Entscheidungsdatum
06.07.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W286 2209516-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a DEUTSCH-PERNSTEINER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andreas WALDHOF, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2018, Zl. 1090295506-151508757, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheids wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte IV. bis VI. des angefochtenen Bescheides Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 29.09.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am 08.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Am 12.06.2018 fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) statt. Zu seinen Fluchtgründen brachte er im Wesentlichen vor, dass er die Zwangsheirat seiner Schwester mit einem Cousin vereitelt habe und ihn seine Onkel deshalb bedroht hätten. Außerdem habe er bei seiner Tätigkeit als pharmazeutischer Assistent in einem Gremium die Bestellung bestimmter Medikamente verweigert, woraufhin von den anderen Mitgliedern Druck auf ihn ausgeübt worden sei. Mit einem Mitglied des Germiums sei es zum Streit gekommen und zwei Tage später habe man an seinem Auto einen Sprengsatz entdeckt. Zudem sei nach seiner Ausreise am 06.10.2015 ein Sprengsatz in seinem Elternhaus in BAGDAD explodiert.
3. Mit Bescheid vom 24.10.2018, Zl. 1090295506-151508757, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.). Die belangte Behörde erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die belangte Behörde setzte eine Frist für die freiwillige Rückkehr von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.). Die belangte Behörde wertete das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers als nicht glaubhaft und ging aufgrund der familiären und sozialen Anknüpfungspunkte, der Schulausbildung des Beschwerdeführers, seiner Berufserfahrung als Pharmazieassistent sowie seiner Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen subsidiären Schutzes aus. Insbesondere aufgrund des Fehlens familiärer Anknüpfungspunkte, der fehlenden Erwerbstätigkeit, der relativ kurzen Aufenhaltsdauer und der nach wie vor vorhandenen Bindungen im Heimatland ging die belangte Behörde von der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung aus.
4. Der Beschwerdeführer erhob durch seinen damaligen Rechtsvertreter gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Darin rügte er formell das Ermittlungsverfahren, die Feststellungen, die Beweiswürdigung sowie die rechtliche Beurteilung, inhaltlich monierte er jedoch im Wesentlichen nur die Beweiswürdigung der belangten Behörde und wiederholte das bisherige Vorbringen.
5. Die belangte Behörde legte die Beschwerde am 15.11.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vor. Das Beschwerdeverfahren wurde am 01.03.2021 der zuständigen Gerichtsabteilung zugewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer heißt XXXX und ist am XXXX geboren. Er gehört der Volksgruppe der Araber an und ist schiitischen Bekenntnisses. Der Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger (Protokoll der mV S. 9, AS 67 und 69).
1.1.2. Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat sechs Jahre die Grundschule, drei Jahre die Mittelschule, drei Jahre ein Gymnasium und zwei Jahre ein medizinisches Institut für Pharmazie besucht. Mit der dadurch erworbenen Qualifikation kann er als Verkaufsvertreter bei pharmazeutischen Firmen, in Apotheken bei der Medikamentenausgabe sowie in Medikamentenlagern zur Vorbereitung von Lieferungen für Apotheken angestellt werden (Protokoll der mV S. 11 und 12, AS 11, Zeugnisse: Beilage ./8 zum Protokoll der mV, AS 149 f).
1.1.3. Der Beschwerdeführer ist in Österreich unbescholten (Strafregisterauszug).
1.1.4. Er reiste am 02.09.2015 legal mit dem Flugzeug aus dem Irak aus. Dabei verwendete er seinen eigenen Reisepass (Protokoll der mV S. 16 und 17).
Der Beschwerdeführer hat die Ausreise aus eigenem Erspartem und durch Unterstützung seiner Familie bezahlt (Protokoll der mV S. 17).
1.1.5. Der Beschwerdeführer hat keine schwerwiegenden Erkrankungen und ist arbeitsfähig (Protokoll der mV S. 24 und 25). Er gehört keiner Risikogruppe für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung an.
1.2. Zum Herkunftsort und zu Anknüpfungspunkten des Beschwerdeführers:
1.2.1. Der Beschwerdeführer stammt aus der Stadt XXXX in der gleichnamigen Provinz (Protokoll der mV S. 15 sowie Beilage ./XI). Er hat noch an keinem anderen Ort im Irak gelebt (Protokoll der mV S. 15).
Der Beschwerdeführer hat in seiner Heimatstadt mit seiner Familie in einem Mietshaus zusammengelebt. Die Familie des Beschwerdeführers hat in seiner Heimatstadt außerdem noch ein Eigentumshaus. Der Vater des Beschwerdeführers ist im Jahr 2008 verschollen. Seine Schwester und sein Bruder sind im Jahr 2012 aus dem Irak in die Türkei ausgereist und leben seit 2014 in den USA. Seine Mutter lebt seit Ende 2016 in den USA (Protokoll der mV S. 15 bis 17, AS 143 ff). In seiner Heimatstadt leben drei Onkel und zwei Tanten mütterlicherseits sowie ein Onkel und zwei Tanten väterlicherseits. Ein weiterer Onkel väterlicherseits lebt in XXXX (Protokoll der mV S. 16).
Der Bruder des Beschwerdeführers ist Schichtarbeiter bei zwei Arbeitsstellen. Seine Schwester arbeitet in einem Supermarkt und studiert nebenbei Wirtschaft an einer Universität (Protokoll der mV S. 22).
Der Beschwerdeführer hat Kontakt mit einem Onkel mütterlicherseits sowie seinen Tanten mütterlicherseits, die alle in XXXX leben (Protokoll der mV S. 16).
Der Beschwerdeführer kann bei einer Rückkehr in den Irak finanzielle Unterstützung von seiner Familie bekommen (Protokoll der mV S. 24).
1.3. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
1.3.1. Die Schwester und der Bruder des Beschwerdeführers haben gemeinsam den Irak verlassen und sind von der Türkei aus in die USA gegangen, wo sie als Flüchtlinge anerkannt sind (Protokoll der mV S. 15, 17, AS 143 f und AS 147 f). Es kann nicht festgestellt werden, dass die Schwester des Beschwerdeführers mit einem Cousin zwangsverheiratet werden hätte sollen, der Beschwerdeführer die Zwangsheirat vereitelt habe, indem er ihr bei der Ausreise in die Türkei geholfen habe, und er von seinen Onkeln väterlicherseits und seinem Clan aus diesem Grund bedroht wurde. Der Beschwerdeführer wird nicht von seinen Onkeln väterlicherseits und seinem Clan gesucht und bedroht. (Protokoll der mV S. 17 bis 23, AS 19)
1.3.2. Der Beschwerdeführer arbeitete in seinem Herkunftsstaat als pharmazeutischer Assistent, und zwar im Zeitraum von 2010 bis Juli 2012 im Gesundheitszentrum XXXX und von Juli 2012 bis zu seiner Ausreise im Gesundheitszentrum XXXX (Protokoll der mV S. 14, AS 177, 179 und AS 181, 183).
Der Beschwerdeführer wurde nicht aufgrund seiner Weigerung, einer bestimmten Medikamentenbestellung zuzustimmen, von Mitgliedern des dafür zuständigen Gremiums oder anderen Akteuren bedroht. Es kann nicht festgestellt werden, dass in diesem Zusammenhang ein Sprengsatz am Auto des Beschwerdeführers angebracht wurde, welcher am 26.08.2015 entdeckt wurde, und am 06.10.2015 ein Sprengsatz im Haus des Beschwerdeführers explodiert ist. Der Beschwerdeführer wird nicht von Mitgliedern des Gremiums oder sonstigen Akteuren gesucht und bedroht. (Protokoll der mV S. 30 bis 37)
1.3.3. Der Beschwerdeführer wird auch sonst im Irak nicht von Behörden oder der Regierung oder sonstigen Akteuren gesucht und bedroht.
1.4. Zur maßgeblichen Situation im Irak:
Die Feststellung der maßgeblichen Situation im Irak basiert auf Auszügen der folgenden vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten Länderberichten, Positionspapieren und Anfragebeantwortungen Länderberichte samt den jeweils angeführten Quellen:
1.4.1. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation
1.4.2. Auszug aus dem EASO-Bericht „Gezielte Gewalt gegen Individuen“
1.4.3. Auszug aus EASO Irak Sicherheitslage Oktober 2020
1.4.4. Auszug aus EASO Irak: Zentrale sozioökonomische Faktoren für Bagdad, Basra und Erbil, September 2020
1.4.5. Auszug aus EASO Irak Akteure, die Schutz bieten können vom November 2018
Daraus ergibt sich auszugsweise:
1.4.1. Auszug Länderinformationsblatt der Staatendokumentation
Sicherheitslage Bagdad
Letzte Änderung: 14.05.2020
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
[Anm.: Weiterführende Informationen zu den Demonstrationen können dem Kapitel 11.1.1 Protestbewegung entnommen werden.]
Quellen:
? Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html, Zugriff 13.3.2020
? ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html, Zugriff 13.3.2020
? OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf, Zugriff 13.3.2020
Bewegungsfreiheit
Letzte Änderung: 14.05.2020
Die irakische Verfassung und andere nationale Rechtsinstrumente erkennen das Recht aller Bürger auf Freizügigkeit, Reise- und Aufenthaltsfreiheit im ganzen Land an. Die Regierung respektiert das Recht auf Bewegungsfreiheit jedoch nicht konsequent. In einigen Fällen beschränken die Behörden die Bewegungsfreiheit von IDPs und verbieten Bewohnern von IDP-Lagern, ohne eine Genehmigung das Lager zu verlassen. Das Gesetz erlaubt es den Sicherheitskräften, die Bewegungsfreiheit im Land einzuschränken, Ausgangssperren zu verhängen, Gebiete abzuriegeln und zu durchsuchen (USDOS 11.3.2020).
Checkpoints unterliegen oft undurchschaubaren Regeln verschiedenster Gruppierungen (NYT 2.4.2018). Der Islamische Staat (IS) richtet falsche Checkpoints an Straßen zur Hauptstadt ein, um Zivilisten zu entführen bzw. Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben (AI 26.2.2019; vgl. Zeidel/al-Hashimis 6.2019).
Der offizielle Wohnort wird durch die Aufenthaltskarte ausgewiesen. Bei einem Umzug muss eine neue Aufenthaltskarte beschafft werden, ebenso bei einer Rückkehr in die Heimatregion, sollte die ursprüngliche Bescheinigung fehlen (FIS 17.6.2019). Es gab zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte (ISF, Peshmerga, PMF) aus ethno-konfessionellen Gründen Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigungen vorschreiben, selektiv umgesetzt haben, um die Einreise von Personen in befreite Gebiete unter ihrer Kontrolle zu beschränken (USDOS 11.3.2020).
Angesichts der massiven Vertreibung von Menschen aufgrund der IS-Expansion und der anschließenden Militäroperationen gegen den IS, zwischen 2014 und 2017, führten viele lokale Behörden strenge Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen ein, darunter unter anderem Bürgschafts-Anforderungen und in einigen Gebieten nahezu vollständige Einreiseverbote für Personen, die aus ehemals vom IS kontrollierten oder konfliktbehafteten Gebieten geflohen sind, insbesondere sunnitische Araber, einschließlich Personen, die aus einem Drittland in den Irak zurückkehren. Die Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen sind nicht immer klar definiert und/oder die Umsetzung kann je nach Sicherheitslage variieren oder sich ändern. Bürgschafts-Anforderungen sind in der Regel weder gesetzlich verankert noch werden sie offiziell bekannt gegeben (UNHCR 11.2019). Die Bewegungsfreiheit verbesserte sich etwas, nachdem die vom IS kontrollierten Gebiete wieder unter staatliche Kontrolle gebracht wurden (FH 4.3.2020).
Die Regierung verlangt von Bürgern, die das Land verlassen, eine Ausreisegenehmigung. Diese Vorschrift wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt (USDOS 11.3.2020). An den Grenzen zu den Nachbarstaaten haben sich in den letzten Monaten immer wieder Änderungen der Ein- und Ausreisemöglichkeiten, Kontrollen, Anerkennung von Dokumenten etc. ergeben. Nach wie vor muss mit solchen Änderungen – auch kurzfristig – gerechnet werden (AA 12.1.2019).
[…]
Einreise und Einwanderung in den Irak unter der Zentralregierung
Es gibt keine Bürgschaftsanforderungen für die Einreise in die Gouvernements Babil, Bagdad, Basra, Diyala, Kerbala, Kirkuk, Najaf, Qadissiya und Wassit. Für den Zugang zu den Gouvernements Maysan und Muthanna wird hingegen ein Bürge benötigt, der die Person an einem Grenz-Checkpoint in Empfang nimmt, oder mit ihr bei der zuständigen Sicherheitsbehörde für eine Freigabe vorstellig wird. Ohne Bürge wird der Zugang wahrscheinlich verweigert, auch wenn die Sicherheitsbehörden über einen Ermessensspielraum für Ausnahmen verfügen (UNHCR 11.2019).
Für die Niederlassung in den verschiedenen Gouvernements existieren für Personen aus den vormals vom IS kontrollierten Gebieten unterschiedliche Regelungen. Für eine Ansiedlung in Bagdad werden zwei Bürgen aus der Nachbarschaft benötigt, in der die Person wohnen möchte, sowie ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar (Anm.: etwa Dorf-, Gemeindevorsteher). Für die Ansiedlung in Diyala, sowie in den südlichen Gouvernements Babil, Basra, Dhi-Qar, Kerbala, Maysan, Muthanna, Najaf, Qadisiya und Wassit sind ein Bürge und ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar erforderlich. Eine Ausnahme stellt der Bezirk Khanaqin dar, in dem Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar, des nationalen Sicherheitsdiensts (National Security Service, NSS), und des Nachrichtendienstes notwendig sind. Für die Ansiedlung in der Stadt Kirkuk wird ein Unterstützungsschreiben des lokalen Mukhtar benötigt (UNHCR 11.2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
? AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
? FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
? FIS - Finnish Migrations Service (17.6.2019): Irak: Tiendonhankintamatka Bagdadiin Helmikuussa 2019 Paluut Kotialueille (Entisille ISIS-Alueille); Ajankohtaista Irakilaisista Asiakirjoista, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf/c5019f7f-e3f7-981b-7cea-3edc1303aa78/Irak+Tiedonhankintamatka+Bagdadiin+helmikuussa+2019+Paluut+kotialueille+%28entisille+ISIS-alueille%29%3B+ajankohtaista+irakilaisista+asiakirjoista.pdf, Zugriff 13.3.2020
? NYT - New York Times, The (2.4.2018): In Iraq, I Found Checkpoints as Endless as the Whims of Armed Men, https://www.nytimes.com/2018/04/02/magazine/iraq-sinjar-checkpoints-militias.html, Zugriff 13.3.2020
? UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (11.2019): Iraq: Country of Origin Information on Access and Residency Requirements in Iraq (Update I), https://www.ecoi.net/en/file/local/2019573/5dc04ef74.pdf, Zugriff 13.3.2020
? USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
? Zeidel, Ronan, al-Hashimis Hisham in Terrorism Research Initiative (6.2019): A Phoenix Rising from the Ashes? Daesh after its Territorial Losses in Iraq and Syria, https://www.jstor.org/stable/26681907, Zugriff 13.3.2020
Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 14.05.2020
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten (AA 12.1.2019). Der irakische humanitäre Reaktionsplan schätzt, dass im Jahr 2019 etwa 6,7 Millionen Menschen dringend Unterstützung benötigten (IOM o.D.; vgl. USAID 30.9.2019). Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die grassierende Korruption verstärkt vorhandene Defizite zusätzlich. In vom Islamischen Staat (IS) befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wieder hergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt (AA 12.1.2019).
Nach Angaben der UN-Agentur UN-Habitat leben 70% der Iraker in Städten, die Lebensbedingun
gen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums (AA 12.1.2019). Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich (K4D 18.5.2018). Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig (AA 12.1.2019).
Wirtschaftslage
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mossul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im April 2019 (GIZ 1.2020c). Iraks Wirtschaft erholt sich allmählich nach den wirtschaftlichen Herausforderungen und innenpolitischen Spannungen der letzten Jahre. Während das BIP 2016 noch um 11% wuchs, verzeichnete der Irak 2017 ein Minus von 2,1%. 2018 zog die Wirtschaft wieder an und verzeichnete ein Plus von ca. 1,2% aufgrund einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitsbedingungen und höherer Ölpreise. Für 2019 wurde ein Wachstum von 4,5% und für die Jahre 2020–23 ebenfalls ein Aufschwung um die 2-3%-Marke erwartet (WKO 18.10.2019).
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar (GIZ 1.2020c). Rund 90% der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor. Der Irak besitzt kaum eigene Industrie jenseits des Ölsektors. Hauptarbeitgeber ist der Staat (AA 12.1.2019).
Die Arbeitslosenquote, die vor der IS-Krise rückläufig war, ist über das Niveau von 2012 hinaus auf 9,9% im Jahr 2017/18 gestiegen. Unterbeschäftigung ist besonders hoch bei IDPs. Fast 24% der IDPs sind arbeitslos oder unterbeschäftigt (im Vergleich zu 17% im Landesdurchschnitt). Ein Fünftel der wirtschaftlich aktiven Jugendlichen ist arbeitslos, ein weiters Fünftel weder erwerbstätig noch in Ausbildung (WB 12.2019).
Die Armutsrate im Irak ist aufgrund der Aktivitäten des IS und des Rückgangs der Öleinnahmen gestiegen (OHCHR 11.9.2019). Während sie 2012 bei 18,9% lag, stieg sie während der Krise 2014 auf 22,5% an (WB 19.4.2019). Einer Studie von 2018 zufolge ist die Armutsrate im Irak zwar wieder gesunken, aber nach wie vor auf einem höheren Niveau als vor dem Beginn des IS-Konflikt 2014, wobei sich die Werte, abhängig vom Gouvernement, stark unterscheiden. Die südlichen Gouvernements Muthanna (52%), Diwaniya (48%), Maisan (45%) und Dhi Qar (44%) weisen die höchsten Armutsraten auf, gefolgt von Ninewa (37,7%) und Diyala (22,5%). Die niedrigsten Armutsraten weisen die Gouvernements Dohuk (8,5%), Kirkuk (7,6%), Erbil (6,7%) und Sulaymaniyah (4,5%) auf. Diese regionalen Unterschiede bestehen schon lange und sind einerseits auf die Vernachlässigung des Südens und andererseits auf die hohen Investitionen durch die Regionalregierung Kurdistans in ihre Gebiete zurückzuführen (Joel Wing 18.2.2020). Die Regierung strebt bis Ende 2022 eine Senkung der Armutsrate auf 16% an (Rudaw 16.2.2020).
Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Arbeitsmöglichkeiten haben im Allgemeinen abgenommen. Die monatlichen Einkommen im Irak liegen in einer Bandbreite zwischen 200 und 2.500 USD (Anm.: ca. 185-2.312 EUR), je nach Position und Ausbildung. Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD (Anm.: ca. 0,9 EUR) pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land sind derzeit keine dieser Weiterbildungsprogramme, die nur durch spezielle Fonds zugänglich sind, aktiv (IOM 1.4.2019).
Stromversorgung
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht (AA 12.1.2019). Sie deckt nur etwa 60% der Nachfrage ab, wobei etwa 20% der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit (Fanack 17.9.2019). Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Kurdischen Region im Irak (KRI) erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste (AA 12.1.2019).
Wasserversorgung
Etwa 70% des irakischen Wassers haben ihren Ursprung in Gebieten außerhalb des Landes, vor allem in der Türkei und im Iran. Der Wasserfluss aus diesen Ländern wurde durch Staudammprojekte stark reduziert. Das verbleibende Wasser wird zu einem großen Teil für die Landwirtschaft genutzt und dient somit als Lebensgrundlage für etwa 13 Millionen Menschen (GRI 24.11.2019).
Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist (Clingendael 10.7.2018). Insbesondere Dammprojekte der irakischen Nachbarländer, wie in der Türkei, haben großen Einfluss auf die Wassermenge und Qualität von Euphrat und Tigris. Der damit einhergehende Rückgang der Wasserführung in den Flüssen hat ein Vordringen des stark salzhaltigen Wassers des Persischen Golfs ins Landesinnere zur Folge und beeinflusst sowohl die Landwirtschaft als auch die Viehhaltung. Das bringt in den besonders betroffenen südirakischen Gouvernements Ernährungsunsicherheit und sinkenden Einkommensquellen aus der Landwirtschaft mit sich (EPIC 18.7.2017).
Die Wasserversorgung wird zudem von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Außerdem fehlt es fehlt weiterhin an Chemikalien zur Wasseraufbereitung. Die völlig maroden und teilweise im Krieg zerstörten Leitungen führen zu hohen Transportverlusten und Seuchengefahr. Im gesamten Land verfügt heute nur etwa die Hälfte der Bevölkerung über Zugang zu sauberem Wasser (AA 12.1.2019). Im Südirak und insbesondere Basra führten schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass im Jahr 2018 mindestens 118.000 Menschen wegen Magen-Darm Erkrankungen in Krankenhäusern behandelt werden mussten (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019).
Nahrungsmittelversorgung
Etwa 1,77 Millionen Menschen im Irak sind von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen, ein Rückgang im Vergleich zu 2,5 Millionen Betroffenen im Jahr 2019 (USAID 30.9.2019; vgl. FAO 31.1.2020). Die meisten davon sind IDPs und Rückkehrer. Besonders betroffen sind jene in den Gouvernements Diyala, Ninewa, Salah al-Din, Anbar und Kirkuk (FAO 31.1.2020). 22,6% der Kinder sind unterernährt (AA 12.1.2019).
Die Landwirtschaft ist für die irakische Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Im Zuge des Krieges gegen den IS waren viele Bauern gezwungen, ihre Betriebe zu verlassen. Ernten wurden zerstört oder beschädigt. Landwirtschaftliche Maschinen, Saatgut, Pflanzen, eingelagerte Ernten und Vieh wurden geplündert. Aufgrund des Konflikts und der Verminung konnten Bauern für die nächste Landwirtschaftssaison nicht pflanzen. Die Nahrungsmittelproduktion und -versorgung wurden unterbrochen, die Nahrungsmittelpreise auf den Märkten stiegen (FAO 8.2.2018). Trotz konfliktbedingter Einschränkungen und Überschwemmungen entlang des Tigris (betroffene Gouvernements: Diyala, Wasit, Missan und Basra), die im März 2019 aufgetreten sind, wird die Getreideernte 2019 wegen günstiger Witterungsbedingungen auf ein Rekordniveau von 6,4 Millionen Tonnen geschätzt (FAO 31.2.2020)
Trotzdem ist das Land von Nahrungsmittelimporten abhängig (FAO 31.1.2020). Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (UNFAO) schätzt, dass der Irak zwischen Juli 2018 und Juni 2019 etwa 5,2 Millionen Tonnen Mehl, Weizen und Reis importiert hat, um den Inlandsbedarf zu decken (USAID 30.9.2019).
Im Südirak und insbesondere Basra führen schlechtes Wassermanagement und eine unzureichende Regulierung von Abwasser und die damit einhergehende Verschmutzung dazu, dass Landwirte ihre Flächen mit verschmutztem und salzhaltigem Wasser bewässern, was zu einer Degradierung der Böden und zum Absterben von Nutzpflanzen und Vieh führt (HRW 22.7.2019; vgl. HRW 14.1.2020; AA 12.1.2019)
Das Sozialsystem wird vom sogenannten „Public Distribution System“ (PDS) dominiert, einem Programm, bei dem die Regierung importierte Lebensmittel kauft, um sie an die Öffentlichkeit zu verteilen (K4D 18.5.2018; vgl. USAID 30.9.2019). Das PDS ist das wichtigste Sozialhilfeprogramm im Irak, in Bezug auf Flächendeckung und Armutsbekämpfung. Es ist das wichtigste Sicherheitsnetz für Arme, obwohl es von schwerer Ineffizienz gekennzeichnet ist (K4D 18.5.2018). Es sind zwar alle Bürger berechtigt, Lebensmittel im Rahmen des PDS zu erhalten. Das Programm wird von den Behörden jedoch nur sporadisch und unregelmäßig umgesetzt, mit begrenztem Zugang in den wiedereroberten Gebieten. Außerdem hat der niedrige Ölpreis die Mittel für das PDS weiter eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).
[Anm.: Informationen zum Unterkünften können dem Kapitel 21 Rückkehr entnommen werden.]
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
? Clingendael - Netherlands Institute of International Relations (10.7.2018): More than infrastructures: water challenges in Iraq, https://www.clingendael.org/sites/default/files/2018-07/PB_PSI_water_challenges_Iraq.pdf, Zugriff 13.3.2020
? EPIC - Enabling Peace in Iraq Center (18.7.2017): Drought in the land between two rives, https://www.epic-usa.org/iraq-water/, Zugriff 13.3.2020
? Fanack (17.9.2019): Energy file: Iraq, https://fanack.com/fanack-energy/iraq/, Zugriff 18.2.2020
? FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (31.1.2020): Country Briefs, Iraq, http://www.fao.org/giews/countrybrief/country.jsp?code=IRQ, Zugriff 13.3.2020
? FAO - Food and Agriculture Organization of the United Nations (8.2.2018): Iraq: Recovery and Resilience Programme 2018-2019, http://www.fao.org/3/I8658EN/i8658en.pdf, Zugriff 13.3.2020
? GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020c): Irak - Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/irak/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 13.3.2020
? GRI - Global Risk Insights (24.11.2019): Water Shortage and Unrest in Iraq, https://globalriskinsights.com/2019/11/water-shortage-and-unrest-in-iraq/, Zugriff 13.3.2020
? HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html, Zugriff 13.3.2020
? HRW - Human Rights Watch (22.7.2019): Irak: Wasserkrise in Basra, https://www.hrw.org/de/news/2019/07/22/irak-wasserkrise-basra, Zugriff 13.3.2020
? IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2, Zugriff 13.3.2020
? IOM - Internationale Organisation für Migration (o.D.): Iraq 2019, Humanitarian Compendium, https://humanitariancompendium.iom.int/appeals/iraq-2019, Zugriff 13.3.2020
? Joel Wing, Musings on Iraq (18.2.2020): Poverty Rate In Iraq Down But Still Higher Than Pre-War Level, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/poverty-rate-in-iraq-down-but-still.html, Zugriff 13.3.2020
? K4D - Knowledge for Development Program (18.5.2018): Iraqi state capabilities, https://assets.publishing.service.gov.uk/media/5b18e952e5274a18eb1ee3aa/Iraqi_state_capabilities.pdf, Zugriff 13.3.2020
? OHCHR - Office of the High Commissioner for Human Rights (11.9.2019): Committee on the Rights of Persons with Disabilities discusses the impact of the armed conflict on persons with disabilities in Iraq, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=24976&LangID=E, Zugriff 13.3.2020
? Rudaw (16.2.2020): ISIS caused massive spike in Iraq’s poverty rate, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/160220201, Zugriff 13.3.2020
? USAID - Unites States Agency for International Development (30.9.2019): Food Assistance Fact Sheet: Iraq, https://www.usaid.gov/iraq/food-assistance, Zugriff 13.3.2020
? USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
? WB - World Bank, The (12.2019): Unemployment, youth total (% of total labor force ages 15-24) (modeled ILO estimate), Iraq, https://data.worldbank.org/indicator/SL.UEM.1524.ZS?locations=IQ, Zugriff 13.3.2020
? WB - World Bank, The (19.4.2019): Republic of Iraq, http://pubdocs.worldbank.org/en/300251553672479193/Iraq-MEU-April-2019-Eng.pdf, Zugriff 13.3.2020
? WKO - Wirtschaftskammer Österreich (18.10.2019): Die irakische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-irakische-wirtschaft.html, Zugriff 13.3.2020
Rückkehr
Letzte Änderung: 14.05.2020
Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig – u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Kurdischen Region im Irak (KRI) finden regelmäßig statt. In der KRI gibt es mehr junge Menschen, die sich nach ihrer Rückkehr organisieren. Eine Fortführung dieser Tendenzen wird aber ganz wesentlich davon abhängen, ob sich die wirtschaftliche Lage in der KRI kurz- und mittelfristig verbessern wird (AA 12.1.2019).
Studien zufolge ist die größte Herausforderung für Rückkehrer die Suche nach einem Arbeitsplatz bzw. Einkommen. Andere Herausforderungen bestehen in der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, psychischen und psychologischen Problemen, sowie negativen Reaktionen von Freunden und Familie zu Hause im Irak (IOM 2.2018; vgl. REACH 30.6.2017).
Die Höhe einer Miete hängt vom Ort, der Raumgröße und der Ausstattung der Unterkunft ab. Außerhalb des Stadtzentrums sind die Preise für gewöhnlich günstiger (IOM 1.4.2019). Die Miete für 250 m² in Bagdad liegt bei ca. 320 USD (Anm.: ca. 296 EUR) (IOM 13.6.2018). Die Wohnungspreise in der KRI sind 2018 um 20% gestiegen, während die Miete um 15% gestiegen ist, wobei noch höhere Preise prognostiziert werden (Ekurd 8.1.2019). In den Städten der KRI liegt die Miete bei 200-600 USD (Anm.: ca. 185-554 EUR) für eine Zweizimmerwohnung. Der Kaufpreis eines Hauses oder Grundstücks hängt ebenfalls von Ort, Größe und Ausstattung ab. Während die Nachfrage nach Mietobjekten stieg, nahm die Nachfrage nach Kaufobjekten ab. Durchschnittliche Betriebskosten betragen pro Monat 15.000 IQD (Anm.: ca. 12 EUR) für Gas, 10.000-25.000 IQD (Anm.: ca. 8-19 EUR) für Wasser, 30.000-40.000 IQD (Anm.: ca. 23-31 EUR) für Strom (staatlich) und 40.000-60.000 IQD (Anm.: ca. 31-46 EUR) für privaten oder nachbarschaftlichen Generatorenstrom. Die Rückkehr von IDPs in ihre Heimatorte hat eine leichte Senkung der Mietpreise bewirkt. Generell ist es für alleinstehende Männer schwierig Häuser zu mieten, während es in Hinblick auf Wohnungen einfacher ist (IOM 1.4.2019).
Die lange Zeit sehr angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt wird zusehends besser, jedoch gibt es sehr viel mehr Kauf- als Mietangebote. In der Zeit nach Saddam Hussen sind die Besitzverhältnisse von Immobilien zuweilen noch ungeklärt. Nicht jeder Vermieter besitzt auch eine ausreichende Legitimation zur Vermietung (GIZ 12.2019).
Im Zuge seines Rückzugs aus der nordwestlichen Region des Irak, 2016 und 2017, hat der Islamische Staat (IS) die landwirtschaftlichen Ressourcen vieler ländlicher Gemeinden ausgelöscht, indem er Brunnen, Obstgärten und Infrastruktur zerstörte. Für viele Bauerngemeinschaften gibt es kaum noch eine Lebensgrundlage (USCIRF 4.2019). Im Rahmen eines Projekts der UN-Agentur UN-Habitat und des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) wurden im Distrikt Sinjar, Gouvernement Ninewa, binnen zweier Jahre 1.064 Häuser saniert, die während der IS-Besatzung stark beschädigt worden waren. 1.501 Wohnzertifikate wurden an jesidische Heimkehrer vergeben (UNDP 28.4.2019).
Es besteht keine öffentliche Unterstützung bei der Wohnungssuche für Rückkehrer. Private Immobilienfirmen können jedoch helfen (IOM 1.4.2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
? Ekurd Daily (8.1.2019): Property prices increasing in Iraqi Kurdistan after years of stagnation, https://ekurd.net/property-prices-kurdistan-2019-01-08, Zugriff 13.3.2020
? GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/, Zugriff 13.3.2020
? IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2, Zugriff 13.3.2020
? IOM - International Organization for Migration (13.6.2018): Länderinformationsblatt Irak (2017), https://www.bamf.de/SharedDocs/MILo-DB/DE/Rueckkehrfoerderung/Laenderinformationen/Informationsblaetter/cfs_irak-dl_de.pdf;jsessionid=0E66FF3FBC9BF77D6FB52022F1A7B611.1_cid294?__blob=publicationFile, Zugriff 13.3.2020
? IOM - International Organization for Migration (2.2018): Iraqi returnees from Europe: A snapshot report on Iraqi Nationals upon return in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/DP.1635%20-%20Iraq_Returnees_Snapshot-Report%20-%20V5.pdf, Zugriff 13.3.2020
? REACH (30.6.2017): Iraqi migration to Europe in 2016: Profiles, Drivers and Return, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/reach_irq_grc_report_iraqi_migration_to_europe_in_2016_june_2017%20%281%29.pdf, Zugriff 13.3.2020
? USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
? UNDP - United Nations Development Programme (28.4.2019): UN-Habitat and UNDP Upscale Support on Housing Rehabilitation and Secure Tenure for the Returnees in Sinjar, https://www.iq.undp.org/content/iraq/en/home/presscenter/pressreleases/2019/04/28/un-habitat-and-undp-upscale-support-on-housing-rehabilitation-an.html, Zugriff 13.3.2020
1.4.2. Auszug aus dem EASO-Bericht „Gezielte Gewalt gegen Individuen“
3.1.1 Gesellschaft, Familie/Gemeinschaft und Stämme
Die Mehrheit der Iraker identifiziert sich mit ihrem Stamm, und diese Identität spielt eine starke soziale Rolle in der Gesellschaft und dient als Sicherheitsnetz.983 Die irakische Gesellschaft ist stark von Verbindungen geprägt, die auf dem Stamm, der Familie oder dem Clan basieren, am deutlichsten in den sunnitischen Gebieten von Anbar, Salah al-Din, Kirkuk und Ninawa sowie in Basra im südlichen Teil des Landes.984 Die Stammeskultur und schwache Staatskapazitäten ermöglichten es, dass Stammesgewohnheiten eine starke Rolle bei der Streitbeilegung im Irak spielen, und dass Milizen und religiöse Obrigkeiten herangezogen werden, um Gerechtigkeit walten zu lassen, wobei sich die Stammesjustiz beim Überschreiten von Normen auf die Frauen besonders hart auswirken kann.985 Die Stämme sind oft schwer bewaffnet und häufig in Konflikte innerhalb der irakischen Gesellschaft verwickelt, die mit Vergeltungsmaßnahmen verbunden sein können oder mit Entschädigungen für die Übertretung von Stammesgesetzen, woraus sich ein Teufelskreis an Tötungen unter den Stämmen entwickeln kann.986 Die Stämme sind auch als Akteure in den ISIL-Konflikt verstrickt.987
In der irakischen Gesellschaft bedeuten Gewohnheits- und Stammesgesetze und der „Ehrbegriff“ sowie die Stellung der Frau im Irak als Besitz der Familie, dass Frauen vor dem Gesetz nicht gleich sind und „im Haushalt unter der Kontrolle der Männer stehen.“988 Verstöße gegen die Familienehre, verbunden mit kulturellen Vorstellungen über die Jungfräulichkeit oder Reinheit der Frauen, haben dazu geführt, dass es seitens der Familien und Stämme unter Bezug auf die Ehre zu Gewalt gegen Familienangehörige kommt, in der Regel gegen Frauen.989 Die Täter sind häufig männliche Verwandte oder Familienmitglieder, die Ehrenmorde für eine Reihe von „Verbrechen“ durchführen, darunter sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, eine unangemessene Erscheinung oder inakzeptable Kontakte mit Männern außerhalb der Familie.990 Häusliche Misshandlungen, Zwangsverheiratungen und die Verheiratung Minderjähriger, sogenannte „Ehrenverbrechen“ und weibliche Genitalverstümmelungen (FGM) sind Formen von Gewalt gegen Frauen, die in erster Linie von Familienangehörigen991 oder aufgrund von Stammesgewohnheiten992 begangen werden. Wurden soziale Normen übertreten, hat das auch zu Tötungen von Frauen mit öffentlichen Profilen geführt, die auch noch 2018 von unbekannten bewaffneten Akteuren durchgeführt wurden.993
Stämme waren an Vergeltungsmaßnahmen außerhalb des formellen Justizwesens beteiligt, die sich gegen Familien mit Verdacht auf Verbindungen zum ISIL richteten.994 Der Bericht des UN-Sicherheitsrats von Oktober 2017 verweist auf Menschenrechtsverletzungen durch den ISIL, Misshandlungen nach der Befreiung von Mossul, Fälle von Entführungen vertriebener Personen in der Provinz Salah al-Din und außergerichtliche Strafverfahren von Stämmen gegen Familien, deren Angehörige vermutlich mit dem ISIL verbunden oder ISIL-Mitglieder waren.995
983 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, 5 November 2018, url, p. 48.
984 Gharizi, O. and Al-Ibrahimi, H., Baghdad Must Seize the Change to Work with Iraq’s Tribes, 17 January 2018, url.
985 Australia, DFAT Country Information Report Iraq, 9 October 2018, url, p. 28.
986 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, 5 November 2018, url, p. 48.
987 AFP, Tribal Justice Awaits Returning Iraqis who Joined Daesh, 14 November 2017, url.
988 HuffPost, Kurdish Teenager’s “Honor Killing” Fades to Memory as Iraq Violence Swells, 6 December 2017, url.
989 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 15 November 2015, url, p. 26; NRT, Brutal Murder in Najaf Highlights Endemic Violence Against Women in Iraq, 5 August 2018, url; Huffpost, Kurdish Teenager’s “Honor Killing” Fades to Memory as Iraq Violence Swells, 6 December 2017, url; Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 9.
990 Huffpost, Kurdish Teenager’s “Honor Killing” Fades to Memory as Iraq Violence Swells, 6 December 2017, url.
991 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 15 November 2015, url, p. 5.
992 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 15 November 2015, url, p. 20.
993 DW, Killings of high-profile women in Iraq spark outrage, 2 October 2018, url.
994 AFP, Tribal Justice Awaits Returning Iraqis who Joined Daesh, 14 November 2017, url.
995 UN Security Council, Report of the Secretary-General pursuant to resolution 2367 (2017), 19 October 2017, url, pp. 9-11.
3.5 Geschlechtsspezifische gezielte Gewalt
[…]
3.5.2 Zwangsheirat und frühe Ehe
Wie das USDOS berichtet, beträgt „das gesetzliche Mindestalter für die Ehe bei Einwilligung der Eltern 15 Jahre, und ohne Einwilligung 18 Jahre.“ Obwohl die Regierung das Gesetz durchzusetzen versuchte, sind im ganzen Land traditionelle Zwangsehen verbreitet.1282 Laut den UNICEF-Daten für 2011-2016 wurden etwa 5 % der Kinder im Alter von 15 Jahren verheiratet und 24 % vor dem Alter von 18 Jahren.1283
Mark Lattimer erklärte auf dem Treffen zur praktischen Zusammenarbeit des EASO zum Irak im April 2017:
„Die zunehmende Frühverheiratung ist ein weiteres Problem im Irak. Verschiedene irakische Beamte schätzen, dass die Zahl der Mädchen, die im Alter von 15 Jahren oder darunter verheiratet werden, in den Gebieten außerhalb Kurdistans bei etwa 10 % liegt. Das ist eine drastische Rate an Kinderehen im Irak. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind von den 18-jährigen ungefähr 50 % schon verheiratet. Es gibt eine zunehmende Tendenz, als Maßnahme zur Familiensicherung jüngere Frauen zu heiraten.“1284
Laut den Quellen, die im Jahr 2018 von der DIS/Landinfo-Untersuchungsmission in die KRI befragt wurden, beträgt das durchschnittliche Heiratsalter in ländlichen Gebieten 19 Jahre bei Männern und 17 Jahre bei Frauen, während Männer in städtischen Gebieten mit Ende Zwanzig heiraten und Frauen im Alter von 24-28 Jahren.1285 Dieselbe Quelle wies darauf hin, dass es zu Zwangsehen in der Regel vor dem 25. Lebensjahr kommt. In seltenen Fällen könnten auch unverheiratete Frauen, die älter als 25 Jahre sind, zu einer Ehe gezwungen werden, wenn sie eine Beziehung zu jemandem haben, mit dem ihr Vater nicht einverstanden ist.1286 Frauen können nicht bestimmen, wen sie heiraten wollen, und müssen in der Regel einen von ihrer Familie ausgewählten Mann heiraten. In manchen Fällen bestehen Zwangsehen aus einem „Handel“, bei dem zwei Brüder zwei Schwestern heiraten oder aus einer Tauschehe, bei der „eine Frau im Austausch gegen eine Braut für einen Mann in ihrer Familie geheiratet wird.“1287 Manchmal führen Zwangsehen dazu, dass die Frau Selbstmord begeht.1288
Der DIS/Landinfo-Bericht wies ferner darauf hin, dass die Zwangsehe in der KRI in Gebieten wie Germian, Ranya, Dahuk, Erbil und in den ländlichen Gebieten in der Nähe von Suleymaniya verbreitet ist.1289 Unter kurdischen und arabischen Binnenvertriebenen wurde registriert, dass sie die Praxis von Kinderehen pflegen, weil Väter ihre Töchter oft aus wirtschaftlichen Gründen verheiraten, und um die Ehre der Familie zu bewahren.1290
Auch in Kurdistan werden insbesondere in ländlichen Gebieten weiterhin zahlreiche Zwangsehen und Frühverheiratungen durchgeführt. Laut der MRG „wird die Praxis in den Stammestraditionen sanktioniert, wie zum Beispiel in der Tradition des „jin be jin“(eine Frau gegen eine Frau), bei der Bräute zwischen den Stämmen ausgetauscht werden, um die Bezahlung der Mitgift zu umgehen.“1291 Auch wird die Tradition der Zwangsehe als Methode zur Beilegung von Stammesstreitigkeiten gepflegt. Diese Praktiken sind zwar gemäß dem Gesetz gegen häusliche Gewalt illegal, werden jedoch weiterhin durchgeführt, da die Verträge ohne Beteiligung der Gerichte und des Justizsystems geschlossen werden.1292 Das niederländische Außenministerium berichtet, dass verwitwete Frauen von ihrer eigenen Familie oder von der Familie ihrer Schwiegereltern aufgenommen werden.1293
Musawah, eine globale Bewegung für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit in der muslimischen Familie, die im Februar 2009 gegründet wurde, stellte in einem Bericht vom März 2014 fest, dass die Eheschließungsrate von minderjährigen Mädchen seit 2003 im Irak dramatisch angestiegen ist, was auf die sich verschlechternden Wirtschafts- und Sicherheitsbedingungen und die Zunahme von Armut und Analphabetismus zurückzuführen ist. Dieselbe Quelle erläutert ferner: „Wie in vielen Ländern, in denen das Mindestalter für eine Heirat mit 18 Jahren festgelegt ist, sieht der Irak auch eine Ausnahme von diesem Mindestalter vor, wenn die Eltern ihre Einwilligung geben oder die Genehmigung eines Gerichts vorliegt. Das hat dazu geführt, dass die Praxis der Kinderehe weitergeführt wird.“1294 Die MRG weist ebenfalls auf einen Anstieg der Zwangs- und Frühehen hin. Obwohl beide im Irak illegal sind, „gibt es eine alarmierend hohe Zahl an Zwangs- und Frühehen, weil sie von Geistlichen außerhalb der Zuständigkeit der Gerichte durchgeführt werden.“ Die Mädchen, die solche Ehen schließen, sehen sich daher auch mit den rechtlichen Nachteilen konfrontiert, die sich aus nicht registrierten Ehen ergeben.1295
Die MRG führt weiter aus, dass das Phänomen der Frühverheiratung in den ärmeren Provinzen im Süd- und Zentralirak am deutlichsten ausgeprägt ist.1296 Darüber hinaus „ist eine Früh- oder Zwangsehe, sowie sie einmal vollzogen wurde, nicht mehr rechtlich ungültig“, d. h., die Opfer können einer solchen Ehe nur noch durch rechtliche Schritte entkommen. Da dies zu Vergeltungsmaßnahmen seitens ihrer Familien führen könnte und das Gesetz den Opfern nach Einreichung der Klage keinerlei Schutz bietet, entscheiden sich nur wenige Frauen für diese Option.1297
1282 USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, 20 April 2018, url.
1283 UNICEF, The State of World’s Children 2017, December 2017, url, p. 191.
1284 Lattimer, M., cited in: EASO, Practical Cooperation Meeting on Iraq, 25-26 April 2017, url, p. 22.
1285 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 35.
1286 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 35.
1287 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 35.
1288 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 35.
1289 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 35.
1290 Denmark, DIS, Norway, Landinfo, Kurdistan Region of Iraq (KRI): Women and men in honour-related conflicts, 9 November 2018, url, p. 38.
1291 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 4 November 2015, url, p. 25.
1292 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 4 November 2015, url, p. 25.
1293 Netherlands Ministry of Foreign Affairs, Algemeen ambtsbericht Irak, 14 November 2016, url, p. 78.
1294 Musawah, Musawah Thematic Report on Article 16: Iraq, February 2014, url, p. 7.
1295 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 4 November 2015, url, p. 23.
1296 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 4 November 2015, url, pp. 20-24.
1297 MRG, The Lost Women of Iraq: Family-based violence during armed conflict, 4 November 2015, url, p. 24.
3.5.3 Ehrenbasierte Gewalt
In ihrem Bericht vom Juni 2018 über ihren offiziellen Besuch im Irak (14.-23. November 2017) definiert die Sonderberichterstatterin über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen „Ehrenmord“ als „willkürliche Tötung von Frauen und Mädchen (aber möglicherweise auch von Männern und Jungen) durch (männliche) Familienmitglieder oder Stammesmitglieder, weil angenommen wird, dass sie Schande oder „Unehre“ über die Familie oder den Stamm gebracht haben.1298 Obwohl das Ausmaß der Ehrenmorde im Irak nicht bekannt ist, weil sie so gut wie nicht gemeldet werden, wird geschätzt, dass in dem Land jährlich viele hundert Frauen und Männer Ehrenmorden zum Opfer fallen. Der Sonderberichterstatterin wurde mitgeteilt, dass „dieses Problem alle Teile des Landes betrifft und sich mit einem starken Stammeselement quer durch religiöse un