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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art139 Abs1 Z1Leitsatz
Keine Gesetzwidrigkeit der COVID-19-LockerungsV betreffend die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes bei Betreten des Kundenbereichs in geschlossenen Räumen von "Betriebsstätten"; hinreichende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen für die nicht sehr eingriffsintensive Maßnahme im VerordnungsaktRechtssatz
Abweisung eines - zulässigen - Antrags des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich (LVwG), auf Feststellung der Gesetzwidrigkeit des §2 Abs1a erster Satz der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung - COVID-19-LV), BGBl II 197/2020 idF BGBl II 398/2020.
Gemäß §2 Abs1a COVID-19-LV idF BGBl II 332/2020, war eine Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung beim Betreten des Kundenbereichs in geschlossenen Räumen von öffentlichen Apotheken, aber auch ua von Betriebsstätten des Lebensmitteleinzelhandels, von Banken oder der Post (erneut) zu tragen. Mit dem angefochtenen §2 Abs1a erster Satz COVID-19-LV idF BGBl II 398/2020 wurde die Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung mit Wirkung vom 14.09.2020 auf das Betreten des Kundenbereichs in geschlossenen Räumen von "Betriebsstätten" erstreckt. Als Grundlagen für die Erlassung (ua) der angefochtenen Bestimmung in §2 Abs1a COVID-19-LV idF BGBl II 398/2020 finden sich in den vom BMSGPK vorgelegten Verordnungsakten (einschließlich des Verordnungsaktes zu Erlassung der Novelle BGBl II 332/2002 vom 22.07.2020 - 8. COVID-19-LV-Novelle) folgende Angaben:
Unter der Rubrik "Sachverhalt" wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Wiedereinführung des verpflichtenden Mund-Nasen-Schutzes in spezifisch systemrelevanten Bereichen (neben den Apotheken der Lebensmitteleinzelhandel, Banken, Post und Postpartner) nach der aktuellen epidemiologischen Lage aus epidemiologischer Sicht erforderlich sei. Diese Bereiche seien bewusst ausgewählt worden, um Risikogruppen zu schützen und jene Bereiche zu erfassen, auf die auch Risikogruppen für den Bedarf des täglichen Lebens angewiesen seien. Der Mund-Nasen-Schutz sei nicht für die tragenden Personen, sondern für alle anderen Personen ein Schutz.
Im Verordnungsakt finden sich weiters mehrere Lagedarstellungen zur SARS-CoV2-Infektion der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (AGES) einschließlich Prognosen und Kapazitätsvorschauen für den Zeitraum vom 15.07.2020 bis 21.07.2020. Zudem liegt dem Verordnungsakt ein Fachgutachten eines Facharztes für Hygiene und Mikrobiologie vom 28.07.2020 zur Verpflichtung des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes ein, in dem ua darauf hingewiesen wird, dass dem Mund-Nasen-Schutz neben der physischen Distanzierung in der Prävention der Übertragung von SARS-CoV2 eine entscheidende Bedeutung zukomme. Der Mund-Nasen-Schutz diene in erster Linie dazu, nicht-infizierte, gesunde Personen vor einer Infektion durch virusausscheidende Personen, sei es mit oder ohne klinische Symptome, zu schützen. Nachgewiesenermaßen reduziere der Mund-Nasen-Schutz Tröpfchenausscheidung und Aerosolbildung beim Ausatmen und damit die Zahl der infektiösen Partikel, die weitergegeben werden könnten.
Dem Verordnungsakt, der der Änderung der COVID-19-LV mit der Verordnung BGBl II 398/2020 vom 12.09.2020 (10. COVID-19-LV-Novelle) zugrunde liegt, ist Folgendes zu entnehmen:
Die Ergebnisse der Corona-Kommission liegen in Form einer "Empfehlung der Corona-Kommission" vom 10.09.2020 im Verordnungsakt ein. Auf Basis des Datenstandes vom 08.09.2020, 24:00 Uhr, empfiehlt die Corona-Kommission darin auf Grund des erhöhten Infektionsgeschehens in Österreich ua, über die Empfehlungen für einzelne Regionen hinausgehend, generell das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes für Innenräume im Handel, in der Gastronomie bis zum Sitzplatz, im Parteienverkehr bei Behörden, für alle Formen des Kundenkontakts, wenn der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, sowie in der Schule außerhalb des Klassenverbandes für das gesamte Bundesgebiet, unabhängig von der regionalen Risikoeinschätzung zu implementieren. Weiters enthält der Bericht der Corona-Kommission die Festlegung der jeweiligen Risikostufe ("Ampelfarbe") und die Darstellung der epidemiologischen Lage (Entwicklung der kumulativen 7-Tagesinzidenz, Auslastung der Normal- und Intensivbetten, Angaben zur Aufklärung von Infektionsquellen, Ausmaß der Testaktivität usw) für das gesamte Bundesgebiet, für die Länder und für einzelne Bezirke mit Stand 08.09.2020, 24:00 Uhr.
Im Verordnungsakt finden sich weitere wissenschaftliche Unterlagen, wie etwa der von der AGES erstellte tägliche Lagebericht zur SARS-CoV2-Infektion vom 11.09.2020, in dem für das Bundesgebiet bzw die einzelnen Regionen ua die kumulative Anzahl der Fälle von bestätigter SARS-CoV2-Infektion, die kumulative Inzidenz und der zeitliche Verlauf im Hinblick auf neu identifizierte Fälle einer bestätigten SARS-CoV2-Infektion abgebildet sind und der auch eine Clusteranalyse enthält.
Der BMSGPK weist in seiner Äußerung darauf hin, dass er mit der Erweiterung der Verpflichtung zum Tragen einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung durch die Verordnung BGBl II 398/2020 auf ein erhöhtes Infektionsgeschehen reagiert habe und damit der entsprechenden Empfehlung der Corona-Kommission vom 10.09.2020 gefolgt sei.
Schlagworte
COVID (Corona), Verordnungserlassung, Bindung (des Verordnungsgebers), Verhältnismäßigkeit, VfGH / Gerichtsantrag, LegalitätsprinzipEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:V35.2021Zuletzt aktualisiert am
04.10.2021