten ist, stützt sich auf die Einsichtnahme in das Strafregister.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
Zu Spruchpunkt I.
Gemäß § 58 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird. Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 57 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zu erteilen, wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt (Z 1), wenn dies zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel notwendig ist (Z 2) oder wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Z 3).
Der Aufenthalt des Beschwerdeführers war zu keinem Zeitpunkt geduldet, er ist nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch kein Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde auch nur behauptet wurde. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides war daher spruchgemäß abzuweisen.
Zu Spruchpunkt II.
Zur Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung:
Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird.
Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
Gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl I Nr 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Art. 8 Abs. 2 EMRK erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen. In diesem Sinne wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VfGH 29.09.2007, B 1150/07-9; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).
Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu. Für den Aspekt des Privatlebens spielt auch die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung grundsätzlich keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852ff.). Der Verwaltungsgerichtshof geht aber auch davon aus, dass es von einem Fremden, welcher sich im Bundesgebiet aufhält, als selbstverständlich anzunehmen ist, dass er die geltenden Rechtsvorschriften einhält. Zu Lasten eines Fremden fallen rechtskräftige Verurteilungen durch ein inländisches Gericht ins Gewicht. Wie der Verwaltungsgerichtshof auch in jüngster Rechtsprechung immer wieder ausgeführt hat, erhöht eine wiederholte Straffälligkeit das Interesse an einer Rückkehrentscheidung und kann in einer Gesamtabwägung schwerer wiegen als familiäre Interessen (vgl. etwa VwGH 31.08.2017, Ro 2017/21/0012).
Der Beschwerdeführer lebt seit Dezember 2015, also fünfeinhalb Jahre, im österreichischen Bundesgebiet. Sein daraus resultierender Aufenthalt im Bundesgebiet war zwar nur ein – aufgrund seines Antrags auf internationalen Schutz – vorläufig berechtigter und der Beschwerdeführer musste sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sein, jedoch ist hier – im Sinne der oben genannten Judikatur – der fünfeinhalbjährige Aufenthalt zu berücksichtigen und verstärkt dieser sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich maßgeblich. Der Beschwerdeführer war zudem im Bundesgebiet seit Dezember 2015 durchgehend ordentlich gemeldet und hat daher während seines Aufenthalts keine melderechtlichen Vorschriften missachtet. Der Beschwerdeführer hat im Sinne der oben genannten Judikatur des VwGH auch keine Folgeanträge gestellt, um das Verfahren in die Länge zu ziehen. Es kann auch nicht behauptet werden, dass der Beschwerdeführer seinen bisherigen Aufenthalt nicht genutzt hat, um sich sozial zu integrieren.
Der Beschwerdeführer hat soziale Kontakte geknüpft und mehrere Empfehlungsschreiben von Privatpersonen vorgelegt, die ihm Wohlverhalten bescheinigen und sich für seinen Verbleib im Bundesgebiet aussprechen. Im Beschwerdeverfahren wurde dies zudem durch eine zeugenschaftlich einvernommene Kontaktperson des Beschwerdeführers bestätigt.
Der Beschwerdeführer geht dem Kampfsport nach und boxte bereits bei Wettkämpfen. Er engagierte sich über längere Zeit hindurch mehrfach gemeinnützig und freiwillig bei mehreren sozialen Einrichtungen.
Der Beschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse besucht und ein Zeugnis über die Integrationsprüfung Sprachkompetenz/Werte- und Orientierungswissen auf dem Sprachniveau B1 sowie ein Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung erworben. Der Beschwerdeführer versteht Fragen des Alltags in deutscher Sprache und kann diese auch sinnzusammenhängend beantworten. Dem Beschwerdeführer verfügt über einen Vorvertrag zu einem Arbeiter-Dienstvertrag für den Fall einer Arbeitserlaubnis.
Insgesamt kann im Falle des Beschwerdeführers von einer guten Integration ausgegangen werden.
Der Beschwerdeführer verfügt zwar über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Heimat, da seine Eltern und Geschwister in Afghanistan leben, jedoch hat sich nach Ansicht des Gerichts der Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers nach Österreich verlagert. Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung im konkreten Einzelfall zum Ergebnis, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan nicht zulässig ist. Es ist zudem davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privatlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehende, sondern auf Dauer sind und es ist daher gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer auf Dauer unzulässig ist.
Die im angefochtenen Bescheid erlassene Rückkehrentscheidung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ist somit unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK.
Wie dargestellt, beruhen die drohenden Verletzungen des Privatlebens auf Umständen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.
Da somit das Interesse an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers im konkreten Fall die in Art. 8 Abs. 2 EMRK angeführten öffentlichen Interessen überwiegt, war in Erledigung der Beschwerde die angefochtene Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan für auf Dauer unzulässig zu erklären.
Zur Aufenthaltsberechtigung:
§ 10 Abs. 2 Z 5 IntG bestimmt, dass das Modul 2 der Integrationsvereinbarung erfüllt ist, wenn der Drittstaatsangehörige das Unterrichtsfach „Deutsch“ auf dem Niveau der 9. Schulstufe positiv abgeschlossen hat oder eine positive Beurteilung im Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ im Rahmen der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012 nachweist.
Der Beschwerdeführer hat am 15.07.2020 vor der Prüfungskommission der Pflichtschulabschluss-Prüfung gemäß dem Pflichtschulabschluss-Prüfungs-Gesetz, BGBl. I Nr. 72/2012, die Pflichtabschluss-Prüfung bestanden, die unter anderem das Prüfungsgebiet „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ umfasste. Die Voraussetzungen iSd. § 10 Abs. 2 Z 5 IntG sind gegenständlich erfüllt. In Ermangelung des Vorliegens von Ausschlussgründen iSd. § 60 AsylG ist dem Beschwerdeführer sohin ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG für die Dauer von 12 Monaten zu erteilen.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG auszufolgen. Der Beschwerdeführer hat hierbei gemäß § 58 Abs. 11 AsylG mitzuwirken. Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.
Nach dem zuvor dargestellten Ergebnis liegen die Voraussetzungen für die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nicht mehr vor, weshalb die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides zu beheben waren.
Zu Spruchteil B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (vgl. dazu die zu Spruchpunkt A zitierte Rechtsprechung), noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung ist – soweit diese nicht unvertretbar ist – nicht revisibel (z.B. VwGH 19.04.2016, Ra 2015/01/0002, mwN). Auch bei Gefahrenprognosen im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK handelt es sich letztlich um einzelfallbezogene Beurteilungen, die im Allgemeinen nicht revisibel sind (z.B. 18.03.2016, Ra 2015/01/0255; 12.10.2016, Ra 2016/18/0039).
Schlagworte
Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse Integration Interessenabwägung Privatleben Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig VoraussetzungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W146.2197276.1.01Im RIS seit
20.09.2021Zuletzt aktualisiert am
20.09.2021