TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/24 E4572/2019

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Veröffentlicht am 24.06.2021
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Index

L1000 Gemeindeordnung

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Anlassfall

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Tirol ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.858,52 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

1. Die mitbeteiligte Partei, eine Genossenschaft, ist Eigentümerin der Grundstücke Nr 703/21, 703/22, 703/23 und 703/24, die im Flächenwidmungsplan der Stadtgemeinde Saalfelden als Bauland "Reines Wohngebiet" ausgewiesen sind.

2. Mit Eingabe vom 18. Juli 2017 beantragte die mitbeteiligte Partei die Erteilung einer Baubewilligung für den Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit neun Wohneinheiten auf den Grundstücken Nr 703/23 und 703/24, je KG Farmach, unter Zugrundelegung des Einreichplanes Bau-Nr 5542 vom 11. April 2017.

3. Mit weiterer Eingabe vom 18. Juli 2017 beantragte die mitbeteiligte Partei die Erteilung einer Baubewilligung für den Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit neun Wohneinheiten auf den Grundstücken Nr 703/21 und 703/22, je KG Farmach, unter Zugrundelegung des Einreichplanes Bau-Nr 5541 vom 11. April 2017.

4. Die Grundstücke der Erst- bis Sechstbeschwerdeführer sind von den Fronten des Baues laut Bauvorhaben auf den Grundstücken Nr 703/23 und 703/24 (Bau-Nr 5542) weniger als fünfzehn Meter entfernt. Die Grundstücke der Drittbeschwerdeführerin und der Siebt- bis Zehntbeschwerdeführer sind von den Fronten des Baues laut Bauvorhaben auf den Grundstücken Nr 703/21 und 703/22 (Bau-Nr 5541) weniger als fünfzehn Meter entfernt, während das Grundstück der Sechstbeschwerdeführerin von den Fronten dieses Baues mehr als fünfzehn Meter entfernt ist.

5. Mit zwei Bescheiden, je vom 28. Februar 2019, erteilte der Bürgermeister der Stadtgemeinde Saalfelden die beantragten Baubewilligungen unter Vorschreibung von Auflagen und Bedingungen.

6. Gegen den Bescheid vom 28. Februar 2019 zu Bau-Nr 5542 erhoben die Erst- bis Sechstbeschwerdeführer Berufung. Gegen den Bescheid vom 28. Februar 2019 zu Bau-Nr 5541 erhoben die Drittbeschwerdeführerin und die Sechst- bis Zehntbeschwerdeführer Berufung.

7. Mit dem ersten Bescheid vom 5. Juli 2019 wies die Gemeindevertretung der Stadtgemeinde Saalfelden die Berufung der Erst- bis Sechstbeschwerdeführer gegen den Bescheid des Bürgermeisters der Stadtgemeinde Saalfelden vom 28. Februar 2019, mit dem die Baubewilligung (Bau-Nr 5542) erteilt worden war, als unbegründet ab. Mit dem zweiten Bescheid vom 5. Juli 2019 wies die Gemeindevertretung der Stadtgemeinde Saalfelden die Berufung der Drittbeschwerdeführerin sowie der Siebt- bis Zehntbeschwerdeführer gegen den Bescheid des Bürgermeisters der Stadtgemeinde Saalfelden vom 28. Februar 2019, mit dem die Baubewilligung (Bau-Nr 5541) erteilt worden war, als unbegründet ab; hingegen wurde die Berufung der Sechstbeschwerdeführerin zurückgewiesen.

8. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Salzburg. Dieses wies die Beschwerde mit Erkenntnis vom 5. November 2019 ab bzw zurück und führte im Wesentlichen aus:

8.1. Die Beschwerdeführer würden behaupten, dass den Bebauungsgrundlagen ein nicht nachvollziehbares, falsches Urgelände bzw gewachsenes natürliches Gelände zugrunde liege. Es sei dem Bebauungsplan 2015 unschlüssigerweise ein Urgelände aus 1995 zugrunde gelegt worden, an dessen Richtigkeit die Beschwerdeführer zudem zweifeln würden, da bezüglich des Urgeländes aus 1995 keine sachverständige Festlegung bzw Geometer-Höhenaufnahme existiere, sondern nur nachträgliche Einzeichnungen. Folglich sei keine gesetzmäßige Höhenfestlegung und Festlegung der Baufluchtlinien erfolgt, weswegen das Bauvorhaben sowohl die Vorschriften über die Höhe und Lage der Bauten im Bauplatz verletze als auch die gesetzlichen Nachbarabstände gemäß §25 Abs3 des Salzburger Gesetzes vom 27. Juni 1968 über die zweckmäßige Gestaltung der Grundstücke im Bauland, die Schaffung von Bauplätzen und die Lage der Bauten im Bauplatz (Bebauungsgrundlagengesetz – BGG, LGBl 69/1968 idgF). Überdies werde, so die Beschwerdeführer, die Verletzung des nachbarrechtlichen Immissionsschutzes geltend gemacht, da es durch die Verwendung der Stellplätze zu einer unzumutbaren Belästigung der Nachbarn komme. Zudem sei der Bebauungsplan gesetzwidrig, da er 2015 nur zur Verwirklichung des Bauvorhabens der mitbeteiligten Partei geändert worden sei und von der Baubehörde keine sachverständigen Überlegungen für die projektbezogen vorgenommene Bebauungsplanung dargetan worden sei.

8.2. Das Bauvorhaben halte jedoch, so das Landesverwaltungsgericht Salzburg, unter Zugrundelegung des gewachsenen Geländes laut Bebauungsplan die gesetzlichen Mindestabstände zu den Bauplatzgrenzen gemäß §25 Abs3 BGG ein. Auch die Höchsthöhen und die Baufluchtlinie würden vom Bauvorhaben nicht überschritten werden. Den planlichen Darstellungen sei das gewachsene Gelände eindeutig zu entnehmen und die Höhenschichtlinien seien von staatlich befugten und beeideten Ziviltechnikern ermittelt und richtig eingezeichnet worden. Damit könnten die Höhenschichtlinien als Urgelände herangezogen werden. Das im Bebauungsplan 1998 angenommene Urgelände sei auch nach der Änderung des Bebauungsplanes im Jahr 2015 maßgeblich, da die Änderung von einzelnen Bebauungsgrundlagen in einem Bebauungsplan nicht zur Folge habe, dass das im Bebauungsplan angenommene gewachsene Gelände entfalle oder neu verordnet werden müsse. Das gewachsene Gelände sei nicht als unrichtig zu qualifizieren, weswegen auch den Ausführungen der Beschwerdeführer zu den Festlegungen der zulässigen Gebäudehöhen im Bebauungsplan und zur Festlegung der Baufluchtlinien nicht zu folgen sei. Betreffend die behauptete Verletzung des nachbarrechtlichen Immissionsschutzes seien keine konkreten Gründe genannt worden, weshalb nicht zu erwarten sei, dass vom Bauvorhaben unzumutbare Belästigungen ausgehen würden. Zudem handle es sich nicht um eine rein anlassfallbezogene Änderung des Bebauungsplanes, der ausschließlich die mitbeteiligte Partei begünstige.

8.3. Die Einsicht in die Verordnungsakten betreffend den Bebauungsplan und dessen Änderung sei den Beschwerdeführer zu Recht verweigert worden, da diesbezüglich kein Recht auf Akteneinsicht bestehe.

8.4. Insgesamt seien somit die Einwendungen der Beschwerdeführer nicht berechtigt. Ebenso sei die Zurückweisung der Berufung der Sechstbeschwerdeführerin gegen den zweiten Bescheid bzgl. Bau-Nr 5541 nicht zu beanstanden.

9. Gegen diese Entscheidung richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art7 B-VG und Art2 StGG sowie auf ein faires Verfahren und Waffengleichheit für alle Parteien gemäß Art6 EMRK sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung, nämlich des Bebauungsplanes der Grundstufe für den Bereich "Schinking", geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt werden.

10. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof am 10. Dezember 2020 gemäß Art139 Abs1 Z2 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit der 1. Abänderung sowie Anpassung an das Salzburger Raumordnungsgesetz 2009 des Bebauungsplanes der Grundstufe für den Bereich "Schinking", beschlossen vom Bau- und Raumordnungsausschuss der Stadtgemeinde Saalfelden am 17. Juni 2015 (laut Kundmachung aber beschlossen von der Gemeindevertretung der Stadtgemeinde Saalfelden am 29. Juni 2015) und kundgemacht durch öffentlichen Anschlag von 7. bis 21. Juli 2015, ein.

11. Mit Erkenntnis vom 14. Juni 2021, V6/2021, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass der Bebauungsplan der Grundstufe für den Bereich "Schinking", beschlossen vom Bau- und Raumordnungsausschuss der Stadtgemeinde Saalfelden am 17. Juni 2015, kundgemacht von 7. bis 21. Juli 2015, gesetzwidrig war.

12. Die ? zulässige ? Beschwerde ist begründet.

Das Landesverwaltungsgericht Tirol hat eine gesetzwidrige Verordnung angewendet. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war. Die Beschwerdeführer wurden sohin durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.303/1984, 10.515/1985).

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

13. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

14. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,42 sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

VfGH / Anlassfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E4572.2019

Zuletzt aktualisiert am

21.09.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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