TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/12 W187 2207630-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.07.2021
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Entscheidungsdatum

12.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §55
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W187 2207630-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs 2 VwGVG iVm §§ 3 Abs 1, 8 Abs 1 und § 10 Abs 1 Z 3 und § 57 AsylG 2005, iVm § 9 BFA-VG, §§ 52 und 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2. Im Rahmen seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX wurde der Beschwerdeführer im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer an, verheiratet zu sein und keine Kinder zu haben. Er sei am XXXX in der afghanischen Stadt XXXX geboren, afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Moslem. Seine Mutter und ein Bruder seien bereits verstorben. Seine Ehefrau, sein Vater, ein Bruder und eine Schwester hielten sich nach wie vor in Afghanistan auf. Zwei Cousins des Beschwerdeführers seien mit ihm gemeinsam nach Österreich eingereist. Als Beweggrund für seine Ausreise gab der Beschwerdeführer an, sein Vater habe nach dem Tod seiner leiblichen Mutter wieder geheiratet. Die Stiefmutter habe den Beschwerdeführer ungerecht behandelt. Da sich niemand um sie gekümmert habe, habe sein leiblicher Onkel den Beschwerdeführer von Afghanistan weggeschickt. Der Beschwerdeführer habe Angst vor seinen Stiefonkeln mütterlicherseits, da diese gedroht hätten, ihn umzubringen.

3. Aufgrund von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Handwurzelröntgen zur Bestimmung des Knochenalters an, dem sich der Beschwerdeführer am XXXX unterzog. Dieses Röntgen ergab, dass beim Beschwerdeführer sämtliche Epiphysenfugen an den Phalangen und den Metacarpalia geschlossen sind und sich am Radius eine zarte Epiphysennarbe zeigt. Weiter gab das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein rechtsmedizinisches Sachverständigengutachten zum Lebensalter des Beschwerdeführers in Auftrag, welches ein Mindestalter zum Untersuchungszeitpunkt ( XXXX ) von XXXX Jahren ergab. Daraus errechnet sich der XXXX als fiktives Geburtsdatum des Beschwerdeführers.

4. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Hier gab der Beschwerdeführer eingangs an, bei seiner Ehefrau handle es sich um die Witwe seines verstorbenen Bruders, die er nach dessen Tod geheiratet habe. Seine Gattin halte sich derzeit bei ihren Eltern in der afghanischen Provinz Laghman auf. Zwischenzeitlich habe die Stiefmutter des Beschwerdeführers zwei weitere Kinder zur Welt gebracht. Weiter gab er an, die Familie besitze Grundstücke in den Provinzen Laghman und Nangarhar sowie je ein Haus in der Provinz Laghman und der Stadt XXXX . Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst aus, sein Vater habe etwa ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter wieder geheiratet. Die Stiefmutter und ihre drei Brüder hätten Angst um das Erbe seines Vaters (Grundstücke und zwei Häuser) gehabt und sie daher schlecht behandelt. Der Bruder des Beschwerdeführers habe schließlich geheiratet. Ungefähr drei Monate nach seiner Hochzeit sei der Bruder des Beschwerdeführers von Unbekannten in seinem Geschäft ermordet worden. Der Beschwerdeführer habe schließlich die Witwe seines Bruders geheiratet. Zwei Tage nach der Trauung sei der Beschwerdeführer von vier maskierten Personen angehalten und zusammengeschlagen worden. Die Stimme einer der Personen habe ihn an ein die Stimme eines Sohnes eines Stiefonkels mütterlicherseits erinnert. Der Beschwerdeführer sei bewusstlos geworden und erst im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Der leibliche Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers habe ihn zu sich nach Hause gebracht und seinen Vater verständigt. Der Vater des Beschwerdeführers habe gemeint, er könnte nichts machen und wisse nicht, wer seinen ältesten Sohn ermordet habe. Sie hätten jedoch alle vermutet, dass es um das Eigentum des Vaters gehe. Der Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers habe daraufhin beschlossen, dass der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen müsse.

5. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sodann sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde unter Spruchpunkt VI. gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen (gemeint: 14 Tagen) ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Für ein allfälliges Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom XXXX fristgerecht vollumfängliche Beschwerde.

7. Die Beschwerde und der dazugehörige Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Entscheidung vorgelegt.

8. Die belangte Behörde reichte am eine Berichterstattung der Landespolizeidirektion XXXX , Polizeiinspektion XXXX , nach. Laut diesem Bericht ist der Beschwerdeführer verdächtig, am XXXX eine türkische Staatsbürgerin sexuell belästigt zu haben.

9. Am XXXX übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Bundesverwaltungsgericht eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom Rücktritt von der Verfolgung wegen § 218 Abs 1a StGB.

10. Am XXXX langte eine Vollmachtbekanntgabe des MigrantInnenvereins St. Marx für den Beschwerdeführer beim Bundesverwaltungsgericht ein.

11. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom XXXX wurde die gegenständliche Rechtssache der erkennenden Gerichtsabteilung zugewiesen.

12. Mit Ladung vom XXXX beraumte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung für den XXXX an, übermittelte den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme.

13. Die belangte Behörde teilte mit Schreiben vom XXXX mit, dass die Teilnahme eines informierten Vertreters an der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei. In einem wurde die Abweisung der Beschwerde beantragt und um Übersendung des Verhandlungsprotokolls ersucht.

14. Am XXXX langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zur Länderberichtslage beim Bundesverwaltungsgericht ein. In einem wurde ein Konvolut an Integrationsunterlagen vorgelegt.

15. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein seines Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der mündlichen Verhandlung fern.

Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:

„[…]

Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?

Beschwerdeführer: Zurzeit stehe ich nicht in ärztlicher Behandlung, aber eine Zeit lang hatte ich Beschwerden mit meiner Niere und ich wurde behandelt.

[…]

Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?

Beschwerdeführer: Ja.

Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin am XXXX in der Provinz Nangarhar, in der Stadt XXXX geboren.

Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?

Beschwerdeführer: Ich kann Paschtu und Dari sprechen und lesen. Ich spreche auch ein wenig Urdu und Deutsch.

Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.

Beschwerdeführer: Ich bin Afghane, Paschtune, sunnitischer Moslem und verlobt. Die Frau meines verstorbenen Bruders wurde nach dem islamischen Recht mit mir verheiratet. Die Frau meines verstorbenen Bruders wurde nach dem islamischen Recht mit mir verheiratet. Wir haben aber noch keine Hochzeitsfeier. Ich habe mit ihr noch keine Zeit verbracht, aber nach dem islamischen Recht ist sie meine Frau.

Richter: Haben Sie Kinder?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.

Beschwerdeführer: Ich habe in Nangarhar gelebt. Dort habe ich die Schule besucht. Neben der Schule habe ich halbtags als Automechaniker gearbeitet. Ich habe nur in Nangarhar gelebt. In Kabul habe ich mich in Ferien nur ein paar Tage aufgehalten. Auch in Laghman habe ich mich ein paar Tage lang aufgehalten, aber das war auch in den Ferien.

Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?

Beschwerdeführer: In Nangarhar habe ich in unserem eigenen Haus gelebt. In der Provinz Lag-hman besitzen wir Grundstücke.

Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?

Beschwerdeführer: Ich habe bis zur neunten Klasse in Afghanistan die Schule besucht. Neben der Schule habe ich auch als Automechaniker gearbeitet.

Richter: Welche Schulbildung haben Sie erhalten?

Beschwerdeführer: Ich habe bis zur neunten Klasse die höhere Schule besucht.

Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?

Beschwerdeführer: Meine Mutter ist verstorben. Ich habe einen Vater. Zu dem habe ich keinen Kontakt. Mein älterer Bruder ist auch verstorben. Meine Schwester ist bereits verheiratet und mein jüngerer Bruder hält sich bei meinem Onkel mütterlicherseits auf. Mein Vater hat neuerlich geheiratet. Als ich Richtung hierher aufgebrochen bin, war mein Bruder bei meinem Onkel mütterlicherseits aufhältig.

Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?

Beschwerdeführer: Seit dreieinhalb Jahren habe ich keinen Kontakt zu meinen Angehörigen. Sechs Monate vor meiner ersten Einvernahme hatte ich zuletzt Kontakt. Insgesamt sind es schon mittlerweile dreieinhalb Jahre, dass ich keinen Kontakt habe.

Richter: Haben Sie in Afghanistan Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?

Beschwerdeführer: Ich habe zwei Onkel väterlicherseits in Afghanistan. Ich bin mit meinen beiden Cousins väterlicherseits nach Österreich gekommen. Vor zwei Jahren haben beide einen negativen Bescheid bekommen und sie sind dann weiter nach Frankreich gereist. Seither habe ich keinen Kontakt zu ihnen.

Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?

Beschwerdeführer: Ich habe elf Monate, vor meiner ersten Einvernahme, das Gymnasium besucht und habe auch elf Monate lang bei der Gemeinde gearbeitet. Ich wurde dann nach XXXX transferiert. Seit fünf oder sechs Monaten besuche ich einen Deutschkurs, davor gab es Deutschkurse, diese fanden aber wegen Corona nicht regelmäßig statt. Ich habe auch Sport betrieben. Ich habe Fitness gemacht und bin laufen gegangen. Die Fitnesscenter sind wegen Corona nun geschlossen. Vor sechs Monaten gab es noch keinen Deutschkurs, da habe ich selbstständig zuhause Deutsch gelernt. In der Region, wo ich wohne, gibt es keinen Deutsch-kurs. Ich besuche einen Deutschkurs, der ist ungefähr eine Stunde von meiner Unterkunft entfernt. Eine Lehrerin unterrichtet mir Deutsch.

Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?

Beschwerdeführer: Ja, ich habe Freunde.

Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?

Beschwerdeführer: Nein.

Richter: Was ist bei dem Vorfall am XXXX passiert?

Beschwerdeführer: Es gab einen kleinen Streit mit drei Personen. Das war in XXXX . Wir sind dann gemeinsam alle zur Polizei gegangen und sind einvernommen worden. Die Polizei sah keine Schuld bei mir. Die anderen waren schuldig. Ich habe dann auch keine weiteren Schreiben oder eine Strafe bekommen. Die Leute sind selbstständig zur Polizei gegangen und haben der Polizei gesagt, dass sie mit mir keine Probleme haben und sie ihre Schuld eingesehen haben. Es war nämlich so, dass ich diese Leute um eine Zigarette gefragt habe. Sie haben zu mir gesagt, ob ich „deppat“ sei und ich weggehen soll. Als wir dann auch bei der Polizei waren, habe ich bei der Polizei angegeben, dass es dort, an dieser Stelle, Überwachungskameras gab und dass diese Personen mich auch weggestoßen haben. Daraufhin wurde eben dann von der Polizei meine Schuld nicht nachgewiesen.

Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!

Beschwerdeführer: Als meine Mutter noch gelebt hat, gab es überhaupt keine Probleme. Als meine Mutter verstorben ist, hat mein Vater neuerlich geheiratet. Meine Stiefmutter war sehr grausam zu uns. Sie hat uns ungerecht behandelt. Ihre drei Brüder sind zu uns nach Hause gekommen. Die Brüder meiner Stiefmutter wollten unsere Grundstücke in Laghman haben. Einige Zeit nachdem mein Vater wieder geheiratet hat, hat mein älterer Bruder auch geheiratet. Drei Monate nach seiner Heirat, wurde mein Bruder im Geschäft getötet. Er hat als Elektriker gearbeitet. Er wurde von unbekannten Personen getötet, aber wir verdächtigen die Brüder meiner Stiefmutter, dass sie diese Tat begangen haben. Nach dem Tod meines Bruders, habe ich weiterhin als Helfer in einer Kfz-Werkstatt gearbeitet. Eines Abends war ich Richtung nach Hause unterwegs. In der Nähe von unserem Haus befindet sich ein Waldstück. Dort wurde ich von drei Personen angegriffen. Ihre Gesichter waren verhüllt, ich konnte sie nicht erkennen. Ich wurde von ihnen geschlagen. Ich hatte dann einen Schädelbruch. Dann habe ich die Lichter eines Autos gesehen und ich habe eine Stimme erkannt, die gerufen hat, dass ein Auto kommt. Das war die Stimme des Sohnes einer meiner Stiefonkel. Ich hatte kein Bewusstsein mehr. Ich bin dann erst im Krankenhaus wieder zu mir gekommen. Vom Krankenhaus wurde ich dann entlassen, ich ging dann nicht mehr nach Hause, sondern zu meinem leiblichen Onkel. Mein Vater ist dann auch zu meinem leiblichen Onkel gekommen und sie haben dann über die Situation gesprochen. Mein Vater sagte ihnen, dass er sich mit seinem Schwager, den Brüdern seiner jetzigen Frau, nicht messen kann, da sie viel mächtiger sind, als er. Mein Vater erzählte auch, dass die Schwager immer bewaffnet zu ihnen nach Hause kommen. Dann hat mein leiblicher Onkel für mich den Entschluss gefasst, mich aus Afghanistan wegzuschicken. Mein jüngerer Bruder blieb bei meinem leiblichen Onkel. Vor ca. eineinhalb Jahren hat mir mein Onkel mütterlicherseits erzählt, dass die Verwandten meiner Stiefmutter erfahren haben, wo sich mein Bruder aufhält. Aus diesem Grund hat mein leiblicher Onkel mütterlicherseits meinen Bruder und seinen Sohn in Richtung Türkei weggeschickt. Wo sie sich gerade aufhalten weiß ich nicht, da ich keinen Kontakt zu ihnen habe.

Richter: Sind Sie, außer dem geschilderten Vorfall, jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?

Beschwerdeführer: Nein, kurz nachdem mein Bruder geheiratet hatte, wurde er in seinem Geschäft von unbekannten Leuten getötet. Wir haben den starken Verdacht, dass diese Personen dahinterstecken. Nach dem Tod meines Bruders passierte dieser Vorfall mit mir. Nach dem Angriff wussten wir, dass die Brüder meiner Stiefmutter hinter all dem stecken. Sie war auch davor nicht gut zu uns. Das sind meine Probleme.

Richter: Wodurch sind Sie in Afghanistan aktuell bedroht?

Beschwerdeführer: Die jetzige Situation in Afghanistan ist allen bekannt. Ob es hinsichtlich der Sicherheit ist, oder die andere Situation. Zurzeit herrscht in Kunduz und Helmand Krieg. Ich glaube, die amerikanischen Truppen ziehen aus Afghanistan ab und deswegen ist die Sicherheitslage auch sehr schlecht.

Richter: Wie sind Sie nach Österreich gekommen?

Beschwerdeführer: Ich bin illegal aus Afghanistan ausgereist. Ich ging nach Nimroz und von dort in den Iran und bin dann über die Türkei nach Bulgarien gereist. Von Bulgarien reiste ich nach Serbien. Ich bin dann weiter nach Ungarn gereist und über Ungarn reiste ich nach Österreich.

Richter: Wie haben Sie die Reise bezahlt?

Beschwerdeführer: Der Onkel mütterlicherseits, der mich weggeschickt hat, hat alles bezahlt.

Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!

Beschwerdeführer: Der Grund für meine Beschwerde ist, dass ich in Afghanistan Probleme habe. Ich kann dort nicht leben und ich habe dort auch niemanden. Ich möchte hier leben. ich möchte hier ein ruhiges Leben führen. Ich möchte hier leben, arbeiten und nicht nach Afghanistan zurückkehren.

Richter: Wenn Sie in Österreich bleiben dürften, wie stellen Sie sich Ihr zukünftiges Leben vor?

Beschwerdeführer: Ich möchte hier arbeiten und in meiner Freizeit möchte ich etwas lernen und ich möchte hier ein ruhiges Leben führen.

Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?

Beschwerdeführer: Ich möchte nicht nach Afghanistan zurückkehren. Afghanistan ist kein Ort, um dort leben zu können. Ich möchte auf keinen Fall nach Afghanistan zurückkehren, denn Afghanistan ist kein Ort für mich, um dort leben zu können. Ich bin dort einer Gefahr ausgesetzt. Meine Stiefonkel werden mich finden. Dort ist mein Leben gefährdet. Ich bin hierhergekommen, um ein ruhiges Leben führen zu können. Aus Angst vor diesen Stiefonkel, kann ich in Afghanistan nicht leben, denn sie werden mich überall suchen und finden.

Richter: Könnte Sie der afghanische Staat durch diese Bedrohung der Stiefonkel schützen?

Beschwerdeführer: Nein, die Behörden können uns nicht helfen. Mein Onkel mütterlicherseits war bereits dort, bei den Behörden und hat von den Vorfällen dort erzählt. Uns wurde gesagt, dass man uns nicht helfen kann.

Rechtsvertreter: War es nicht möglich, das Problem durch die Dorfältesten, aufzulösen?

Beschwerdeführer: Nein, das war nicht möglich. Die Ältesten trauen sich nicht das Problem zu lösen, auch wenn man zu ihnen geht, denn sie haben Angst, dass sie sich dadurch selbst Probleme verursachen.

Rechtsvertreter: Was hat Ihr Vater nach diesem Vorfall gemacht?

Beschwerdeführer: Mein Vater hat nichts für mich getan. Nachdem ich ihn gefragt habe, was er für mich tun kann, sagte er, dass er mit der Schwester dieser Person verheiratet ist und nichts für mich und gegen diese Person tun kann.

Rechtsvertreter: Keine weiteren Fragen. Der Beschwerdeführer macht nächste Woche seine A2-Prüfung.

Der Beschwerdeführer bringt nichts mehr vor.

Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?

Beschwerdeführer: Ja.“

16. Das Bundesverwaltungsgericht brachte mit Schreiben vom 21.6.2021 das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Version 4, Stand 11.6.2021) und die aktuellen EASO-Leitlinien zu Afghanistan (EASO Country Guidance) vom Dezember 2020 ins Verfahren ein und gab den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme.

17. Weder der Beschwerdeführer noch die belangte Behörde äußerten sich dazu.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl und den Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere durch Einsicht in die vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die ins Verfahren eingeführten Länderberichte.

1. Feststellungen

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, ist im Entscheidungszeitpunkt volljährig und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, welche er sowohl lesen als auch schreiben kann. Weiter spricht der Beschwerdeführer Dari, etwas Urdu und ein wenig Deutsch. Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde in der afghanischen Provinz Nangarhar in der Provinzhauptstadt XXXX geboren und wuchs dort im afghanischen Familienverband im familieneigenen Haus mit seinen Eltern, zwei Brüdern und einer Schwester auf. Die Familie des Beschwerdeführers besitzt neben dem Haus in XXXX Grundstücke in der Provinz Nangarhar und ein weiteres Haus sowie Grundstücke in der Provinz Laghman. Der Vater des Beschwerdeführers arbeitet als Landwirt und sorgte in Afghanistan für den Unterhalt der Familie. Die Mutter des Beschwerdeführers verstarb ungefähr im Jahr XXXX . Nach dem Tod der Mutter heiratete der Vater des Beschwerdeführers erneut. Die Stiefmutter des Beschwerdeführers brachte zwei Kinder zur Welt. Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX neun Jahre die Schule und arbeitete mehrere Jahre als Automechaniker.

Die Mutter und der ältere Bruder des Beschwerdeführers sind bereits verstorben. Sein Vater, seine Stiefmutter und seine Halbgeschwister leben nach wie vor im familieneigenen Haus in XXXX . Die Schwester des Beschwerdeführers ist bereits verheiratet und lebt bei ihrem Ehemann ebenfalls in XXXX . Die Ehefrau des Beschwerdeführers lebt bei ihrer Familie in der afghanischen Provinz Laghman im Distrikt XXXX . Der jüngere Bruder des Beschwerdeführers lebt bei seinem Onkel mütterlicherseits in XXXX . Weiter halten sich zwei Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers in Afghanistan auf. Die finanzielle Situation der Familie des Beschwerdeführers ist durchschnittlich bis gut. Derzeit hat der Beschwerdeführer keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan. Zwei Cousins väterlicherseits des Beschwerdeführers halten sich derzeit in Frankreich auf.

1.2 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich

Der Beschwerdeführer gelangte im XXXX in das österreichische Bundesgebiet und stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Seither hält er sich durchgehend im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer wohnt in einer Unterkunft in XXXX . Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig.

Seit seiner Einreise nahm der Beschwerdeführer an mehreren Deutsch- und Integrations- bzw. Basisbildungskursen teil. Weiter besuchte der Beschwerdeführer ab XXXX in den Schuljahren XXXX und XXXX den Lehrgang „Übergangsstufe für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtsprache Deutsch“ am Bundesgymnasium und Bundes-Oberstufenrealgymnasium XXXX . Der Beschwerdeführer hat jedoch noch keine Prüfungen zu seinen Deutschkenntnissen abgelegt, weshalb nicht abschließend festgestellt werden kann, auf welchem Niveau der Beschwerdeführer Deutsch spricht. Derzeit bereitet sich der Beschwerdeführer mit einer ehrenamtlichen Deutschlehrerin auf die Integrationsprüfung des ÖIF auf Niveau A2 des gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen vor. Weiter verrichtete der Beschwerdeführer mehrere gemeinnützige Tätigkeiten: Im Jahr XXXX arbeitete der Beschwerdeführer etwa gemeinnützig für die Gemeinde XXXX im Rahmen des Projektes „Springkrautbekämpfung“. Im XXXX und XXXX war er für die Gemeinde XXXX im Zuge des Neophyten-Managements tätig. Weiter arbeitete er von XXXX bis XXXX gemeinnützig am Bundesgymnasium und Bundes-Oberstufenrealgymnasium XXXX , wo er dem Schulwart bei dessen Tätigkeiten half, und war ab und zu als Dolmetscher im Flüchtlingsheim im Einsatz. Der Beschwerdeführer hat in Österreich soziale Kontakte – auch zu österreichischen Staatsbürgern – geknüpft. Er ist kein Mitglied in einem Verein. In seiner Freizeit treibt der Beschwerdeführer gerne Sport und besucht ein Fitnessstudio. Zukünftig möchte der Beschwerdeführer als Automechaniker oder Koch arbeiten.

Es leben keine Verwandten oder sonstige wichtige Bezugspersonen des Beschwerdeführers in Österreich. Es besteht weder eine Lebensgemeinschaft des Beschwerdeführers in Österreich noch gibt es in Österreich geborene Kinder des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Er ist im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig.

1.3 Zu seinen Fluchtgründen und der Rückkehr nach Afghanistan

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen in weiterer Folge mit Verfolgung durch die Familie seiner Stiefmutter sowie mit der allgemeinen Sicherheitslage.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung persönlich bedroht oder verfolgt wurde oder eine Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hätte.

Der Bruder des Beschwerdeführers kam vor einigen Jahren ums Leben. Er wurde jedoch nicht von der Familie der Stiefmutter des Beschwerdeführers ermordet. Ebenso wenig wurde der Beschwerdeführer Opfer eines Überfalls der Familie der Stiefmutter auf seine Person. Weder der Beschwerdeführer, noch seine Brüder oder sonstige Familienangehörige wurden von der Familie der Stiefmutter bedroht. Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan nicht aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung. Ihm drohen im Fall seine Rückkehr nach Afghanistan weder Übergriffe, noch Verfolgung durch die Familie seiner Stiefmutter etwa aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie wegen Grundstücksstreitigkeiten. Die Familie seiner Stiefmutter verfügt weder über Kontakte zur afghanischen Regierung, noch zu den Taliban und wäre nicht in der Lage, den Beschwerdeführer in einer Großstadt wie etwa Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) zu finden. Ein konkreter Anlass, aus dem der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen hat, kann nicht festgestellt werden.

Ebenso wenig drohen dem Beschwerdeführer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan Übergriffe durch Privatpersonen, staatliche Stellen oder sonstige Akteure.

Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.

Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers (Nangarhar) zählt zu den volatilen Provinzen im Osten Afghanistans. Nangarhar galt lange Zeit als eine der Hochburgen des Islamischen Staats Khorosan Provinz (ISKP) in Afghanistan. Der ISKP musste die Kontrolle von Gebieten in Nangarhar nach Niederlagen im November 2019 aufgeben, verfügt aber nach wie vor über eine Präsenz im Osten Afghanistans. An den Straßen der Provinz heben die Taliban Steuern ein. Mit Stand Mai 2021 stehen fünf Distrikte der Provinz unter der Kontrolle der Taliban, während elf weitere Distrikte umkämpft sind. Neben den Taliban ist auch al Qaida in Nangahar versteckt aktiv. Auch pakistanische Gruppierungen von Aufständischen sind in Nangarhar unter der Schirmherrschaft der Taliban präsent und kontrollieren einige Gebiete. In der Provinz werden regelmäßig Luftangriffe durchgeführt; es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen. In der Provinzhauptstadt Jalalabad führen die Sicherheitskräfte Operationen gegen Schläferzellen des IS durch. Hauptursache für zivile Opfer sind Selbstmordanschläge, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern und Bodenkämpfen.

Im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Nangarhar droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen zwischen regierungsfeindlichen Gruppierungen und Streitkräften der Regierung oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Hauptstadt Kabul ist von innerstaatlichen Konflikten und insbesondere stark von öffentlichkeitswirksamen Angriffen der Taliban und anderer militanter Gruppierungen betroffen. Kabul verzeichnet eine hohe Anzahl ziviler Opfer. Die afghanische Regierung führt regelmäßig Sicherheitsoperationen in der Hauptstadt durch.

Im Fall einer Niederlassung in Kabul droht dem Beschwerdeführer die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat zählten zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, die vom Konflikt relativ wenig betroffen sind. In Balkh hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen der abgelegenen Distrikte der Provinz verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Die Taliban greifen nun häufiger an und kontrollieren auch mehr Gebiete im Westen, Nordwesten und Süden der Provinz. Im Mai 2021 galt der Distrikt Dawlat Abad als unter Talibankontrolle stehend, während die Distrikte Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dehdadi, Kishindeh, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari als umkämpft galten. Die Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif ist davon jedoch wenig betroffen und gilt nach wie vor als vergleichsweise sicher, wenngleich es auch hier weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen kommt. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif jedoch so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.

Die Provinz Herat ist eine relativ entwickelte Provinz im Westen Afghanistans. Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte, wie zB Shindand, als unsicher gelten, weil die Kontrolle zwischen der Regierung und den Taliban umkämpft ist, ist die Hauptstadt der Provinz – Herat (Stadt) – davon wenig betroffen. In Herat (Stadt) kam es in den letzten Jahren vor allem zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, jedoch nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die das tägliche Leben vorübergehend zum Erliegen gebracht hätten. Die sicherheitsrelevanten Vorfälle, die in letzter Zeit in der Stadt Herat gemeldet wurden, fielen meist in zwei Kategorien: gezielte Tötungen und Angriffe auf Polizeikräfte. Die Distrikte um die Stadt Herat stehen unter der Kontrolle der Regierung. Je weiter man sich von der Stadt Herat, die im Jänner 2019 als „sehr sicher“ galt, und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Herat (Stadt) gilt trotz Anstiegs der Kriminalität nach wie vor als relativ sicher. Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Herat so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein

Sowohl Mazar-e Sharif in Balkh als auch Herat (Stadt) stehen unter Regierungskontrolle. Beide Städte verfügen über einen internationalen Flughafen, über den sie sicher erreicht werden können.

Für den Fall einer Niederlassung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) droht diesem nicht die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Angriffe Aufständischer zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Die Provinzen Balkh und Herat waren im Jahr 2018 von einer Dürre betroffen. Durch die sozioökonomischen Auswirkungen der derzeit bestehenden COVID-19-Pandemie und dem damit einhergehenden Anstieg der Lebensmittelpreise hat die Ernährungsunsicherheit inzwischen wieder ein ähnliches Niveau erreicht wie während dieser Dürre. In Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) sind Ernährungssicherheit, Zugang zu Wohnmöglichkeiten, Trinkwasser und medizinische Versorgung jedoch grundsätzlich gegeben. Der Zugang zu einer medizinischen Versorgung in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) ist zwar aufgrund der derzeit bestehenden Pandemie durch das Corona-Virus beschränkt, jedoch grundsätzlich vorhanden. In Krankenhäusern sind sogenannte „Fix-Teams“ stationiert, die verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort untersuchen und in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung stehen. In den Großstädten wurden einige der Regional- und Provinzkrankhäuser in Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult. Die Arbeitslosigkeit im Herkunftsstaat ist hoch und Armut verbreitet. Aufgrund kurzfristiger Lockdowns kann auch die Möglichkeit, sich durch eigene Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zeitlich begrenzt eingeschränkt sein. Gegenwärtig gibt es jedoch weder in Mazar-e Sharif, noch in Herat (Stadt) Ausgangssperren. Die internationalen Flughäfen in Mazar-e Sharif und Herat (Stadt) werden aktuell international wie auch national angeflogen. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten sind derzeit nur für Geschäftsreisende geöffnet, wobei Hotels und Teehäuser nicht genau nachfragen, weil sie Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können. Seit Februar 2021 sind COVID-19-Tests in Afghanistan leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhielten, diese durchzuführen. Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen; bis zum 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht. Etwa 11 % der Geimpften haben bereits beide Dosen des COVID-19-Impfstoffes erhalten. Mit Stand 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet.

Im Fall einer Rückführung des – volljährigen, gesunden und arbeitsfähigen – Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist davon auszugehen, dass er sich – wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten – eine Lebensgrundlage wird aufbauen und die Grundbedürfnisse seiner menschlichen Existenz wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft wird decken können. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Niederlassung in Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ein mit anderen dort lebenden Afghanen vergleichbares Leben ohne unbillige Härten führen können. Der Beschwerdeführer ist ein junger Mann von XXXX Jahren, der an keinen schwerwiegenden Erkrankungen leidet und (hinsichtlich COVID-19) nicht unter die Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit bestimmten Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzkrankheiten oder Bluthochdruck fällt. Der Beschwerdeführer ist gesund; sein Gesundheitszustand steht einer Rückkehr nach Afghanistan daher nicht entgegen. Der Beschwerdeführer ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut. Er verfügt über mehrjährige Berufserfahrung als Automechaniker sowie über eine neunjährige Schulbildung in Afghanistan. Der Beschwerdeführer spricht zudem mit Paschtu und Dari zwei weit verbreitete Sprachen seines Herkunftsstaates, eine davon muttersprachlich. Er verbrachte sein gesamtes Leben bis zu seiner Ausreise im XXXX in Afghanistan und wurde dort im afghanischen Familienverband sozialisiert. Der Beschwerdeführer ist arbeits- und erwerbsfähig; seine Ehefrau, mit der er traditionell verheiratet ist, lebt bei ihrer Familie in der Provinz Laghman und wird von dieser versorgt. Der Beschwerdeführer hat daher keine Sorgepflichten in Afghanistan. Der Aufbau einer Existenzgrundlage in den Großstädten Mazar-e Sharif oder Herat (Stadt) ist ihm, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, möglich. Seine Existenz könnte der Beschwerdeführer – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern.

Es gibt in Afghanistan unterschiedliche Unterstützungsprogramme für Rückkehrer von Seiten der Regierung, von NGOs und durch internationale Organisationen, die der Beschwerdeführer in Anspruch nehmen könnte. IOM bietet in Afghanistan Unterstützung bei der Reintegration an.

1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers

Es werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.4.1 Staatendokumentation (Stand 11.6.2021, außer wenn anders angegeben)

1.4.1.1 COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese – wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert – diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“ (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten – mehr als ein Viertel – als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb – mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).

Kinder (vor allem Jungen), di

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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