TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/5 W251 2198635-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 05.07.2021
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Entscheidungsdatum

05.07.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §53 Abs1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W251 2198635-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Somalia, vertreten durch RA Mag. Georg BÜRSTMAYR, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.05.2018, Zl. 1106185200-160272175, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und der Beschwerdeführerin gemäß § 58 Abs. 2 iVm 55 Abs. 1 und 54 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte V. und VI. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine weibliche Staatsangehörige Somalias, stellte am 21.02.2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Beschwerdeführerin statt. Dabei gab sie zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass sie in Somalia zwangsverheiratet hätte werden sollen. Da der Mann, den sie heiraten hätte sollen, sehr alt gewesen sei, habe sie das nicht gewollt.

3. Am 19.03.2018 fand die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Die Beschwerdeführerin gab an, dass die in der Erstbefragung protokollierte Zwangsverheiratung nicht richtig sei. Das habe sie nie angegeben. Die Beschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass sie ihre Heimat nicht habe verlassen wollen. Sie habe lediglich ihre kranke Tante begleitet. Bei einer Rückkehr drohe ihr die Zwangsverheiratung durch ihren Vater.

4. Mit Schreiben ihrer damaligen Vertreterin brachte die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme in das Verfahren ein, in der vorgebracht wurde, dass sie beschnitten sei und nach wie vor körperliche und seelische Schmerzen habe. Bei einer Rückkehr habe sie Angst, von ihrem Vater zwangsverheiratet zu werden. Zudem sei die Sicherheitslage in Mogadischu äußerst schlecht.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.) und erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen die Beschwerdeführerin wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das Bundesamt aus, dass die Beschwerdeführerin ihre Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe der Beschwerdeführerin auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Die Beschwerdeführerin verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

6. Die Beschwerdeführerin erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte dagegen im Wesentlichen vor, dass sie bei einer Rückkehr befürchte, Opfer von massiver willkürlicher Gewalt, zwangsverheiratet oder wegen ihres längeren Aufenthaltes im Westen verfolgt zu werden. Zudem sei die humanitäre Lage von Frauen in Somalia katastrophal. Das Bundesamt sei seiner Ermittlungspflicht nicht in ausreichendem Umfang nachgekommen und habe lediglich unzureichende Länderfeststellungen herangezogen.

7. Mit Schreiben vom 05.09.2019, 19.01.2021 und 27.04.2021 brachte die Beschwerdeführerin Integrationsunterlagen, die Bestätigung über eine Defibulation und eine Stellungnahme zu den Länderinformationen in das Verfahren ein. Vorgebracht wurde außerdem, dass ihr bei einer Rückkehr nach Somalia eine Reinfibulation sowie eine Zwangsverheiratung drohe.

8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.05.2021 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die somalische Sprache und im Beisein des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung durch und vernahm drei Zeugen.

9. Die Beschwerdeführerin erstattete am 02.06.2021 eine Stellungnahme, in der sie auf das Bestehen des Adoptionsverhältnisses hinwies.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

1.1.1. Die Beschwerdeführerin führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist somalische Staatsangehörige und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Sie spricht Somali als Muttersprache. Sie ist ledig und kinderlos (AS 1, 105; Protokoll vom 04.05.2021 = VP S. 7 f).

An der Beschwerdeführerin wurde in Somalia eine Genitalbeschneidung durchgeführt (AS 263; OZ 14). Die Beschwerdeführerin unterzog sich in Österreich einer Defibulation (OZ 10, 14; VP S. 16).

1.1.2. Die Beschwerdeführerin ist Angehörige des Clans der Tumaal, Subclan XXXX , Subsubclan XXXX (AS 1, 105; VP S. 7 f).

1.1.3. Die Beschwerdeführerin wurde in Mogadischu geboren. Sie ist als Kleinkind mit ihrer Familie nach Beledweyne übersiedelt, wo sie bis zu ihrer Ausreise mit ihrer Mutter, ihren Geschwistern, Großeltern und Onkeln gelebt hat (AS 105; VP S. 9).

1.1.4. Die Beschwerdeführerin besuchte mehrere Jahre die Schule (AS 105; VP S. 8). Sie hat keine Berufsausbildung absolviert.

1.1.5. Die Mutter der Beschwerdeführerin lebt mit ihren zwei Brüdern bei der Großmutter der Beschwerdeführerin in XXXX , im Verwaltungskreis von Mogadischu. Die Schwester der Beschwerdeführerin lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Gaalkacyo. Ein Onkel väterlicherseits leben nach wie vor in Beledweyne im Haus, in dem die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie und den Onkeln gewohnt hat. Die Beschwerdeführerin hat Kontakt zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern (AS 107; VP S. 1 ff).

Die Beschwerdeführerin verfügt über Familienangehörige (Onkel und Tanten) in Mogadischu.

1.1.6. Die Beschwerdeführerin reiste im Jahr 2015 aus ihrem Herkunftsstaat aus (AS 106). Sie ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 21.02.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.1.7. Die Beschwerdeführerin leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, sie ist arbeitsfähig (AS 196; VP S. 4, 10 f). Sie gehört keiner COVID-19 Risikogruppe an und weißt diesbezüglich auch keine Dispositionen auf.

1.1.8. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Das von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.2.1. Die Beschwerdeführerin ist in Somalia allein aufgrund ihres Geschlechts keiner Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt.

Der Beschwerdeführerin droht keine sexuelle Ausbeutung oder Verfolgung durch die Al Shabaab oder durch andere Personen. Ihr droht auch keine Zwangsheirat (unter anderem durch ihren Vater) in Somalia.

1.2.2. Die Beschwerdeführerin ist in Somalia allein aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit keiner Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt.

1.2.3. Die Beschwerdeführerin hat keinen auf Eigenständigkeit bedachten Lebensstil verinnerlicht, der bei einer Rückkehr nach Somalia einen nachhaltigen und wesentlichen Bruch mit den dortigen Gepflogenheiten und Sitten darstellen würde.

Der Beschwerdeführerin droht aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils in Somalia weder Lebensgefahr noch psychische oder physische Gewalt.

Der Beschwerdeführerin ist es möglich, sich in das somalische Gesellschaftssystem zu integrieren.

1.2.4. Die Beschwerdeführerin ist in Somalia aufgrund der bereits durchgeführten Genitalbeschneidung weder einer Lebensgefahr noch psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt. Beschnittenen Frauen droht in Somalia aufgrund dieses Merkmals kein Eingriff in ihre körperliche Integrität oder Verfolgung.

Die Beschwerdeführerin hat sich in Österreich deinfibulieren lassen. Es besteht in Somalia kein Zwang, dass Frauen sich einer Reinfibulation unterziehen. Der Beschwerdeführerin droht in Somalia auch kein Risiko einer Reinfibulation (Wiederverschließung).

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat:

Die Beschwerdeführerin wurde in Mogadischu geboren, übersiedelte jedoch als Kleinkind mit ihrer Familie nach Beledweyne, wo sie bis zu ihrer Ausreise lebte. Es wird daher Beledweyne als Herkunftsort herangezogen.

Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr in die Stadt Beledweyne kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit. Beledweyne untersteht der Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM und ist daher ausreichend sicher. Beledweyne kann hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Die Sicherheitslage ist unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der Al-Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer AMISOM-Truppen und der äthiopischen Armee. Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und eine Formed Police Unit von AMISOM. Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte sowie einzelne Polizisten und eine Formed Police Unit von AMISOM.

In Beledweyne leben nach wie vor Onkel und Tanten der Beschwerdeführerin. Sie könnte von ihnen Schutz erhalten.

Beledweyne ist jedoch von erheblicher Nahrungsmittelunsicherheit betroffen (IPC-Stufe 3 – crisis).

Dazu kommt, dass die Sicherheitslage entlang der Straße Jowhar - Buulo Barde – Beledweyne grundsätzlich für den Personenverkehr und Warentransport geöffnet ist. Die Straße unterliegt allerdings noch immer einer erheblichen Bedrohung durch Al-Shabaab. Die Sicherheitslage entlang der Straße Jowhar - Buulo Barde - Beledweyne hat sich verschlechtert, die Straße gilt nicht als durchgehend sicher. Es kann daher keine sichere Erreichbarkeit der Stadt Beledweyne gewährleistet werden. Die Beschwerdeführerin kann daher nicht in ihren Herkunftsort zurückkehren.

Die Beschwerdeführerin kann sich jedoch in Mogadischu ansiedeln und dort ein Leben ohne unbillige Härten führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Die Sicherheitslage in Mogadischu ist ausreichend sicher. Mogadischu verfügt über einen internationalen Flughafen und ist sicher erreichbar.

Die Beschwerdeführerin ist mit den Gepflogenheiten in Somalia vertraut und spricht Somalisch als Muttersprache. Sie ist jung und arbeitsfähig und verfügt über eine Schulbildung.

Die Beschwerdeführerin verfügt in Mogadischu über Familienangehörige in Form von Tanten und einem Onkel. Zudem wird die Beschwerdeführerin von ihrer Adoptivfamilie in Österreich bei einer Rückkehr nach Somalia finanziell unterstützt.

Es ist der Beschwerdeführerin daher möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Somalia in Mogadischu Fuß zu fassen und dort ihr Leben ohne unbillige Härten führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4. Zum (Privat)Leben der Beschwerdeführerin in Österreich:

Die Beschwerdeführerin ist seit ihrer Antragsstellung am 21.02.2016 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG in Österreich durchgehend aufhältig.

Die Beschwerdeführerin hat mehrere Deutschkurse bis Niveau B2 besucht und die Integrationsprüfung für das Niveau A2 am 10.11.2018 und für Niveau B1 am 28.02.2020 erfolgreich absolviert (VP S. 13; OZ 11, OZ 14).

Die Beschwerdeführerin besuchte eine Polytechnische Schule und hat im Juli 2020 ihren Pflichtschulabschluss bestanden. Derzeit besucht sie eine Höhere Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe (OZ 14, Beilage ./A).

Sie hat von Dezember 2018 bis September 2019 unentgeltlich in einem Praxiskindergarten praktiziert (OZ 14). Sie hat für einen gemeinnützigen Verein freiwillig verschiedene Hilfstätigkeiten ausgeübt (VP S. 14). Die Beschwerdeführerin lebt von der Grundversorgung und den finanziellen Zuwendungen ihrer Wahleltern (VP S. 14).

Die Beschwerdeführerin wurde von ihren Wahleltern, XXXX , geboren am XXXX , und XXXX , geboren am XXXX , aufgrund des zugrundeliegenden Adoptionsvertrags mit Wirksamkeit vom 15.04.2019 an Kindes statt angenommen. Diese Annahme an Kindes statt wurde mittels Beschluss eines Bezirksgerichts bewilligt (OZ 11, OZ 14).

Die Beschwerdeführerin lebt seit 02.05.2016 bei ihren Wahleltern, die seit 10.05.2016 ihre Pflegeeltern sind (OZ 11).

Die Beschwerdeführerin ist strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I).

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Somalia, Stand 31.03.2021 (LIB),

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation - Alleinstehende Frauen, wohnen, arbeiten vom 22.03.2018 (Anfragebeantwortung Frauen)

-        FFM Report Somalia, Sicherheitslage in Somalia, August 2017 (FFM),

-        Focus Somalia Clans und Minderheiten vom 31.05.2017 (Focus Somalia),

-        ACCORD Themendossier humanitäre Lage in Somalia, vom 22.02.2021 (ACCORD)

-        FSNAU-FEWS, Post Deyr Technical Release vom 04.02.2021 (FSNAU)

1.5.1. Politische Situation

Somalia ist faktisch zweigeteilt in die somalischen Bundesstaaten und Somaliland, einen selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (LIB, Kapitel Politische Lage).

Seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 war Süd-/Zentralsomalia immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen. Somalia hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt, staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert, auf vielen Gebieten wurden große Fortschritt erzielt. Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (LIB, Kapitel Politische Lage).

Somalia befindet sich in einer schweren Verfassungs- und politischen Krise. Das Versagen, einen Kompromiss zu finden, hat nicht nur den demokratischen Prozess unterminiert, es hat die Sicherheit Somalias vulnerabel gemacht. Denn al Shabaab hat sich die politische Krise zu Nutzen gemacht und die Angriffe seit Anfang 2021 verstärkt (LIB, Kapitel Politische Lage).

Es konnten neue Bezirks- und Regionalverwaltungen etabliert werden. Neben Puntland wurden in den letzten Jahren vier neue Bundesstaaten geschaffen: Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet. Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (LIB, Kapitel Politische Lage).

Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB, Kapitel Politische Lage).

1.5.2. Sicherheitslage

Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer, wo die Sicherheitslage instabil bzw. volatil bleibt (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Während die somalische Regierung und ihre Alliierten zwar im Großen und Ganzen territoriale Gewinne verzeichnen und die Kontrolle über die meisten Städte halten können, ist es ihnen nicht gelungen, die Kontrolle in ländliche Gebiete auszudehnen. Die Kontrolle der somalischen Bundesregierung ist im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (LIB, Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIB, Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

Die Bezirke Merka, Qoryooley und Afgooye sind nach wie vor stark von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen diesen Städten liegt im Fokus von al Shabaab (LIB Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Al Shabaab kontrollierte im Jahr 2019 so viel Land, wie schon seit dem Jahr 2010 nicht mehr. Man rechnet mit 20% des gesamten Staatsterritoriums. Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren. Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf AMISOM, aber auch auf Unterstützung durch die USA – angewiesen. Dies wird sich in den nächsten Jahren nicht ändern (LIB, Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

In den Jahren 2018 und 2019 war die Zahl an Vorfällen zunächst rückläufig – v.a. wegen der intensivierten Operationen gegen al Shabaab. Die Gruppe konnte dabei aus einigen strategisch wichtigen Punkten vertrieben werden. Die Zahl an zivilen Opfern durch Sprengstoffanschläge ging demnach 2020 gegenüber 2019 um 50% zurück. Im Jahr 2020 haben sich aber zuletzt die Angriffe auf somalische Kräfte und AMISOM wieder gemehrt. Dies kann direkt mit den politischen Streitigkeiten zwischen Bund und Bundesstaaten in Zusammenhang gebracht werden, da dadurch für den Kampf gegen al Shabaab notwendige Ressourcen umgeleitet wurden. Aufgrund des politischen Streits rund um das Ende der Präsidentschaft Farmajos ist die Sicherheitslage in einer Abwärtsspirale. Sicherheitskräfte haben teilweise seit Monaten keinen Sold erhalten und halten sich in Mogadischu und anderen Landesteilen an der Bevölkerung schadlos. Ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch AMISOM kann auf der aktuellen Grundlage nicht erwartet werden (LIB, Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

Ein Vordringen größerer Kampfverbände der al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und AMISOM – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (LIB, Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

Al Shabaab führt nach wie vor eine effektive Rebellion und bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden und Sicherheit. Die Gruppe führt ihren Kampf mit zunehmender Intensität und Häufigkeit. Die Angriffe auf sogenannte high-profile-Ziele in Mogadischu und anderswo wurden verstärkt. Angriffe gelten Regierungseinrichtungen, Behördenmitarbeitern, Sicherheitskräften, internationalen Partnern und öffentlichen Plätzen – z.B. Restaurants und Hotels. Al Shabaab führt weiterhin regelmäßige Angriffe auf Regierungsstellungen durch (LIB, Kapitel Sicherheitslage Süd-/Zentralsomalia, Puntland).

1.5.3. Mogadischu:

Mogadischu bleibt weiterhin unter Kontrolle der Regierung und AMISOM. Generell hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung in den vergangenen Jahren verbessert. Die Regierung unternimmt einiges, um die Sicherheit in der Stadt zu verbessern. So wurden etwa 20 zusätzliche Checkpoints errichtet und im Zeitraum November 2019 bis Jänner 2020 190 gezielte Sicherheitsoperationen durchgeführt. Die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden in Mogadischu haben sich verbessert, sie können nunmehr Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte (LIB, Kapitel Sicherheitslage Mogadischu).

Allerdings werden solche Maßnahmen nicht permanent aufrechterhalten; werden sie aber vernachlässigt, steigt auch wieder die Zahl an Anschlägen durch al Shabaab. Die Checkpoints wurden teilweise wieder abgebaut. Zudem haben Teile der Sicherheitskräfte seit Monaten keinen Sold erhalten, im Feber 2021 hielten sich Soldaten in Mogadischu an den Bewohnern schadlos. In Mogadischu kommt es immer wieder auch zu Auseinandersetzungen der somalischen Sicherheitskräfte untereinander, bei denen nicht selten auch Unbeteiligte zu Schaden kommen. Insgesamt ist die Sicherheitslage in Mogadischu ständigen Änderungen unterworfen (LIB, Kapitel Sicherheitslage Mogadischu).

Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. Bei einem Abzug von AMISOM aus Mogadischu droht hingegen die Rückkehr von al Shabaab (LIB, Kapitel Sicherheitslage Mogadischu).

In Mogadischu betreibt al Shabaab nahezu eine Schattenregierung: Betriebe werden eingeschüchtert und „besteuert“ und eigene Gerichte sprechen Recht. Jedenfalls verfügt al Shabaab über großen Einfluss in Mogadischu und ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben (LIB, Kapitel Sicherheitslage Mogadischu).

Für Mogadischu selbst gilt die IPC-Stufe 2 (stressed); für IDP’s (Banadir) die IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU).

Mogadischu ist über einen internationalen Flughafen sicher erreichbar (LIB Kapitel Rückkehr). Mogadischu verfügt über einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken (LIB Kapitel Medizinische Versorgung).

Die (Clan-)Zusammensetzung der Bevölkerung von Mogadischu ist sehr heterogen. Dort können sich Angehörige jedes Clans niederlassen. Zudem gibt aus Mogadischu keine Meldungen hinsichtlich erheblichen Problemen bei der Bewegungsfreiheit (LIB Kapitel Bewegungsfreiheit).

1.5.4. Hiraan/Beledweyne:

Hiiraan: Belet Weyne, Buulo Barde, Jalalaqsi und Maxaas befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und AMISOM. Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (LIB Kapitel Sicherheitslage Hiraan).

Im Nordwesten Hiiraans ist al Shabaab nur in geringer Stärke präsent. Vor allem der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist aktuell als sicher anzusehen. Wesentliche Teile von Hiiraan befinden sich hingegen unter Kontrolle von al Shabaab – vor allem die Gebiete westlich der Straße Jalalaqsi – Belet Weyne (LIB Kapitel Sicherheitslage Hiraan).

Aufgrund der Zuspitzung der Clanrivalität zwischen lokalen Clans und der Regierung von HirShabelle kam es zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage um Belet Weyne. In der Stadt ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der al Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer AMISOM-Truppen und der äthiopischen Armee. Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und eine Formed Police Unit von AMISOM. Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte sowie einzelne Polizisten und eine Formed Police Unit von AMISOM. Clankonflikte werden nicht in der Stadt, sondern außerhalb ausgetragen. Die in Belet Weyne vorhandene Präsenz der al Shabaab scheint kaum relevant – auch wenn die Zahl an Anschlägen mit Sprengsätzen und Handgranaten sowie an gezielten Attentaten zugenommen hat (LIB Kapitel Sicherheitslage Hiraan).

Überschwemmungen: Schon im Zuge der überaus positiv ausgefallenen Deyr-Regenzeit (September-Dezember) 2019 kam es in HirShabelle, Jubaland und dem SWS zu Überschwemmungen. Besonders betroffen war Belet Weyne. 570.000 Menschen waren betroffen, 370.000 mussten ihre Häuser verlassen. Humanitäre Organisationen haben mehr als 350.000 Menschen Unterstützung geleistet. Doch auch die Gu-Regenzeit (April-Juni) 2020 sorgte für Überschwemmungen. Erneut waren in 39 Bezirken 1,3 Millionen Menschen betroffen, ca. 500.000 wurden vertrieben. Bei saisonalen Überflutungen im September 2020 wurden erneut 630.000 Menschen vertrieben. Dies betraf v. a. die Bezirke Merka, Afgooye, Balcad, Jowhar und Jalalaqsi (LIB Kapitel Grundversorgung).

Im Mai 2020 wurden Teile des Bezirks und der Stadt Belet Weyne überschwemmt. Es handelte sich um die zweite große Überschwemmung in diesem Landesteil binnen eines halben Jahres (LIB Kapitel Sicherheitslage Hiraan).

Al Shabaab untergräbt auch weiterhin die Sicherheit in HirShabelle, ihre Aktivitäten im Bundesstaat haben sich intensiviert, die Zahl an Sprengstoffanschlägen auf AMISOM und somalische Armee hat sich erhöht. Zudem hat die Gruppe erfolgreich wesentliche Versorgungsrouten unterbrochen. So hat sich etwa die Sicherheitslage entlang der Straße Jowhar - Buulo Barde - Belet Weyne wieder verschlechtert, die Straße gilt nicht als durchgehend sicher (LIB Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation).

Die Sicherheitslage entlang der Straße Jowhar - Buulo Barde - Belet Weyne ist grundsätzlich für den Personenverkehr und Warentransport geöffnet. Die Straße unterliegt allerdings noch immer einer erheblichen Bedrohung durch al Shabaab, wenn auch die Frequenz der Überfälle entlang dieser Verbindungslinie merklich abgenommen hat (LIB Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation).

Besorgniserregend ist die Unter- und Mangelernährung in folgenden Gebieten bzw. bei folgenden Gruppen: Shabelle und Juba riverine; Southern Inland pastoral (Ceel Barde); Xudur Stadt; Bay agropastoral; Bezirke Belet Weyne, Jalalaqsi, Buulo Barde; Matabaan; IDPs in Xudur, Baidoa, Mogadischu, Bossaso, Garoowe und Galkacyo; Hawd pastoral (LIB Kapitel Grundversorgung).

In Beledweyne herrscht in der Prognose für April bis Juni 2021 die IPC-Stufe 3 - crisis (FSNAU).

1.5.5. Al-Shabaab:

Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: der Eroberung Somalias. Allerdings wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB, Kapitel Al Shabaab)

Die Menschen auf dem Gebiet von al Shabaab sind einer höchst autoritären und repressiven Herrschaft unterworfen. Die Gruppe versucht, alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens der Menschen zu kontrollieren. Die mit der Nichtbefolgung strenger Vorschriften verbundenen harten Bestrafungen haben ein generelles Klima der Angst geschaffen. Dadurch kann al Shabaab die Bevölkerung kontrollieren, rekrutieren, Gebiete kontrollieren, Steuern eintreiben und ihre Gesetze durchsetzen (LIB, Kapitel Al Shabaab).

In den von ihr kontrollierten Gebieten verfügt al Shabaab über effektive Verwaltungsstrukturen, eine Art von Rechtsstaatlichkeit und eine effektive Polizei. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB, Kapitel Al Shabaab).

1.5.6. Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates:

Im somalischen Kulturraum existieren drei Rechtsquellen: traditionelles Recht (Xeer), islamisches Schariarecht (v.a. für familiäre Angelegenheiten) sowie formelles Recht. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).

1.5.7. Clanstruktur:

Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB, Kapitel Minderheiten und Clans).

Die Clanfamilien unterteilen sich in die Ebenen der Clans, Sub(sub)clans, Lineages und die aus gesellschaftlicher Sicht bei den nomadischen Clans wichtigste Ebene, die sogenannte Mag/Diya (Blutgeld/Kompensation) zahlenden Gruppe (Jilib), die für Vergehen Einzelner gegen das traditionelle Gesetz (Xeer) Verantwortung übernimmt (Focus, S. 8 f, LIB Kapitel Rechtsschutz und Justizwesen).

Clanschutz bedeutet für eine Einzelperson die Möglichkeit vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Ein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Kompensation zu zahlen - oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Generell - aber nicht überall - funktioniert Clanschutz besser als der Schutz durch Staat oder Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt (LIB, Kapitel Rechtsschutz und Justizwesen).

Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Als "noble" Clanfamilien gelten die traditionell nomadischen Hawiye, Darod, Dir und Isaaq sowie die sesshaften Digil und Mirifle/Rahanweyn. Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (LIB, Kapitel Bevölkerungsstruktur).

In Mogadischu verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (LIB, Kapitel Bevölkerungsstruktur).

Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (LIB, Kapitel Bevölkerungsstruktur).

Aufgrund der großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Clans ist es auch heute für Somalier im somalischen Kulturraum essentiell und in der Diaspora zumindest nicht irrelevant, sich in diesem System verorten zu können (Focus, S. 20). Jüngere Somalier im urbanen Raum oder in der Diaspora sind heute häufig nur noch in der Lage, ihre Clanzugehörigkeit bis zur Stufe Sub-Clan sowie vier oder fünf Generationen im Abtirsiimo (Abstammungslinie) aufzuzählen. Es kommt aber selbst bei jungen Somalier in der Diaspora nicht vor, dass sie gar keine Ahnung von ihrem Clan und ihrem Abtirsiimo haben. Sogar wenn sie sich für das Clansystem nicht interessieren, können sie zumindest ihren Clan und Sub-Clan sowie den Abtirsiimo bis zum Urgroßvater nennen. Fast alle Somalier kennen zumindest ihren Clan-Ältesten (Focus, S. 24).

Berufsständige Minderheiten

Berufsständische Gruppen unterscheiden sich weder durch Abstammung noch durch Sprache und Kultur von der Mehrheitsbevölkerung. Im Gegensatz zu den „noblen“ Clans wird ihnen aber nachgesagt, ihre Abstammungslinie nicht auf Prophet Mohammed zurückverfolgen zu können. Ihre traditionellen Berufe werden als unrein oder unehrenhaft erachtet. Diese Gruppen stehen damit auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie in der Gesellschaft. Sie leben verstreut in allen Teilen des somalischen Kulturraums, mehrheitlich aber in Städten. Ein v. a. im Norden bekannter Sammelbegriff für einige berufsständische Gruppen ist Gabooye, dieser umfasst etwa die Tumal, Madhiban, Muse Dheriyo und Yibir (LIB Kapitel Berufsständige Minderheiten).

Angehörige dieser Gruppen arbeiten traditionell als Friseure, Schmiede, Metallbearbeiter, Färber, Schuhmacher und Töpfer. Neben den handwerklichen Berufen sind sie auch als Jäger, Viehhüter, Bauern und Beschneider tätig (Focus, S. 15).

Die Tumaal sind traditionell als Schmiede tätig, arbeiten mittlerweile aber auch in anderen Berufen. Zudem sind auch andere Berufsgruppen-Angehörige als Schmiede tätig. Sie leben in Nord- und Zentralsomalia sowie in einigen Städten Südsomalias (Focus, S. 17).

Diskriminierung: Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye. In Mogadischu sind Angehörige von Minderheiten keiner systematischen Gewalt ausgesetzt. Allerdings sind all jene Personen, welche nicht einem dominanten Clan der Stadt angehören, potentiell gegenüber Kriminalität vulnerabler (LIB Kapitel Berufsständige Minderheiten).

1.5.8. Grundversorgung:

Die somalische Wirtschaft hat mit dem dreifachen Schock aus Covid-19, einer Heuschreckenplage und Überschwemmungen zu kämpfen. Dabei hat sich die Wirtschaft als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet. Trotzdem bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt (LIB Kapitel Grundversorgung).

Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort (Stadt-Land- und Nord-Süd-Gefälle) ab. Generell zeigt vor allem die urbane Ökonomie in Somalia – allen voran in Mogadischu – eine Erholung. Es gibt einen Bau-Boom. Supermärkte, Restaurants und Geschäfte werden eröffnet. Alleine der Telekom-Konzern Hormuud Telecom hat in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer. In Puntland und Teilen Südsomalias – insbesondere Mogadischu – boomt der Bildungsbereich (LIB Kapitel Grundversorgung).

Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen limitiert sind. Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Gerade um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man aber auch auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde (LIB, Kapitel Grundversorgung).

Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jenen auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z.B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten.

Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8%). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1%). 6,9% arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8% als Handwerker, 4,7% als Techniker, 4,1% als Hilfsarbeiter und 2,3% als Manager (LIB, Kapitel Grundversorgung).

Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z.B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie) (LIB, Kapitel Grundversorgung).

Frauen stoßen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vor – etwa bei Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43% der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (LIB, Kapitel Grundversorgung).

Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z.B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i.d.R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80%-90% des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf Baustellen. Für Frauen gibt es auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z.B. können sie nicht Taxifahrer werden (LIB, Kapitel Grundversorgung).

Für viele Haushalte sind Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte (LIB, Kapitel Grundversorgung).

1.5.9. Aktuelle Grundversorgungslage (Nahrungsmittelversorgung, Dürre, Überflutung)

Aufgrund einer schlechten und unregelmäßigen Niederschlagsverteilung, der schweren Überschwemmungen, der Heuschreckenplage und der sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 und den anhaltenden Konflikten wird erwartet, dass bis zu 2,7 Millionen Menschen in ganz Somalia voraussichtlich bis Mitte 2021 mit Lücken beim Nahrungsmittelkonsum oder der Erschöpfung von Vermögenswerten, die auf eine Krise hindeuten (IPC-Phase 3), konfrontiert sein werden, wenn keine humanitäre Hilfe geleistet wird. Die verfügbaren Prognosen deuten auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von unterdurchschnittlichen Niederschlägen während der Gu-Saison 2021 (April bis Juni) im größten Teil des Landes hin, was sich nachteilig auf die Ernährungssicherheit und die Ernährungsergebnisse auswirken würde (FSNAU).

Die verzögerte und unregelmäßige Niederschlagsverteilung kennzeichnete die Deyr-Saison von Oktober bis Dezember 2020, was zu unterdurchschnittlichen kumulierten Niederschlägen im größten Teil des Landes führte. Die schlechten Regenfälle führten zu einer unzureichenden Wiederauffüllung der Weide- und Wasserressourcen und zu einer unterdurchschnittlichen Deyr-Pflanzenproduktion. Darüber hinaus verursachte der Zyklon Gati Ende November in den nordöstlichen Küstengebieten erhebliche Schäden und Todesfälle bei Nutztieren, obwohl die Regenfälle letztendlich die trockenen Bedingungen linderten. Des Weiteren verursachten wiederkehrende Überschwemmungen zwischen Juli und Anfang November weitere Vertreibungen der Bevölkerung und beschädigten Ernten und Ackerland in den Flussgebieten der Regionen Hiiraan, Shabelle und Juba. Trotz günstiger Niederschläge in Hagaa/Karan (Juli-September) in agropastoralen und pastoralen Gebieten im Nordwesten konnten die Regenfälle die Ernteverluste nicht ausgleichen, die durch schlechte Gu-Niederschläge (April-Juni 2020) während der Pflanz-, Keim- und Vegetationsperiode verursacht wurden (FSNAU).

Die Getreideproduktion in der Deyr-Saison 2020 in Südsomalia wird auf 78 600 Tonnen geschätzt, was 20 Prozent unter dem Durchschnitt von 1995-2019 liegt. Die Hauptfaktoren für eine unterdurchschnittliche Produktion sind schlechte und unregelmäßige Niederschläge, wiederkehrende Überschwemmungen, Wüstenheuschrecke und Konflikte. Im Nordwesten wird die im November 2020 geerntete Gu/Karan-Getreideproduktion im Jahr 2020 auf 17 100 Tonnen geschätzt, was 58 Prozent unter dem Durchschnitt von 2010-2019 liegt. Dies ist hauptsächlich auf schlechte und unregelmäßige Niederschläge sowie den Befall mit Wüstenheuschrecken und Stängelbohrern sowohl bei Hirse als auch Mais zurückzuführen (FSNAU).

Die ländliche Bevölkerung verzeichnet einen mehrfachen Rückgang der Nahrungsmittel- und Einkommensquellen. In pastoralen Gebieten haben unterdurchschnittliche Niederschläge in Teilen des Nordens, angrenzenden Gebieten Zentral-Somalias, Küstengebieten und der Region Gedo zu Wasserknappheit und Weidemangel geführt, was zu einer atypischen, früher als normalen Migration von Nutztieren in entfernte Weidegebiete führte. Infolgedessen ist die Verfügbarkeit von Milch zum Verzehr und Verkauf begrenzt. Darüber hinaus hat ein starker Rückgang der Viehausfuhren seit August 2020 Pastoralisten und andere Haushalte, die in der Wertschöpfungskette von Nutztieren arbeiten, nachteilig beeinflusst (FSNAU).

In den Gebieten entlang der Flüsse Shabelle und Juba zerstörten wiederkehrende Überschwemmungen Ackerland und Getreide und verdrängten die lokale Bevölkerung, was zu erheblichen Ernteverlusten und Einkommensverlusten durch landwirtschaftliche Beschäftigung führte. Infolgedessen wird ein erheblicher Teil der armen Haushalte in Flussgebieten bis Mitte 2021 auch mit moderaten bis großen Lücken beim Lebensmittelkonsum konfrontiert sein (FSNAU).

Die Zahl an Menschen, die in ganz Somalia stark oder sehr stark von Lücken in der Nahrungsmittelversorgung betroffen sind (IPC 3 und höher), ist von 1,3 Millionen Anfang 2020 auf 1,6 Millionen Anfang 2021 angewachsen. Weitere 2,5 Millionen Menschen leiden ebenfalls an Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung (LIB Kapitel Grundversorgung).

Für die urbane Bevölkerung in Mogadischu gilt IPC-Stufe 2 (stressed), für IDP-Lager in Mogadischu gilt IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU).

Für Beledweyne gilt laut IPC-Prognose für April bis Juni 2021 die IPC-Stufe 3 – crisis (FSNAU).

Am 22. November 2020 ist der Zyklon Gati in Bari, in der halbautonomen Region Puntland, auf Land getroffen. Im Distrikt Iskushuban sind etwa 60.000 Menschen und im Distrikt Bossaso schätzungsweise 40.000 Personen betroffen gewesen. Etwa 90 Prozent der Betroffenen sind IDPs oder Flüchtlinge gewesen, die in flutgefährdeten Gebieten wohnen. 42.000 Personen sind vertrieben worden, jedoch sind fast alle der Vertriebenen bis 30. November 2020 wieder in ihre Herkunftsgebiete zurückgekehrt. Viele der zurückgekehrten Haushalte wohnen jedoch in beschädigten Häusern oder Unterkünften. Der Zyklon hat zudem zu Zerstörung von Vermögenswerten der Lebensgrundlage in bedeutendem Ausmaß geführt. Zusätzlich ist aufgrund der durch den Sturm verursachten Zerstörung der Zugang zu einigen Gebieten in Bari eingeschränkt worden. Dies hat Nahrungsmittellieferungen und Lieferungen anderer Güter an lokale Märkte behindert und hat zu einem Preisanstieg geführt (ACCORD).

Die Löhne für Hilfsarbeiten sind laut im November 2020 veröffentlichtem Market Update der FSNAU im Oktober 2020 in den meisten Regionen Somalias leicht gestiegen, außer in den zentralen Regionen, wo die Löhne leicht zurückgegangen seien. Im Vergleich mit dem Fünfjahresschnitt für den Monat Oktober (2015-2019) ist es zu einem leichten bis moderaten Anstieg in den Regionen Sorghum Belt [Bay, Bakool, Gedo und Hiran], Banadir [Mogadischu] und den zentralen und nördlichen Regionen gekommen. Dies wird der relativen Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten während des Jahres zugeschrieben. Im Jubatal sowie den Shabelle-Regionen sind die Löhne aufgrund der negativen Auswirkungen von Überflutungen und Konflikten auf die saisonalen landwirtschaftlichen Aktivitäten und Arbeit geringer (ACCORD).

45,9 Prozent der beschäftigten Personen ab 15 Jahren sind in der Landwirtschaft tätig. In letzter Zeit ist der Dienstleistungssektor wichtiger geworden, insbesondere Geldüberweisung, Telekommunikation und Baugewerbe. Der Handwerksbereich ist weiterhin träge. Der größte Teil der Beschäftigten sind Hilfsarbeitskräfte (41 Prozent) (ACCORD).

1.5.10. Binnenflüchtlinge (IDPs):

IDPs sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht.

Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung; es kommt auch zu Vertreibungen und sexueller Gewalt. Dies trifft in erster Linie Bewohner von IDP-Lagern – in Mogadischu v.a. jene IDPs, die nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen. Weibliche IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung besonders gefährdet. 2018 betrafen 80 % der gemeldeten Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt IDPs. Zu den Tätern gehören bewaffnete Männer und Zivilisten. Für IDPs in Lagern gibt es keinen Rechtsschutz, und es gibt in Lagern auch keine Polizisten, die man im Notfall alarmieren könnte (LIB, Kapitel Binnenflüchtlinge).

In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Landesweit fehlen in 80 % der IDP-Lager Wasserstellen – v.a. in Benadir, dem SWS und Jubaland. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen (LIB, Kapitel Binnenflüchtlinge).

1.5.11. Frauen

Die Diskriminierung von Frauen ist gesetzlich verboten. Die aktuelle Verfassung betont in besonderer Weise die Rolle und die Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verantwortung des Staates in dieser Hinsicht. Tatsächlich ist deren Lage jedoch weiterhin besonders prekär. Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet. Sie genießen nicht die gleichen Rechte wie Männer und werden systematisch benachteiligt. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung (LIB Kapitel Frauen).

Andererseits ist es der Regierung gelungen, Frauenrechte etwas zu fördern: Immer mehr Mädchen gehen zur Schule, die Zahl an Frauen im öffentlichen Dienst wächst. Frauen sind das ökonomische Rückgrat der somalischen Gesellschaft und mittlerweile oft die eigentlichen Brotverdiener der Familie. Daher ist es üblich, in einer Stadt wie Mogadischu Kleinhändlerinnen anzutreffen, die Khat, Gemüse oder Benzin verkaufen (LIB Kapitel Frauen).

Insgesamt ist festzustellen, dass 8,3% aller somalischen Haushalte von alleinstehenden Frauen geführt werden, die entweder nie verheiratet waren oder aber verlassen, geschieden oder verwitwet sind. Es liegen keine Informationen darüber vor, wonach es allen diesen Frauen an einer Existenzgrundlage mangeln würde oder dass alle diese Frauen keine Unterkunft haben würden (Anfragebeantwortung Frauen).

Der überwiegende Anteil letztgenannter Haushalte findet sich im urbanen Raum und in IDP-Lagern; gleichzeitig haben die meisten dieser Haushaltsvorstände keine Bildung. Zu den unteren Wohlstandskategorien (sehr arm, arm) zählen 43,2% dieser Haushalte, zur mittleren 19,8% und zu den oberen zwei 37% (Anfragebeantwortung Frauen).

In urbanen Gebieten wie Mogadischu ist der Anteil unverheirateter Personen noch höher: Die Region Benadir (Mogadischu) hat in Süd-/Zentralsomalia den höchsten Anteil an Personen, die noch nie verheiratet waren (34,9%). Dort sind nur etwas mehr als die Hälfte der Personen verheiratet (55,2%), weitere 9,8% wurden verlassen, sind geschieden oder verwitwet. Dabei gibt es keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede; daher gibt es nahezu gleichviele unverheiratete Frauen wie Männer (Anfragebeantwortung Frauen).

Aufgrund der Tatsache, dass Frauen in der konfliktbelasteten somalischen Gesellschaft immer öfter die Rolle des „Versorgers“ übernehmen mussten, haben sich ihnen auch immer mehr wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet (Anfragebeantwortung Frauen).

Es gibt unterschiedliche Programme von Hilfsorganisationen, um u.a. alleinstehende Frauen bzw. weibliche Haushaltsvorstände zu unterstützen (Berufsausbildung, cash-for-work, Mikrofinanzierung, Starthilfen etc.) (Anfragebeantwortung Frauen).

Bei der Anmietung von Häusern kommt es zu keiner signifikanten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Oft sind die Vermieter bzw. jene Personen, mit welchen Verträge abgeschlossen werden, selbst Frauen. Der entscheidende Faktor bei einer Anmietung ist nicht das Geschlecht, sondern die Frage, ob die Miete auch bezahlt werden kann (Anfragebeantwortung Frauen).

Auch wenn Gewalt gegen Frauen gesetzlich verboten ist, bleiben häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ein großes Problem. Bezüglich Gewalt in der Ehe – darunter auch Vergewaltigung – gibt es keine speziellen Gesetze. Sexuelle Gewalt bleibt ein großes Problem – speziell für IDPs (LIB, Kapitel Frauen).

6 % aller Vergehen von geschlechtsspezifischer Gewalt betreffen IDPs. Dabei umfasst die Kategorie geschlechtsspezifische Gewalt wiederum in erster Linie physische Übergriffe (rd. 69 % der Vergehen) und erst an zweiter Stelle sexuelle Gewalt (rd. 11 %). Als Haupttäter geschlechtsspezifischer Gewalt finden sich die Ehemänner (73 %). Auch weibliche Angehörige von Minderheiten sind häufig unter den Opfern von Vergewaltigungen (LIB, Kapitel Frauen).

Sexuelle Gewalt - Gesetzeslage und staatlicher Schutz: Vergewaltigung ist gesetzlich verboten. Strafverfolgung oder Verurteilungen wegen Vergewaltigung oder anderer Formen sexueller Gewalt sind rar. Es gibt kleinere Fortschritte dabei, Opfern den Zugang zum formellen Justizsystem zu erleichtern. Einerseits wurden Staatsanwältinnen eingesetzt; andererseits werden Kräfte im medizinischen und sozialen Bereich ausgebildet, welche hinkünftig Opfern zeitnah vertrauliche Dienste anbieten können werden. Zusätzlich kommt es zu Ausbildungsmaßnahmen für Sicherheitskräfte, um diese hinsichtlich konfliktbezogener sexueller Gewalt und den damit verbundenen Menschenrechten zu sensibilisieren (LIB, Kapitel Frauen).

Arrangierte Ehe / Zwangsehe: Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich. Erwachsene Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt. Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition. Vielmehr können jene, die mit traditionellen Normen brechen, den Schutz und die Unterstützung durch Familie und Clan verlieren (LIB, Kapitel Frauen).

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM)

FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet. Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen. Eine Studie aus dem Jahr 2011 erklärt, dass 97 % der Mädchen und Frauen in der Altersgruppe 15-19 Jahre von irgendeiner Form von FGM betroffen sind. Gemäß einer neueren Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17jährigen Mädchen nicht beschnitten. Nach anderen Angaben liegt die Prävalenz von FGM/C in der Altersgruppe von 15-49 Jahren bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 % (LIB, Kapitel Frauen – weibliche Genitalverstümmelung und -Beschneidung).

Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen.

Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen ein Alter von 5 - 10 Jahren; in Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10 - 14 Jahren. Dieses Alter ist aber im Zuge des Wechsels hin zur Sunna in Somaliland auf 5 - 8 Jahre gesunken. Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10 - 14-Jährigen. Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10 - 13 Jahren. UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4 - 14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt. Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt. Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (LIB, Kapitel Frauen).

Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter. Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben. Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen. Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Derartige Fälle sind nicht bekannt. Eine diesbezüglich annehmbare Ausnahme könnte (theoretisch) sein, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt. Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt. Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird.

Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet. Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt also maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber. In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders. In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig. Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen. Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen. Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land. Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (LIB, Kapitel Frauen, weibliche Genitalverstümmelung und -Beschneidung).

Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs oder aber z.B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten. Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen – üblicherweise noch v

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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