TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/2 W279 2189641-1

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Veröffentlicht am 02.07.2021
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Entscheidungsdatum

02.07.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W279 2189641-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. KOREN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Helmut BLUM, LL.M., Mozartstraße 11, 4020 Linz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.05.2021 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass die Rückkehrentscheidung gegen XXXX , auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß §§ 54 iVm 55 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2015 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 21.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Anlässlich seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes 2015 gab der BF an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, habe zuletzt im Iran, XXXX gelebt und seine Muttersprache sei Farsi. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, seine Eltern seien vor ca. 13 Jahren aus Afghanistan aufgrund des Krieges in den Iran geflüchtet. Im Iran hätten sie sich illegal aufgehalte. Vor ungefähr 3 Monaten sei sein Vater von den iranischen Sicherheitsbehörden mitgenommen und vermutlich nach Afghanistan abgeschoben worden. Aus Angst auch abgeschoben zu werden und in seiner Heimat getötet zu werden, sei er geflüchtet. Seine Mutter habe seine Flucht finanziert, damit er in ein sicheres europäisches Land gelange.

3. Mit Eingabe vom 04.11.2015 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) ein Schreiben hinsichtlich der Bestimmung des Knochenalters des BF, übermittelt.

4. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 02.02.2018 gab der BF im Wesentlichen an, er spreche Dari, Farsi und Deutsch. Er sei in der Provinz XXXX , in Afghanistan geboren und sei im Alter von 3 Jahren gemeinsam mit seiner Schwester und seinen Eltern in den Iran, nach XXXX , XXXX , gezogen. Dort habe er insgesamt 9 Jahre die Schule besucht, die ersten 5 Jahre sei es eine offizielle Schule und die weiteren 4 Jahre eine afghanische Schule gewesen. Weiters führte er aus, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und sich zur schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam zu bekennen. Er sei ledig, habe keine Kinder und habe im Iran auf Baustellen gearbeitet. Seine Eltern und seine Geschwister würden nach wie vor im Iran leben, der Vater arbeite als Hilfsarbeiter und die Mutter als Reinigungskraft.

Seine Familie habe Afghanistan aufgrund der Taliban verlassen. Er habe auch von seinen Eltern erfahren, dass seine gesamte Verwandtschaft in Afghanistan getötet worden sei.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte er zusammengefasst an, dass an dem Ort, wo seine Eltern gelebt hätten, überwiegend Tadschiken und Paschtunen, allerdings nicht viele Hazara gelebt hätten. Daher seien dort viel Taliban gewesen. Dies habe er erst in Österreich nach seiner Erstbefragung durch seine Mutter erfahren. Die Taliban seien bei ihnen zuhause gewesen und hätten von seinen Eltern verlangt, dass sie den BF den Taliban überlassen würden. Außerdem hätten sie seinen Vater bedroht, wenn er dem nicht nachkommen, würden sie gesamte Familie vernichten. Aus diesem Grund, habe die Familie Afghanistan verlassen. Im Iran sei die Familie illegal aufhältig gewesen. Als Afghane habe er keine Rechte gehabt und sei unmenschlich behandelt worden. Er sei nicht versichert gewesen, habe nicht überall arbeiten können und in Angst gelebt, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Im Jahr 2015 sei sein Vater schließlich für 3 Monate verschwunden. Als der BF in Österreich angekommen sei, habe er schließlich erfahren, dass sein Vater nach Afghanistan abgeschoben worden sei. Sein Vater habe erfahren, dass die Taliban eine Liste führen würden und er und sein Vater gesucht werden würden. Deswegen sei sein Vater wieder in den Iran geflüchtet.

In Österreich habe er einen Onkel namens XXXX (BF zu GZ W279 2189462-1), zu welchem er bis zu seiner Einreise nach Österreich keinen Kontakt gehabt habe. Er lebe seit ca. 2,5 Jahren in Österreich.

Zu seinem Leben in Österreich befragt, gab der BF an, er habe seit September 2017 eine Lehrstelle als Maurer und treffe am Wochenende gerne Freunde, darunter seien auch einige Österreicher.

5. Mit Bescheid des BFA vom 04.02.2018, Zl. XXXX , wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 04.10.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), sondern gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Entscheidungsbegründung wurde seitens des BFA im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Gefährdung nicht habe glaubhaft machen können.

Seine Angaben zu den fluchtauslösenden Gründen würden sich auf die behaupteten Lebensumstände im Iran stützen und mit keinem Konventionsgrund in Zusammenhang stehen. Außerdem gründe sich seine Furcht auf seine wirtschaftliche und allgemeine Situation im Iran.

Zwar seien dem BF erste integrative Schritte gelungen, doch würden sich – zusammengefasst – diese Umstände dadurch relativieren, dass der BF dies in einem Zeitraum geschafft habe, in dem sein Aufenthalt in Österreich nur an das Abwarten der Entscheidung über seinen Asylantrag geknüpft war. Es sei naheliegend, dass ein junger Mann in ca. 2 Jahren Freunde und Hobbys findet. Auf die gleiche Argumentation stütze das BFA auch die Ausführungen hinsichtlich der Lehrstelle des BF.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF, vollumfängliche Beschwerde.

7. Mit Schreiben vom 16.12.2020 und vom 04.05.2021 übermittelte der BF, vertreten durch seinen Rechtsvertreter einen Schriftsatz und ein Konvolut an Schriftstücken.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.05.2021 in Anwesenheit des BF, einer Dolmetscherin für die Sprache Farsi und im Beisein des Rechtsvertreters des BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF zu seinem Gesundheitszustand, seinem Fluchtgrund, seinem Leben im Heimatland sowie in Österreich befragt wurde. Das BFA ist nicht erschienen. Zudem wurde XXXX als Zeugin einvernommen.

Zu seinem Alltag befragt führte der BF im Wesentlichen aus, er stehe sehr früh auf und fahre öffentlich zu einer Station, wo ihn seine Kollegen für die Arbeit abholen würden. Dann arbeite er den ganzen Tag bis ungefähr 17:30 Uhr. Anschließend würde er oft ein Bier mit den Kollegen trinken und nach Hause fahren. Er habe die Lehrabschlussprüfung als Maurer abgelegt, sei übernommen worden und arbeite seit 03.09.2017 dort. Er wohne in Linz in der XXXX , alleine in einer 33m² großen Wohnung, sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Er fahre gerne Schi und sei bislang 7 Mal gefahren.

XXXX führte als Zeugin befragt, im Wesentlichen aus, dass sie den BF im Zuge eines Maurervorbereitungskurses in XXXX kennengelernt habe. Der BF sei ihr aufgefallen, da er besser gewesen sei, als die anderen und eifrig mitgemacht habe. XXXX sei ein kleiner Ort und man kenne sich. Deswegen habe sie ihm ihre Hilfe angeboten und ihm so geholfen eine Lehrstelle zu finden. Mit der Zeit hätten sie sich ein oder zwei Mal pro Woche gesehen und immer wieder über WhatsApp geschrieben. Auch Feste hätten sie miteinander gefeiert, sogar zu Weihnachten sei der BF bei ihr gewesen. Viele ihrer Freunde, sogar ihr Schwester hätten den BF bereits kennengelernt. Der BF habe einen Zweitwohnsitz bei ihr gemeldet und sei ein sehr angenehmer Hausgast. Vor ungefähr 2 oder 3 Jahren, habe sie ihn auf eine Adoption angesprochen. Man brauche für eine Adoption mindestens 5 Jahre intensiver Beziehung, bislang würden sie sich seit 4 Jahren kennen. Wenn es so weitergehe, könne sie sich das gut vorstellen. Der BF sei wie ein Sohn für sie und er sei ihr zudem eine große Hilfe im Haushalt und im Garten. Er habe österreichische Freunde und Freunde aus verschiedenen Ländern, mit denen er gerne Fußball spiele.

Er sei in der Provinz XXXX ( XXXX ), im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren, allerdings im Alter von ungefähr 3 Jahren mit seiner Familie in den Iran gezogen. Dort habe er 9 Jahre die Schule besucht und in XXXX , im Dorf XXXX gelebt. Dies sei ein Vorort von Teheran. Mit seinen Eltern habe er Farsi gesprochen. Neben Farsi, verstehe er Dari, es sprechen könne er allerdings nicht. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zur schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Er sei die letzten 19 Jahre nicht in Afghanistan gewesen. Seine Familie habe Afghanistan verlassen, weil sein Vater mit den Taliban und der Regierung Probleme gehabt habe. Im Falle einer Rückkehr fürchte er dort niemanden zu haben und mit dem Farsi-Akzent nicht gut anzukommen. Den Iran habe er verlassen, da er keine Aufenthaltsberechtigung gehabt habe. Der Polizeichef, welcher für den Ort zuständig war, wo der BF gelebt habe, habe gewechselt. Daraufhin sei sein Vater von der Polizei aufgrund seiner fehlenden Aufenthaltsberechtigung angehalten worden. Der BF habe Angst bekommen, ebenfalls angehalten zu werden und sei deswegen ausgereist. Seine Eltern und seine zwei Schwestern sowie sein Bruder seien seit ungefähr einem Jahr und 3 Monaten in Griechenland. Sie hätten dort einen Asylantrag gestellt und würden dortbleiben, ihr einziges Ziel sei ein sicheres Land gewesen.

In Österreich habe der BF seinen Onkel XXXX . Er sehe ihn höchstens drei Mal im Jahr, sie würden allerdings monatlich telefonieren. Mit seinen Eltern habe er regelmäßigen Kontakt und fühle sich noch mit ihnen verbunden, insbesondere mit seinen Geschwistern.

Sein Wunsch wäre es irgendwann Vorarbeiter zu werden und er plane sich ein Auto zu kaufen. Ans Heiraten denke er noch nicht.

Gegen eine Rückkehr in Städte wie Mazar-e Sharif oder Herat spreche seiner Meinung nach, dass sein Vater bereits versucht habe, dort zu bleiben. Er habe versucht die Mädchen in die Schule zu schicken, es habe allerdings ein Selbstmordattentat vor einer Mädchenschule gegeben und er habe zudem keine Arbeit gefunden. Allgemein käme er bei Afghanen nicht sehr gut an, er sei liberaler, vertrete eine sich gänzlich unterscheidende Einstellung und sei in ihren Augen ungläubig.

Über Familienangehörige in Afghanistan verfüge er nicht. Zudem wisse er nicht viel über seine Familie. Sein Vater habe sich mit seinem Großvater nicht gut verstanden. So habe er auch seinen Onkel XXXX erst in Österreich kennengelernt.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung legte der BF folgende Schriftstücke vor: mehrere Unterstützungsschreiben, Konvolut an Fotos, Lehrbrief über die Lehrabschlussprüfung WKO samt Zeugnis, Verdienstnachweis von März 2021, ÖSD Sprachzertifikat B2 „sehr gut bestanden“.

9. Am 25.05.2021 langte die Stellungnahme des BF auf die zu den in das Verfahren eingeführten Länderberichten, beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Am 17.06.2021 übermittelte das BFA einen Bescheid des AMS vom 10.05.2021 über die Beschäftigungsbewilligung des BF.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Der BF ist der Volksgruppe der Hazara zugehörig und bekennt sich zur schiitischen Glaubensgemeinschaft des Islam.

Der BF ist in Afghanistan in der Provinz XXXX , im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX , zog mitsamt seiner Familie im Alter von drei Jahren in den Iran und lebte dort in XXXX , im Dorf XXXX bis zu seiner Ausreise.

Der BF hat im Iran neun Jahre die Schule besucht und danach auf Baustellen gearbeitet.

Der BF verfügt über keine Familienangehörige in seinem Herkunftsstaat. Seine Eltern sowie seine Geschwister leben derzeit in Griechenland, der BF hat regelmäßig Kontakt zu diesen.

Der BF leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung oder sonstigen Beeinträchtigungen und ist arbeitsfähig.

1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Nicht festgestellt werden kann, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund einer Bedrohung durch die Taliban konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt droht.

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF in Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre. Im Entscheidungszeitpunkt konnte keine aktuelle Gefährdung des BF in Afghanistan festgestellt werden.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Nicht festgestellt werden kann, dass der BF im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht wäre. Der BF liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF spricht Dari auf muttersprachlichem Niveau, zudem spricht er noch Farsi sowie ein wenig Deutsch.

Eine Rückkehr des BF sowohl in seine Herkunftsprovinz XXXX ist aufgrund der Sicherheitslage nicht möglich.

Dem volljährigen BF steht aber eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat zur Verfügung.

Der BF ist mit den kulturellen Gepflogenheiten und der Sprache seines Herkunftsstaates vertraut, wuchs innerhalb eines afghanischen Familienverbandes auf und wurde zum weitaus überwiegenden Teil seines Lebens innerhalb dessen sozialisiert.

Der BF ist ein junger, gesunder, arbeits- und selbsterhaltungsfähiger Mann und leidet an keiner akuten oder lebensbedrohlichen psychischen oder physischen Erkrankung, welche ein Hindernis für die Rückführung nach Afghanistan darstellen würde.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Coronavirus SARS-CoV2 (COVID-19) kein Rückkehrhindernis für ganz Afghanistan darstellt. Der BF gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.4. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF hält sich seit seiner Einreise in Österreich und seiner Asylantragsstellung im Oktober 2015 durchgehend im Bundesgebiet auf. Er ist ledig, hat keine Kinder und ist strafrechtlich unbescholten.

Der BF besuchte während seines bisherigen Aufenthaltes in Österreich zahlreiche Sprachkurse und konnte am 12.07.2019 die ÖSD-Sprachprüfung auf dem Niveau B2 mit „sehr gut“ bestehen. Die Integrationsprüfung Sprachniveau B1, Sprachkompetenz und Werte-und Orientierungswissen absolvierte der BF am 05.06.2020. Der BF spricht sehr gut Deutsch.

Der BF wohnt alleine in einer 33m² großen Wohnung in der XXXX , in Linz und kommt selbstständig für die Miete auf.

Der BF besuchte in Österreich die Berufsschule XXXX und begann am 08.09.2017 eine Lehre als Maurer bei der Firma XXXX . Die Lehrabschlussprüfung für den Lehrberuf Maurer bestand der BF am 11.12.2020 und wurde von der Firma XXXX als Maurer übernommen.

In seiner Freizeit verbringt der BF viel Zeit mit seinen Freunden, die aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen stammen, so verfügt der BF über Freunde aus Österreich, aus Afghanistan und aus Angehörigen anderer Nationalitäten. Zudem spielt der BF gerne Fußball und unternimmt am Wochenende viel mit seinen Freunden. Der Beschwerdeführer verfügt über einen großen österreichischen Freundeskreis und ist bereits sehr gut in die österreichische Gesellschaft integriert.

Unter Berücksichtigung der Persönlichkeitskonstellation des Beschwerdeführers, seines Lebensverlaufs seit seiner Einreise und seinen Zukunftsperspektiven ist von einer überaus positiven Prognose auszugehen.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des BF sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen dieANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Jawzjan

Letzte Änderung: 10.03.2021

Jawzjan liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Turkmenistan, im Osten an Balkh, im Süden an Sar-e Pul und im Westen an Faryab (UNOCHA Balkh 4.2014). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Aqchah, Darzab, Faizabad, Khamyab, Khanaqa, Khwaja Dukoh, Mardyan, Mingajik, Qarqin und Qush Tepa sowie die Provinzhauptstadt Sheberghan (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Jawzjan 2019). Der Distrikt Darzab wurde aus Sicherheitsgründen von Faryab nach Jawzjan gegeben. Später wurde aus Darzab der zusätzliche Distrikt Qush Tepa herausgelöst (AAN 16.8.2018).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Jawzjan im Zeitraum 2020-21 auf 602.082 Personen (NSIA 1.6.2020). Im Jahr 2008 waren die beiden größten ethnischen Gruppen der Provinz Usbeken und Turkmenen, weiters gab es kleinere Gruppen an Paschtunen und sogenannte Araber sowie einige Tadschiken und Kuchi- Nomaden, deren Anzahl je nach Jahreszeit variiert (Larsson 11.2008).

Die Ring Road verbindet die Provinzhauptstadt Jawzjans mit dem großen Ballungszentrum Mazar-e Sharif in Balkh sowie mit der westlich gelegenen Provinz Faryab (TD 5.12.2017; vgl. LCA 4.7.2018). Die Straße ist asphaltiert und kann mit allen Arten von LKWs befahren werden (ECO 2020), wobei von einem Fall berichtet wurde, wo die Taliban den Straßenbelag auf diesem Abschitt beschädigten, vermutlich um den Verkehr zu verlangsamen und Kontrollen zu erleichtern (STDOK 21.7.2020). Die Taliban errichteten auf der Ring Road zwischen Sheberg- han und Mazar-e Sharif Kontrollpunkte (STDOK 21.7.2020; vgl. PAJ 7.1.2020) und Bewohner berichteten, dass Reisende auf diesem Abschnitt auch oftmals bei Kämpfen zwischen den Regierungstruppen und den Taliban festsitzen (AT 21.10.2020; vgl. PAJ 7.1.2020, AN 17.3.2020). Eine weitere Hauptstraße verbindet das benachbarte Sar-i-Pul mit der Ring Road in Sheberghan (TD 5.12.2017; vgl. LCA 4.7.2018). Mit Stand November 2020 gibt es keinen Linienflugbetrieb von und nach Jawzjan. Dieser wird über Mazar-e Sharif geführt (Kam Air Jawzjan o.D.; vgl. STDOK 25.3.2019). Jawzjan gilt als eine der strategisch wichtigen Provinzen des Landes, da sie über bedeutsame Erdgasreserven verfügt (PAJ Jawzjan o.D.; AN 16.8.2020).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Jawzjan ist die Heimat des ehemals mächtigen usbekischen Milizführers Abdul Rashid Dos- tum (RFE/RL o.D.; vgl. AAN 5.8.2020; KN 15.7.2020), seine ehemaligen Milizkämpfer sind dort präsent (RFE/RL o.D.). Die Sicherheitslage in der Provinz wurde im Juni 2020 als unruhig beschrieben (XI 30.6.2020; vgl. UNOCHA 21.6.2020). Mehrere Distrikte sind mit Stand November 2020 nach Einschätzung des Long War Journal entweder umkämpft oder befinden sich unter Talibankontrolle, während die Distrikte Mardyan, Mingajik und Sheberghan von der Regierung kontrolliert werden (LWJ o.D.; vgl. STDOK 21.7.2020). Anderen Quellen zufolge waren die Distrikte Khamyab und Qarqin im April 2020 von den Regierungskräften zurückerobert worden, nachdem sie in den vergangenen zwei Jahren unter Talibankontrolle gestanden hatten (ST 23.7.2020; USDOD 1.7.2020).

In der Provinz kam es in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und einer selbsternannten IS-Gruppierung (AAN 4.8.2018; SP 19.7.2018; AAN 11.11.2017). Die Taliban besiegten die IS-Kämpfer im Juli 2018, von denen sich manche daraufhin den afghanischen Sicherheitskräften ergaben (AAN 4.8.2018; vgl. UNSC 13.6.2019). Bewohner berichteten von Grausamkeiten, welche die selbsternannten IS-Kämpfer in Darzab begangen hatten als sie den Distrikt kontrollierten (ST 13.12.2018; vgl. PAJ 20.6.2018; PAJ 17.4.2018).

Das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU) ist in Jawzjan präsent (UNSC 27/5/2020) und unterhält dort Verbindungen zu Splittergruppen wie Khatiba Imam al-Bukhari (KIB) (UNSC 27/5/2020; vgl. LWJ 7.7.2020).

Aufseiten der Regierungstruppen befindet sich die Provinz Jawzjan in der Verantwortung des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps (USDOD 1.7.2020; KP 30.6.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA120 zivile Opfer (47 Tote und 73 Verletzte) in der Provinz Jawzjan. Dies entspricht einem Rückgang von 2% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodebkämpfe, gefolgt von Landminen und improvisierten Sprengkörpern (improvi- sed explosive devices, lEDs; ohne Selbstmordanschläge) und nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnance, UXO) (UNAMA 2.2021).

Es kam in Jawzjan zu Kämpfen (UNOCHA25.10.2020, UNOCHA4.10.2020, UNOCHA6.9.2020, BAMF 17.8.2020, UNOCHA 7.5.2020, UNOCHA 29/4/2020, BAMF 20.4.2020, UNOCHA 29.3. 2020), wobei die Taliban Sicherheitsposten oder Militärstützpunkte der Regierungskräfte (NYTM

1.10.2020, NYTM 28/8/2020, BAMF 22.6.2020, RFE/RL 17.6.2020, NYTM 30.4.2020, PAJ

28.3.2020, NYTM 30. 1.2020) und Distriktzentren angriffen (NYTM 30.4.2020) sowie einen Distrikt kampflos einnahmen (UNGASC 17.3.2020), während die Regierungstruppen Räumungs¬operationen durchführten (KP 30.6.2020, PNA 20.5.2020, PAJ 12.4.2020, MENAFN 7.3.2020, BNA 4.2.2020) und Distrikte zurückeroberten (ST 23.7.2020, USDOD 1.7.2020, UNGASC

17.6.2020) . Im August 2020 gab ein Vertreter des afghanischen Militärs an, dass die Sicherheits¬kräfte das Operationsgebiet gegen die Taliban in Jawzjan in den vergangenen zwei Monaten eingeengt hatten (ST 13.8.2020).

Weiters wurde über Explosionen von Sprengfallen am Straßenrand (NYTM 28.8.2020, AT

24.6.2020, NYTM 30.1.2020), wie auch Sprengfallenfunde und kontrollierte Detonationen (BNA

27.7.2020) sowie Entführungen in der Provinz berichtet (NYTM 27.2.2020, PAJ 10.12.2019).

Quellen:

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (5.8.2020): Still Preoccupied by ‘Who Gets What’: 100 days of the new government, but no full cabinet, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/politi cal-landscape/still-preoccupied-by-who-gets-what-100-days-of-the-new-govemment-but-no-full-ca binet/, Zugriff 5.11.2020

•        AAN -Afghanistan Analysts Network (16.8.2018): The Afghanistan Election Conundrum (12): Good news and bad news about district numbers, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/politi cal-landscape/the-afghanistan-election-conundrum-12-good-news-and-bad-news-about-district- numbers/, Zugriff 6.11.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (4.8.2018): Qari Hekmat’s Island Overrun: Taleban defeat ‘ISKP’ in Jawzjan, https://www.afghanistan-analysts.org/qari-hekmats-island-overrun-taleban-def eat-iskp-in-jawzjan/, Zugriff 6.11.2020

•        AAN - Afghanistan Analysts Network (11.11.2017): Qari Hekmat’s Island: A Daesh enclave in Jawzjan?, https://www.afghanistan-analysts.org/qari-hekmats-island-a-daesh-enclave-in-jawzjan/, Zugriff 6.11.2020

•        ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Data https://acleddata.com/data -export-tool/, Zugriff 26.2.2021

•        AN - Ariana News (16.8.2020): Excavation of gas well completed in Jawzjan, https://ariananews.a f/excavation-of-gas-well-completed-in-jawzjan/, Zugriff 5.11.2020

•        AN - Ariana News (17/3/2020): #Breaking [Twitter], https://twitter.com/ariananews_/status/12398 56663563317250?lang=en , Zugriff 5.11.2020

•        AT - Afghanistan Times (21/10/2020): Passengers, Drivers Affected by Security Situation in North, http://www.afghanistantimes.af/passengers-drivers-affected-by-security-situation-in-north/, Zugriff

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•        AT - Afghanistan Times (24.6.2020): Six civilians dead in Jawzjan bomb blast, http://www.afghanis tantimes.af/six-civilians-dead-in-jawzjan-bomb-blast/, Zugriff 6.11.2020

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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