TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/13 W216 2241226-1

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Veröffentlicht am 13.08.2021
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Entscheidungsdatum

13.08.2021

Norm

AlVG §10
AlVG §38
AVG §69
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §32

Spruch


W216 2241226-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER als Vorsitzende sowie die fachkundige Laienrichterin Karin ZEISEL und den fachkundigen Laienrichter Dr. Kurt SCHEBESTA als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Arbeitsmarktservice Oberwart vom 13.01.2021, Zl. XXXX , nach Beschwerdevorentscheidung vom 18.03.2021, Zl. XXXX , betreffend die Abweisung des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen und die Beschwerdevorentscheidung bestätigt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice (AMS) Oberwart (in der Folge: belangte Behörde) vom 22.03.2017 wurde – nach einer niederschriftlichen Einvernahme der Beschwerdeführerin am 16.03.2017 – ausgesprochen, dass die Beschwerdeführerin den Anspruch auf Notstandshilfe gemäß § 38 iVm § 10 AlVG im Zeitraum vom 01.02.2017 bis 28.03.2017 verloren habe, da sie nicht bereit gewesen sei, eine Beschäftigung beim Dienstgeber XXXX anzunehmen.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin kein Rechtsmittel und erwuchs dieser somit in Rechtskraft.

2. Mit Bescheid des AMS vom 13.01.2021 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 20.11.2020 auf Auszahlung von € 4.346,05 für das Jahr 2017 gemäß § 25 AlVG abgewiesen. Dieser Bescheid wurde von der Beschwerdeführerin ebenfalls nicht bekämpft und wurde rechtskräftig.

3. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 13.01.2021 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 20.11.2020 auf Wiederaufnahme des Verfahrens bezüglich des Verlustes der Notstandshilfe für die Zeit vom 01.02.2017 bis 28.03.2017 mangels Vorliegens eines Wiederaufnahmegrundes gemäß § 69 AVG abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin die im Wiederaufnahmeantrag angeführten Gründe bereits in der Niederschrift vom 16.03.2017 vorgebracht habe und es sich daher um keine neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG handle. Für das Vorliegen anderer Wiederaufnahmegründe gebe es keine Anhaltspunkte.

4. Dagegen brachte die Beschwerdeführerin fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein und beantragte die sofortige Auszahlung von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung für sechs Wochen vom Frühling 2017 sowie die Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht. Sie fügte die Niederschrift vom 16.03.2017 an und gab in einer weiteren Nachricht vom selben Tag unter Beantragung der Wiederaufnahme des Verfahrens an, dass die Aussagen von einer neuen Mitarbeiterin aufgenommen worden seien, eine Anhörung durch einen Ausschuss aber nicht stattgefunden habe. Der Chef des ihr zugewiesenen Unternehmens sei ein Freund des Leiters des AMS Oberwart. Man habe die Beschwerdeführerin beim Bewerbungsgespräch absichtlich warten lassen. Der Chef des Unternehmens habe sich zu einer Mitarbeiterin des AMS geäußert und versucht, der Beschwerdeführerin etwas zu entlocken. Laut Nachfrage beim AMS sei sie in die engere Auswahl beim Bewerbungsverfahren gekommen; eine Woche später habe ihr das AMS dann aber den ihr zustehenden Leistungsanspruch gestrichen, was sie akzeptiert habe, um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden. Nun wolle sie aber Gerechtigkeit.

5. Im Verfahren über die Beschwerde erließ das AMS als belangte Behörde am 18.03.2021 gemäß § 14 Abs. 1 VwGVG iVm § 56 Abs. 2 einen Bescheid im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung, mit welcher der Beschwerde nicht stattgegeben und ihr Antrag vom 20.11.2020 auf Wiederaufnahme des Verfahrens bezüglich des Verlustes der Notstandshilfe für die Zeit vom 01.02.2017 bis 28.03.2017 mangels Vorliegens eines Wiederaufnahmegrundes gemäß § 69 AVG abgewiesen wurde. In ihrer rechtlichen Würdigung führte die belangte Behörde insbesondere aus, dass die Beschwerdeführerin ihren Wiederaufnahmeantrag im Wesentlichen mit jenen Gründen, die sie bereits vor Erlassung des Bescheides in der Niederschrift vom 16.03.2017 angeführt habe, begründet habe und auch keine sonstigen Beweismittel vorgelegt habe, welche nicht schon im Verfahren bekannt gewesen seien. Es handle sich daher um keine neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG. Das Vorliegen anderer Wiederaufnahmegründe habe die Beschwerdeführerin nicht eingewendet und solche seien für die Behörde auch nicht ersichtlich gewesen. Sofern die Beschwerdeführerin angegeben habe, dass die Niederschrift von einer neuen Mitarbeiterin aufgenommen worden sei, würde dies keinen Wiederaufnahmegrund darstellen. Abgesehen davon sei diese Mitarbeiterin zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 10 Jahre beim AMS beschäftigt gewesen. Da bereits kein Grund für eine Wiederaufnahme habe festgestellt werden können, hätten auch Feststellungen bezüglich Rechtzeitigkeit bzw. Verschulden unterbleiben können.

6. Die Beschwerdeführerin stellte am 23.03.2021 beim AMS einen Vorlageantrag, in dem sie ausführte, dass sie entgegen der Ansicht des AMS zu keiner Zeit arbeitsunwillig gewesen sei. Der Verlust der ihr zustehenden Notstandshilfe in der Zeit vom 01.02.2017 bis 28.03.2017 sei somit "menschenrechtsunwürdig".

7. Der Vorlageantrag und die Beschwerde wurden gemäß § 15 Abs. 2 letzter Satz VwGVG dem Bundesverwaltungsgericht unter Anschluss der Akten des Verfahrens am 04.09.2021 beim Bundesverwaltungsgericht einlangend vorgelegt.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die belangte Behörde und das Bundesverwaltungsgericht haben die notwendigen Ermittlungen des maßgeblichen Sachverhaltes ausreichend durchgeführt. Auf dieser Grundlage werden folgende Feststellungen getroffen und der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt:

Mit Bescheid des AMS Oberwart vom 22.03.2017 wurde der Verlust der Notstandshilfe der Beschwerdeführerin im Zeitraum vom 01.02.2017 bis 28.03.2017 aufgrund ihrer mangelnden Bereitschaft der Aufnahme der ihr zugewiesenen Beschäftigung ausgesprochen. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin kein Rechtsmittel.

Das Verfahren, dessen Wiederaufnahme begehrt wird, ist somit rechtskräftig abgeschlossen.

Diesem Bescheid liegt eine niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem AMS am 16.03.2017 zugrunde.

Die von der Beschwerdeführerin angegebenen Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens decken sich im Wesentlichen mit ihren in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am 16.03.2017 genannten Argumenten. Die Beschwerdeführerin brachte keine weiteren (tauglichen) Wiederaufnahmegründe vor.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren erhoben durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des Arbeitsmarktservice unter zentraler Berücksichtigung des Antrages auf Wiederaufnahme und dessen Beurteilung durch das AMS.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß § 9 Abs. 2 Z 1 VwGVG ist belangte Behörde in den Fällen des Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat – vorliegend sohin das AMS.

§ 56 Abs. 2 AlVG normiert die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts zur Entscheidung über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz – BVwGG, BGBl. I Nr. 10/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Die entsprechende Anordnung einer Senatszuständigkeit enthält § 56 Abs. 2 AlVG, wonach das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle durch einen Senat entscheidet, dem zwei fachkundige Laienrichter angehören, je einer aus dem Kreis der Arbeitgeber und aus dem Kreis der Arbeitnehmer.

Gemäß § 7 BVwGG bestehen die Senate aus einem Mitglied als Vorsitzendem und zwei weiteren Mitgliedern als Beisitzern. Ist in Materiengesetzen die Mitwirkung fachkundiger Laienrichter an der Rechtsprechung vorgesehen, sind diese anstelle der Mitglieder nach Maßgabe der Geschäftsverteilung als Beisitzer heranzuziehen.

In der gegenständlichen Rechtssache obliegt somit die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Senat.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG geregelt (§ 1 leg. cit.).

Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nichts anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem, dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren, angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 27 VwGVG legt den Prüfungsumfang fest und beschränkt diesen insoweit, als das Verwaltungsgericht (bei Bescheidbeschwerden) prinzipiell (Ausnahme: Unzuständigkeit der Behörde) an das Beschwerdevorbringen gebunden ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren [2013], Anm. 1 zu § 27 VwGVG). Konkret normiert die zitierte Bestimmung: "Soweit das Verwaltungsgericht nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, hat es den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen."

Die zentrale Regelung zur Frage der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte bildet § 28 VwGVG. Die vorliegend relevanten Abs. 1 und 2 dieser Bestimmung lauten wie folgt:

"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn
1.         der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
2.         die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist."

Gegenständlich steht der maßgebliche Sachverhalt im Sinne von § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG fest.

Das Bundesverwaltungsgericht hat folglich in der Sache selbst zu entscheiden.

Zu A) Abweisung der Beschwerde:

3.2. § 32 VwGVG nimmt ausschließlich auf die Wiederaufnahme jener Verfahren Bezug, welche durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichts abgeschlossen wurden. Im gegenständlichen Fall gilt es jedoch, die Rechtmäßigkeit eines Bescheides des AMS zu prüfen, mit welchem der Antrag auf Wiederaufnahme eines vor diesem geführten Verfahrens abgewiesen wurde. Aus diesem Grund hat der erkennende Senat § 69 AVG, der durch das AMS in seinem gegenständlichen Bescheid zur Prüfung der Voraussetzungen angewendet wurde, ebenso seiner Entscheidungsfindung zu Grunde zu legen (vgl. VfGH 18.06.2014, G5/2014).

Gemäß § 69 Abs. 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und 1. der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonst wie erschlichen worden ist oder 2. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten.

Gemäß § 69 Abs. 1 AVG setzt die Wiederaufnahme des Verfahrens somit voraus, dass es sich um ein Verwaltungsverfahren handelt, welches durch Bescheid abgeschlossen wurde (vgl. VwGH 22. 1. 1991, 90/08/0223; 31. 1. 1996, 96/03/0001).

Gemäß § 69 Abs. 2 AVG ist der Antrag auf Wiederaufnahme binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Bescheides und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

Das Wiederaufnahmeverfahren hat nicht den Zweck, allfällige Versäumnisse einer Partei in einem Ermittlungsverfahren oder die Unterlassung der Erhebung eines Rechtsmittels im Wege über die Wiederaufnahme eines Verfahrens zu sanieren (VwGH 12.08.2010, 2008/10/0185).

Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG setzt voraus, dass neue Tatsachen oder Beweise hervorgekommen sind, die im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides bereits bestanden, aber nicht bekannt waren und im Verfahren ohne Verschulden der Partei oder der Behörde nicht "geltend gemacht" werden konnten. Es muss sich um Tatsachen oder Beweise handeln, die bei Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens schon vorhanden waren, aber erst danach hervorgekommen sind (vgl. Hengstschläger/Leeb6 Rz 583; Kolonovits/Muzak/Stöger11 Rz 59).

§ 69 Abs. 1 Z 2 AVG stellt auf die sog "nova reperta" ab (VwSlg 7721 A/1970; VwGH 20.02.1992, 91/09/0196; 17.02.2006, 2006/18/0031; 26.02.2013, 2010/15/0064), deren Verwertung der Partei – ohne ihr Verschulden – erst nachträglich möglich wurde (VwGH 04.07.2000, 2000/05/0105; 19.10.2005, 2005/09/0140) bzw. die der Behörde im rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht zugänglich waren (VwGH 28.03.1990, 89/03/0283; 19.01.1999, 97/05/0115). Keinen Wiederaufnahmegrund bildet die neue Darstellung bereits bekannt gewesener Tatsachen oder die geänderte Würdigung bereits aufgenommener Beweise (vgl. VwGH 13.09.1974, 1735/73).

Mit dem "Abschluss" des wiederaufzunehmenden Verfahrens ist bei einer Wiederaufnahme auf Antrag der Partei der Eintritt der formellen Rechtskraft gemeint, weil die Partei ihr vorher bekannt gewordene Tatsachen oder Beweise noch im Rechtsmittelweg geltend machen kann (vgl. VwGH 16.02.1994, 90/13/0003; 27.02.1995, 90/10/0137; 24.04.2007, 2005/11/0127).

Tatsachen, die erst nach Abschluss des Verfahrens entstanden sind, sogenannte "nova causa superveniens" oder "nova producta", stellen, weil sie von der Rechtskraft des Bescheides nicht umfasst sind, keinen Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens dar (VwGH 13.10.1980, 3073/80; 20.02.1992, 91/09/0196; 17.02.2006, 2006/18/0031; vgl auch Antoniolli/Koja 809; Hellbling 455; Hengstschläger/Leeb6 Rz 583; Kolonovits/Muzak/Stöger11 Rz 597; Schulev-Steindl6 Rz 342; Walter/Thienel AVG § 69 Anm 12). Tritt durch die neu entstandenen Tatsachen eine wesentliche Änderung der Sachlage ein, kann von der Behörde – auf Antrag oder von Amts wegen – eine neue Entscheidung getroffen werden, weil mangels Identität der Sache und res iudicata weder dem auf der Basis des geänderten Sachverhalts gestellten Antrag noch der neuen Entscheidung die Rechtskraft des Vorbescheides im Wege steht (§ 68 Rz 23 ff; VwGH 24.08.2004, 2003/01/0431; 08.09.2015, Ra 2014/18/0089; 31.03.2016, 2013/07/0156; 09.05.2018, Ra 2018/12/0014). Dies gilt auch für eine neu entstandene Rechtslage. Rechtsänderungen sind keine neu entstandenen Tatsachen, sondern in einer Vielzahl von Fällen Grundlage für eine darauf beruhende neue Entscheidung (vgl. VwGH 25.07.2007, 2006/11/0147; näher dazu § 68 Rz 32 ff).

Als neu hervorgekommene Tatsachen bzw. Beweismittel wertete der Verwaltungsgerichtshof in früheren Erkenntnissen zu Unrecht auch solche, die im Verfahren mangels Gewährung von Parteiengehör nicht geltend gemacht werden konnten (vgl. VwSlg 814 A/1949; 1922 A/1951). Dem ist mit der jüngeren Judikatur entgegenzuhalten, dass es sich dabei keinesfalls um "nova reperta" handelt und Verfahrensfehler, wie die Verletzung des Parteiengehörs, ohnedies im Rechtsmittelweg geltend gemacht werden können und daher keinen Wiederaufnahmegrund gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG darstellen (vgl. VwGH 16.06.1999, 98/01/0411; 18.09.2002, 99/17/0261; Hengstschläger/Leeb6 Rz 583; Kolonovits/Muzak/Stöger11 Rz 597). (Hengstschläger/Leeb, AVG § 70, Rz 28 [Stand 01.01.2020, rdb.at]).

Nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG setzt die Wiederaufnahme des Verfahrens voraus, dass die bei Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens schon vorhandenen, neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweise "ohne Verschulden der Partei" unbekannt geblieben sind und daher unverschuldet von ihr im Verfahren – allenfalls auch im Verfahren vor einer höheren Instanz (Walter/Thienel AVG § 69 Anm 13) – nicht geltend gemacht bzw. von der Behörde nicht berücksichtigt werden konnten (VwGH 28.07.1994, 94/07/0097; 28.03.1995, 94/19/0139; 14.11.2012, 2010/08/0165). Auch ein "neu entstandenes" Beweismittel wie die spätere Erklärung eines Zeugen ist – wie dargetan (Rz 35) – prinzipiell geeignet, die Wiederaufnahme des Verfahrens gem. § 69 Abs. 1 Z 2 AVG zu rechtfertigen (vgl. VwGH 14.11.2012, 2010/08/0165; 24.03.2015, Ra 2015/09/0002; 18.01.2017, Ra 2016/18/0197). Im Mehrparteienverfahren darf jene Partei, die den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens stellt, kein Verschulden daran treffen, dass die neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweismittel unbekannt geblieben sind (Schulev-Steindl6 Rz 342). Widrigenfalls vermögen nachträglich von ihr ins Treffen geführte Tatsachen oder Beweismittel die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht zu rechtfertigen (vgl. VwGH 28.07.1994, 94/07/0097;08.04.1997, 94/07/0063).

Unter Verschulden iSd § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Verschulden iSd § 1294 ABGB zu verstehen (VwGH 09.06.1994, 94/06/0106; 22.06.1995, 95/06/0087; 24.02.2004, 2002/01/0458). Es kommt nicht auf den Grad des Verschuldens an – auch leichte Fahrlässigkeit genügt (VwGH 19.03.2003, 2000/08/0105; 14.12.2015, Ra 2015/09/0076) – und es ist ohne Belang, ob die Partei das Alleinverschulden oder nur ein Mitverschulden trifft (VwGH 30.04.1991, 89/08/0188; vgl. auch Hellbling 456; Kolonovits/Muzak/Stöger11 Rz 598). Richtmaß für die Beurteilung des Verschuldens ist der Grad des Fleißes und der Aufmerksamkeit, welcher bei gewöhnlichen Fähigkeiten aufgewendet werden kann (§ 1297 ABGB; vgl. VwGH 25.11.1994, 94/19/0126; 10.10.2001, 98/03/0259). Verschulden setzt Vorwerfbarkeit voraus, dh es stellt auf die persönliche Eigenart jener Person ab, die das zu beurteilende Verhalten gesetzt hat. Dieser kann nur dann ein Vorwurf gemacht werden, wenn sie nach ihren subjektiven Fähigkeiten in der Lage war, die Tragweite ihres Verhaltens zu erkennen und dementsprechend zu handeln (vgl. Rabl/Riedler III6 Rz 13/31; Reischauer in Rummel3 ABGB § 1294 Rz 20 ff; Welser/Zöchling-Jud II14 Rz 1413 f). Daher trifft eine Partei kein Verschulden iSd § 69 Abs. 1 Z 2 AVG, wenn sie aufgrund ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten im Verfahren nicht in der Lage gewesen ist, die nunmehr im Wiederaufnahmeverfahren behaupteten neuen Tatsachen und Beweise der Behörde an die Hand zu geben (vgl. VwGH 30.06.1998, 98/05/0033). (Hengstschläger/Leeb, AVG § 70, Rz 36 und 37 [Stand 01.01.2020, rdb.at]).

3.3. Für den Beschwerdefall bedeutet das Folgendes:

Die Beschwerdeführerin begehrt die Wiederaufnahme des mit Bescheid vom 22.03.2017 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens des AMS betreffend Verlust von Notstandshilfe und begründet dies damit, dass ihre Aussagen vor dem AMS von einer neuen Mitarbeiterin aufgenommen worden seien und keine Anhörung durch einen Ausschuss stattgefunden habe. Der Chef des ihr zugewiesenen Unternehmens sei ein Freund des Leiters des AMS Oberwart, der versucht habe, der Beschwerdeführerin beim Bewerbungsgespräch etwas über die AMS-Mitarbeiterin zu entlocken.

Dem ist entgegenzuhalten, dass sich die von der Beschwerdeführerin angeführten Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Wesentlichen mit ihren in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am 16.03.2017 genannten Argumenten decken: Der Stellungnahme des potentiellen Dienstgebers, der eine negative Einstellung der Beschwerdeführerin gegenüber dem AMS einräumte und die Genannte für nicht passend für das Team hielt, entgegnete die Beschwerdeführerin im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am 16.03.2017 nämlich damit, nicht zu ihrem beruflichen Werdegang, sondern zu ihrer AMS-Betreuerin ausgefragt worden zu sein, wobei die Beschwerdeführerin nichts Negatives zu ihrer Person gesagt habe. Ebenso habe ihr der potentielle Arbeitgeber mitgeteilt, dass der Leiter des AMS Oberwart ein guter Freund von ihm sei.

Es handelt sich demnach um keine neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweismittel im Sinne des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG, weshalb weitergehende Ausführungen zum Verschulden (als weiteres Voraussetzungskriterium nach § 69 Abs. 1 Z 2 AVG in Hinblick darauf, dass die bei Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens schon vorhandenen, neu hervorgekommenen Tatsachen oder Beweise "ohne Verschulden der Partei" unbekannt geblieben sind und daher unverschuldet von ihr im Verfahren nicht geltend werden konnten) oder zur Rechtzeitigkeit (der in § 69 Abs. 2 AVG geforderte Frist von zwei Wochen ab Kenntniserlangung des Wiederaufnahmegrundes) unterbleiben konnten. Die Beschwerdeführerin brachte auch keine weiteren (tauglichen) Wiederaufnahmegründe vor.

Aus den dargelegten Erwägungen sind die Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG nicht erfüllt, weshalb die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens spruchgemäß abzuweisen war.

3.4. Entfall der mündlichen Verhandlung:

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde nicht beantragt.

Da die Sachlage aufgrund der Aktenlage als erklärt erscheint, konnte eine mündliche Erörterung der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme gemäß § 24 VwGVG unterbleiben. Die belangte Behörde hat ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und den Sachverhaltsfeststellungen wurde in der Beschwerde nicht substantiiert entgegengetreten. In der Beschwerde findet sich kein Tatsachenvorbringen, welches zu einem anderen Verfahrensausgang führen könnte. Die zu beantwortende Frage, ob ein Wiederaufnahmegrund iSd § 69 Abs. 1 Z 2 AVG vorliegt, ist im Wesentlichen rechtlicher Natur. Es hat sich daher aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts keine Notwendigkeit ergeben, den als geklärt erscheinenden Sachverhalt in einer mündlichen Verhandlung näher zu erörtern.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die hier anzuwendenden Regelungen erweisen sich als klar und eindeutig. Im Übrigen ergeht die vorliegende Entscheidung in Anlehnung an die oben zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 69 AVG. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu Spruchteil A) wiedergegeben.

Schlagworte

Anspruchsverlust neu entstandene Tatsache Notstandshilfe Wiederaufnahmeantrag Wiederaufnahmegrund

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W216.2241226.1.00

Im RIS seit

24.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

24.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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