Entscheidungsdatum
01.07.2021Norm
AsylG 2005 §54Spruch
W159 2234892-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2020, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.05.2021 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis IV. wird als unbegründet abgewiesen.
II. Gemäß § 9 BFA-VG wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gegen XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan auf Dauer unzulässig ist und XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß §§ 54, 55 und 58 AsylG 2005 idgF erteilt wird.
III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte V. -VII. wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig, sunnitischer Moslem, ledig, gelangte spätestens am 13.10.2015 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag auch einen Antrag auf internationalen Schutz. Zum Zeitpunkt der Antragstellung war der Beschwerdeführer minderjährig und wurde durch seine Schwester XXXX gesetzlich vertreten. In der Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion XXXX gab seine Schwester befragt an, dass ihre Eltern bereits verstorben seien. Zu ihrem Fluchtgrund gab sie an, dass sie aufgrund des Krieges und der Taliban Afghanistan verlassen hätten. Es hätte keine Schule für die Kinder gegeben. Ihr Ehemann hätte keine Arbeit gefunden und sie hätten deswegen nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Sie hätten Afghanistan verlassen, weil sie für sich keine Zukunft gesehen hätten.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD Oberösterreich, Außenstelle Linz vom 21.12.2017, Zl. XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten unter Spruchteil I. abgewiesen. Es wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten unter Spruchpunkt II. zuerkannt und unter Spruchpunkt III. wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Absatz 4 AsylG bis zum 21.12.2018 erteilt.
In der rechtlichen Beurteilung wurde unter Spruchpunkt I. angeführt, dass der Beschwerdeführer keine Fluchtgründe nach der GFK in seinem Heimatland geltend gemacht habe. Im Spruchpunkt II. wurde angeführt, dass Personen ohne soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan gefährdet seien und in eine existenzielle Notlage geraten würden. Der Beschwerdeführer verfüge über keine Verwandtschaft in Afghanistan. Außerdem habe der Beschwerdeführer noch nie in Kabul gelebt, er sei mit den dortigen Gegebenheiten nicht vertraut und verfüge über keinerlei familiäre Anknüpfungspunkte.
Aufgrund des eingebrachten Antrages auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 19.03.2019 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, mit Bescheid Zl. XXXX vom 26.03.2019 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 21.12.2020.
In der niederschriftlichen Einvernahme zur Aberkennung der subsidiären Schutzberechtigung, vom 09.07.2020, gab der Beschwerdeführer befragt an, er sei psychisch und physisch in der Lage, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Er befinde sich derzeit nicht in medizinischer Behandlung. Er gab befragt an, er halte sich seit Ende 2015 in Österreich auf, sei afghanischer Staatsangehöriger, Tadschike, sunnitischer Moslem und besitze einen Fremdenpass. Er sei am XXXX in Baghlan, im Dorf XXXX geboren worden. Er habe Afghanistan im Alter von 12 Jahren verlassen. Er verfüge über Schulbildung in Österreich, habe jedoch noch keine Berufsbildung absolviert. Er lebe von 200 € monatlich, welche er von der XXXX erhalte.
Zu seinem Familienleben befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe in Afghanistan keine Familienangehörigen. Seine Eltern seien verstorben, als er ungefähr neun Jahre alt gewesen sei. In Pakistan würde seine verheiratete Schwester XXXX leben. Sei sei Mutter eines kleinen Mädchens. Im Iran würde eine Tante und ein Onkel mütterlicherseits sowie ein Onkel väterlicherseits leben. Persönlich stehe er in keinen Kontakt mit seinen Verwandten. Er würde ab und zu mit ihnen sprechen, wenn seine Schwester mit ihnen telefoniere. Eine Schwester würde hier in Österreich leben. Sein Leben sei in Afghanistan vor seiner Ausreise sehr schlecht gewesen.
Die belangte Behörde erkundigte sich, ob die Grundstücke, welche der Vater besessen habe dem Beschwerdeführer gehören würden. Der Beschwerdeführer gab an, er müsse sich bei seiner Schwester erkundigen, wem diese Grundstücke gehören würden.
Der Beschwerdeführer brachte diverse Schulbesuchsbestätigungen in Vorlage. Er sei kein Mitglied eines Vereins. Der Beschwerdeführer gab an, er lebe noch bei seiner Schwester, die ein kleines Kind habe. Er sei im Februar 2019 von XXXX mit seiner Schwester und seinem Schwager nach XXXX gezogen. Er habe einen Schulfreund und einige Bekannte. Er gab an, er wolle Friseur werden oder als Verkäufer arbeiten.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe einmal eine Einladung zur Polizei gehabt. Dem Beschwerdeführer wurde vorgehalten, dass gegen ihn von Beamten des Bezirkspolizeikommandos XXXX in den Jahren 2018 und 2019 wegen dem Verdacht auf Suchtgiftankauf und –konsum ermittelt worden sei. Der Beschwerdeführer antwortete, er habe etwas gekauf und auch konsumiert. Er hatte etwas Geld gespart. Das Verfahren gegen ihn sei vorläufig eingestellt worden. Er konsumiere zurzeit keine Drogen.
Es wurden Bestätigungen für Deutschkurse, eine Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungsurs vom 02.04.2019 sowie je ein Zeugnis für die Integrationsprüfung A1 am 01.07.2019 und A2 am 06.02.2020, sowie eine Schulbesuchsbestätigung vom 24.11.2017, eine Schulnachricht vom 16.02.2018, eine Kopie des Fremdenpasses und ein Lebenslauf des Beschwerdeführers vorgelegt.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2020, Zl. XXXX wurde unter Spruchteil I. der mit Bescheid vom 21.12.2017 zuerkannte Status des subsidiären Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs.1 AsylG 2005 von Amtswegen aberkannt, unter Spruchpunkt II. die mit Bescheid vom 29.08.2017, Zl. XXXX , erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gem. § 9 Abs. 4 AslyG entzogen, unter Spruchteil III. die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen, unter Spruchteil IV. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt V. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt VI. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und unter Spruchpunkt VII. eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise festgelegt.
In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang, einschließlich der letzterwähnten niederschriftlichen Einvernahme dargestellt, die Beweismittel aufgelistet und Feststellungen zu Afghanistan getroffen. Beweiswürdigend wurde insbesondere ausgeführt, dass aus heutiger Sicht eine Rückkehr nach Afghanistan, Mazar-e Sharif möglich wäre. Die Umstände wurden in der rechtlichen Begründung zu Spruchteil I. noch näher ausgeführt und weiters darauf hingewiesen, dass bei einer Rückkehr seine Versorgung grundsätzlich gesichert wäre. Aufgrund der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei auch die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu entziehen und nicht zu verlängern gewesen (Spruchpunkte II. und III.) Die Voraussetzungen des § 57 AsylG würden nicht vorliegen (Spruchpunkt IV.) Zu Spruchpunkt V. wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragssteller illegal in das Bundesgebiet eingereist sei und keine besonderen Bindungen zu Österreich habe und hier erst seit 2015 aufhältig sei und dass er seit 2017 den Status des subsidiären Schutzes erhalten habe, er beherrsche die Sprache des Herkunftsstaates als Muttersprache und könne sich in die dortige Gesellschaft erneut integrieren. Zu Spruchpunkt VI. schließlich wurde ausgeführt, dass dargelegt worden sei, dass im vorliegenden Fall keine Gefährdung im Sinne des § 50 FPG vorliege und einer Abschiebung nach Afghanistan auch keine Empfehlung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entgegenstehe sowie auch keine Gründe für die Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise vorlägen (Spruchpunkt VII.)
Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht, am 01.08.2020, vertreten durch XXXX , gegen alle Spruchpunkte des Bescheides, in vollem Umfang fristgerecht Beschwerde. In dieser wurde darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Schwester und seinem Schwager in einem gemeinsamen Haushalt leben würde. Der Beschwerdeführer habe von 09/2015 bis 06/2017 die neue Mittelschule in XXXX und anschließend von 09/2017 bis 06/2018 den polytechnischen Lehrgang in XXXX besucht. Er habe die Deutschprüfung auf dem Niveau A2 absolviert.
Hinsichtlich der mangelhaften Feststellungen der belangten Behörde und zur mangelhaften Beweiswürdigung wurde unter anderem angegeben, dass nicht verkennt worden wäre, dass der Beschwerdeführer über kein familiäres Netzwerk in seiner Heimat verfügen würde. Der Sachverhalt hinsichtlich der familiären Anknüpfungspunkte des Beschwerdeführers, habe sich im Vergleich zum Zeitpunkt der Erteilung des subsidiären Schutzes nicht geändert bzw. der Beschwerdeführer verfüge weiterhin über keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Es wurde daraufhingewiesen, dass in den Länderinformationen die als innerstaatliche Fluchtalternativen festgestellten Städte nach wie vor unsicher seien und nicht die Voraussetzung für die Anerkennung als innerstaatliche Fluchtalternative erfüllen. Grundsätzlich wurde angegeben, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan weiter verschlechtert hätte.
Das Land Steiermark teilte mit, dass der Beschwerdeführer am 01.09.2020, aufgrund einer Beschäftigungsbewilligung von der Grundversorgung abgemeldet wurde.
In der Stellungnahme zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, vom 17.05.2021, eingebracht durch den nunmehrigen Rechtsvertreter, XXXX wurde darauf hingewiesen, dass gem § 9 Abs 1 Z 1 AsylG einem Fremden „der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen sei, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) nicht oder nicht mehr vorliegen“. Aus Seiten 11, 76 und 85f des bekämpften Bescheids gehe eindeutig hervor, dass sich die Behörde dabei auf den zweiten Fall der Bestimmung stütze, dem zufolge die Voraussetzungen für die Zuerkennung „nicht mehr vorliegen“. Genauer führt die Behörde aus, dass eine Änderung insoweit angetreten sei, als der Beschwerdeführer seit der Zuerkennung die Volljährigkeit erreicht und sich weitergebildet habe.
Der Beschwerdeführer sei bei der Zuerkennung des Status des Subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom 21.12.2017, sowie auch bei letztmaliger Verlängerung vom 26.03.2019 noch minderjährig gewesen. Der Behörde sei bei Verlängerung bereits bekannt gewesen, dass der Beschwerdeführer die Schule und Deutschkurse besuche und dass auch noch immer kein familiäres Netzwerk in Afghanistan vorliegen würde. Auch jetzt könne der Beschwerdeführer nicht auf familiäre Anknüpfungspunkte oder sonstige finanzielle Unterstützung zählen, denn er habe keine Familie und kein soziales Netz in Afghanistan. Er lebe in Österreich bei seiner Schwester und seinem Schwager. Es sei hervorzuheben, dass die besondere Vulnerabilität, die sich aufgrund des jungen Alters des Beschwerdeführers ergäbe, nicht rein formalistisch mit der Vollendung des 18. Lebensjahr, ende (vgl. AsylGH A4 223151-0/2008, 12.08.2011).
Der Beschwerdeführer wäre nach längerer Abwesenheit an den ohnehin überstrapazierten Arbeitsmärkten in Mazar-e-Sharif höchst benachteiligt und ihm sei daher auch aus diesem Grund eine Rückkehr unmöglich – so er überhaupt eine Arbeit finden könne, dann keine, die ausreichend entlohnt wäre, um die hohen Lebenserhaltungskosten in der Stadt zu decken; im Ergebnis hätte der Beschwerdeführer keinen Zugang zu Wohnraum, Arbeit und weiterer grundlegender Infrastruktur. Die Unzumutbarkeit einer Niederlassung in Mazar-e-Sharif ergäbe sich einerseits aus der sich stetig verschlechternden Sicherheitslage, andererseits aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer befürchte, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der derzeitigen prekären humanitären Situation, die durch einen mangelnden Zugang zu sicherer und ausreichender Unterkunft, existenzsichernder Arbeit, und (medizinischer) Grundversorgung gekennzeichnet sei, nicht einmal seine existenziellen Grundbedürfnisse sichern zu können.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 20.05.2021 an, zu der ein Vertreter der belangten Behörde entschuldigt nicht erschien und der Beschwerdeführer in Begleitung seiner Rechtsvertretung, einer Mitarbeiterin der XXXX anwesend war.
Der Beschwerdeführer gab befragt an, es gehe ihm gut, er sei in der Lage der heutigen Verhandlung ohne Probleme zu folgen. Er gab ebenfalls befragt an, er halte die Beschwerde und sein bisheriges Vorbringen aufrecht. Er wolle keine Ergänzungen oder Korrekturen in seinem Verfahren anbringen.
Er sei afghanischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und sunnitischer Moslem. Er würde seine Religion in Österreich ausübern Er sei in der Provinz Baghlan, im Dorf XXXX , geboren worden und habe in Afghanistan nur dort gelebt. Er habe in Afghanistan keine Schule besucht, jedoch sei er gelegentlich in die Moschee gegangen und habe dort Koranunterricht bekommen. Seine Eltern hätten für seinen Lebensunterhalt gesorgt. Die Familie hätte eigene Grundstücke besessen und seine Eltern seien in der Landwirtschaft tätig gewesen. Sie hätten beispielsweise Zwiebeln oder Kartoffeln angebaut. Manchmal habe er geholfen.
Befragt erzählte der Beschwerdeführer, seine Eltern seien bei einem Raketenangriff auf das Haus der Familie verstorben. Er sei nicht zu Hause gewesen und sei deswegen nicht verletzt worden. Eine Schwester sei hier in Österreich, die andere in Pakistan. Seine Schwestern hätten sich nicht im Elternhaus aufgehalten, sie seien beide verheiratet gewesen. Nachdem Tod seiner Eltern sei er zu seiner Schwester, XXXX gezogen. Der Schwager habe in der eigenen Landwirtschaft gearbeitet und so für den Lebensunterhalt gesorgt. Der Beschwerdeführer gab an, er habe keine Familienangehörige, Verwandte oder Freunde mehr in Afghanistan. Er habe zu niemanden in Afghanistan Kontakt. Gelegentlich würde seine Schwester aus Österreich die andere Schwester in Pakistan anrufen, dann würde er auch mit ihr telefonieren. Eine Tante väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits würden im Iran leben. Er habe den wohlhabenden Onkel in Afghanistan, von dem sein Schwager gesprochen hätte, nicht mehr als zwei- oder dreimal gesehen und stünde mit ihm in keinem Kontakt.
In Afghanistan würde ihn niemand unterstützen, seine Schwester in Pakistan habe eine eigene, große Familie und sie komme selbst schwer über die Runden. In Afghanistan habe er ein Grundstück, welches seinem Vater gehört habe. Er sei jetzt der Eigentümer. Dieses Grundstück würde brachliegen, er wisse nicht, wo es sich befinden würde.
Er leide zurzeit an keinen organischen oder psychischen Erkrankungen.
Er sei seit etwa fünfeinhalb Jahren in Österreich und mache eine Ausbildung im Bereich Hochbau. Dafür werde er vom AMS in der Höhe von etwa s 900 € monatlich bezahlt. Diese Ausbildung würde etwa sechs Monate dauern. „Nach dieser sechsmonatigen Ausbildung mache ich jeweils für zwei Wochen bei zwei verschiedenen Firmen Praktika. Wenn ich von einer Firma nicht aufgenommen werden sollte, dann werde ich mich auf die Suche nach einer anderen Firma machen oder ich mache den B1-Kurs und möchte dann zusätzlich noch den Pflichtschulabschluss machen.“
Auf die Frage welche Ausbildungen er bisher in Österreich gemacht habe, antwortete der Beschwerdeführer: „Ich habe den A1-Kurs und auch den A2-Kurs abgeschlossen. Den B1-Kurs habe ich auch gemacht, die Prüfung fehlt mir noch. Ich habe auch die polytechnische Schule besucht und vorher die Mittelschule. Ich bin in die dritte Klasse aufgenommen worden und dann wurde von meiner Lehrerin gesagt, dass ich mitten im Schuljahr aufgenommen wurde und mein Deutsch auch noch nicht perfekt ist. Daher sollte ich die dritte Klasse wiederholen. Ich habe die dritte Klasse wiederholt und bin dann nach Abschluss der dritten Klasse in das Polytechnikum aufgenommen worden. Ich habe dann ein Jahr lang den polytechnischen Lehrgang besucht. … Ich habe insgesamt zwei Jahre das Polytechnikum besucht und habe auch ein Abschlusszeugnis.“
Befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe freiwillig in einem persischen Restaurant gearbeitet.
Der Beschwerdeführer bejahte die Frage des Richters, ob er nach wie vor mit seiner Schwester und ihrer Familie in einem Haushalt leben würde. Er habe nach dem Tod seiner Eltern immer mit seiner Schwester und ihrer Familie zusammengelebt. Er fühle sich auch nach seiner Volljährigkeit als Teil dieser Familie. Für seine Nichten, sei er wie ein „große Bruder“. Er verdiene sein eigenes Geld und sei deshalb nicht von seiner Schwester und seinem Schwager finanziell abhängig. Er dürfe jedoch bei ihnen gratis wohnen. Seine Schwester würde kochen, und wenn sie nicht da sei, würde er kochen, auch für seine Nichten. Sein Schwager sei berufstätig. Er müsse auch kein Kostgeld abgeben, er helfe – nicht viel – im Haushalt mit.
Der Beschwerdeführer gab an, er habe früher Fußball gespielt, aber jetzt, wegen Corona, sei alles geschlossen. Er habe österreichische Freunde - XXXX – und er habe auch afghanische Freunde, etwa XXXX . Er sei mit einem österreichischen Mädchen befreundet gewesen, jedoch zurzeit habe er keine Freundin. In seiner Freizeit würde er Radfahren, sich mit seinen Freunden treffen, spazieren gehen oder zu Hause lesen
Der Beschwerdeführer schilderte auf Deutsch seinen Tagesablauf: „Wenn ich aufstehe, gehe ich ins Badezimmer, putze meine Zähne, mache mir mein Frühstück. Dann gehe ich Richtung Hauptbahnhof. Ich fahre mit dem Bus. Ich fahre dann mit dem Zug in die Arbeit und dort tauschen wir den Zug noch einmal auf eine Baustelle. Dann fahre ich auch mit dem Zug. … Ich arbeite von 08:00 Uhr bis 16:30 Uhr. Dann fahre ich wieder nach Hause. … Ich muss den Pflichtschulabschluss machen, denn ohne einen Pflichtschulabschluss bekommt man keine ordentliche Arbeit. Ich möchte dann noch eine Lehrausbildung als Verkäufer machen. Ich würde gerne z.B. beim XXXX arbeiten.“
Befragt gab der Beschwerdeführer an: „Ich habe mit meiner Lehrerin, die mich in jeder Hinsicht unterstützt, gesprochen. Wir haben darüber gesprochen, dass ich eine Bewerbung an die Firma XXXX abgeben soll. Ich würde gerne dort arbeiten. … Wenn ich bei einer Baufirma arbeiten kann, wäre das sehr gut und wenn ich keine Arbeit finden sollte, dann mache ich den Pflichtschulabschluss und eine Lehrausbildung als Verkäufer.“
Verlesen wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufschien.
Gemäß § 45 Abs.3 AVG wurde den Verfahrensparteien das aktuelle Länderinformationsblatt zur Staatendokumentation zu Afghanistan (soweit verfahrensrelevant) zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt.
In der ergänzenden Stellungnahme vom 26.05.2021, eingebracht durch die rechtliche Vertretung, wurde bezüglich der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und einer möglichen IFA in Herat oder Mazar-e-Sharif, auf die EASO-Richtlinien von Dezember 2020 verwiesen. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan mit nur 12 Jahren verlassen hat und würde nunmehr seit über 5 Jahren in Österreich leben. In Bezugnahme auf den VfGH, 24.11.2020, GZ E 2540-2541/2020-16 würde kein Tatbestand bzw. keine Änderung vorliegen, welche eine Aberkennung des subsidiären Schutzes gem. § 9 Abs 1 AsylG rechtfertigen würde.
Der Beschwerdeführer würde seit dem Tod seiner Eltern mit seiner älteren Schwester und ihrer Familie, dies schon vor seiner Ausreise aus Afghanistan, sowie hier in Österreich, zusammenleben. Er habe ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Schwester und sei wie ein „großer Bruder“ für seine Nichten, mit denen er zusammenleben würde. Die Schwester des Beschwerdeführers, sowie ihre Familie, sei in Österreich asylberechtigt und kümmere sich seit ihrer gemeinsamen Ankunft um den Beschwerdeführer, indem er gratis bei ihr wohnen könne und auch keine Lebensmittel bezahlen müsse. Die Schwester sei für den Beschwerdeführer seine engste Bezugsperson im Leben.
Es wurde der Verdienstnachweis über 900 € monatlich vorgelegt. Der Beschwerdeführer befände sich in der Ausbildung zum Hochbauer und mit Unterstützung seiner Betreuerin wird er eine Bewerbung für die Firma XXXX schreiben, um dort anschließend zu arbeiten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und sunnitisch-muslemischem Glaubens. Er führt den Namen XXXX . Er wurde am XXXX in der Provinz Baghlan, im Dorf XXXX , geboren worden. In Afghanistan hat er nur in seinem Heimatdorf gelebt. Er hat in Afghanistan keine Schule besucht, jedoch hat er in der Moschee gelegentlich Koranunterricht bekommen. Seine Eltern sind beide verstorben. Nachdem Tod seiner Eltern ist er bereits in Afghanistan zu seiner älteren Schwester, XXXX gezogen, in deren Familie er bis heute lebt. Er wird als großer Bruder seiner Nichten gesehen und versorgt sie auch gelegentlich. Er ist in das Familienleben eingebunden. Er muss keinen Beitrag zur Miete oder für das Essen bezahlen.
Der Beschwerdeführer gelangte (spätestens) am 13.10.2015 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Da er zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig war, übernahm die ältere Schwester XXXX die Rolle des Vormundes.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD Oberösterreich, Außenstelle Linz vom 21.12.2017, Zl. XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten unter Spruchteil I. abgewiesen. Es wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigten unter Spruchpunkt II. zuerkannt und unter Spruchpunkt III. wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Absatz 4 AsylG bis zum 21.12.2018 erteilt.
Aufgrund des eingebrachten Antrages auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 19.03.2019 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, mit Bescheid Zl. XXXX vom 26.03.2019 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 21.12.2020.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.08.2020, Zl. XXXX wurde unter Spruchteil I. der mit Bescheid vom 21.12.2017 zuerkannte Status des subsidiären Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs.1 AsylG 2005 von Amtswegen aberkannt, unter Spruchpunkt II. die mit Bescheid vom 29.08.2017, Zl. XXXX , erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gem. § 9 Abs. 4 AslyG entzogen, unter Spruchteil III. die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen, unter Spruchteil IV. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, unter Spruchpunkt V. eine Rückkehrentscheidung erlassen, unter Spruchpunkt VI. festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und unter Spruchpunkt VII. eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise festgelegt.
Der Beschwerdeführer hat sich einen Freundeskreis aus Österreichern und von Angehörigen anderer Nationen aufgebaut. In seiner Freizeit trifft er sich mit Freunden, treibt Sport oder bleibt zu Hause um zu lesen.
Er hat 2 Jahre die Mittelschule und 2 Jahre das Polytechnikum besucht. Er ist bestrebt den Pflichtschulabschluss zu absolvieren. Zurzeit ist er durch das Arbeitsamt in einer Ausbildung als Hochbauer und verdient etwa 900 € monatlich. Seine Lehrerin wird ihn bei der Bewerbung um eine Anstellung bei der Firma XXXX unterstützen. Er hat am Werte- und Orientierungskurs teilgenommen und ein Zeugnis zur Integrationsprüfung über Sprachkompetenz A1 sowie A2 sowie Werte- und Orientierungswissen erworben. Er hat an Deutschkursen Niveau B1 teilgenommen und beabsichtigt die Prüfung zu absolvieren.
Der Beschwerdeführer ist gesund. Der Beschwerdeführer ist nicht vorbestraft.
II. Zur Lage in Afghanistan hier Auszüge aus dem Länderinformationsblatt für Afghanistan der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, generiert am 01.04.2021, Version 3 :
„[…]
COVID-19
Letzte Änderung: 31.03.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/ emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.03.2021; vgl. HRW 14.01.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).
Die Infektionen steigen weiter an, und bis zum 17.03.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.03.2021; WHO 17.03.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.03.2021)
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11% über dem des Vorjahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.03.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021; vgl. WB 15.07.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.03.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.03.2021).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.03.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.08.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 01.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.01.2021, AAN 01.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.03.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.07.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.03.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.03.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.09.2020). Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.03.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 31.03.2021
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Mio. (NSIA 6.2020) bis 39 Mio. Menschen (WoM 06.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Es ist geplant, die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hatte, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020) waren nur noch 1,8 Mio. Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Mio. bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Mio. (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah, erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020, TN 11.05.2020).
Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung unter Vorsitz von Abdullah wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004, USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.01.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.01.2021).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Insbesondere im Süden herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 09.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020), wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).
Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 05.01.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.01.2021; vgl. TN 09.01.2021).
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.01.2020; vgl. DZ 29.01.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.01.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.01.2020; vgl. BBC 23.01.2021).
Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.02.2021b.; vgl. AP 23.02.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 25.03.2021
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020; vgl. HRW 13.01.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.01.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29.