RS Vfgh 2021/6/24 V131/2021

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Veröffentlicht am 24.06.2021
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art139 Abs1 Z3
EMRK Art8
EMRK 4. ZP Art2
EU-Grundrechte-Charta Art3
StGG Art2
StGG Art4
Tir LandesO 1989 Art31
EpidemieG 1950 §24, §43a
COVID-19-AusreiseV des Bezirkshauptmanns von Kufstein vom 29.03.2021
VfGG §7 Abs1, §57 Abs1

Leitsatz

Kein Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit durch das Verbot des Verlassens von Teilen Tirols (Bezirk Kufstein) auf Grund der COVID-19-MaßnahmenV wegen der dort verbreiteten (Britischen) COVID-19-Virusvariante B.1.1.7/E484K; Verkehrsbeschränkung zur Verhinderung der Verbreitung der Virusvariante zum Schutz von Personen außerhalb des Epidemiegebietes "unbedingt erforderlich" und innerhalb des Ermächtigungsumfangs des EpidemieG 1950; Zuständigkeit des Bezirkshauptmanns zur Erlassung der Ausreiseverordnung als "zusätzliche Maßnahme" zu der vom Landeshauptmann erlassenen verkehrsbeschränkenden Verordnung; Sachlichkeit und Zumutbarkeit des Nachweises eines negativen Testergebnisses auch für genesene und geimpfte Personen

Rechtssatz

Abweisung eines Individualantrags auf Aufhebung der Verordnung der BH Kufstein vom 29.03.2021 über zusätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung der COVID-19-Virusvariante B.1.1.7/E484K betreffend die Ausreise aus dem politischen Bezirk Kufstein, Bote für Tirol 118/2021, KU-INF-309/788-2021, (Ausreiseverordnung).

Zuständigkeit zur Erlassung der Ausreiseverordnung:

Der Bezirkshauptmann des politischen Bezirks Kufstein war zum Erlass der angefochtenen Verordnung gemäß §43a Abs3 EpiG zuständig. Gemäß §43a Abs3 EpiG können Bezirksverwaltungsbehörden "zusätzliche Maßnahmen" zu einer Verordnung des Landeshauptmannes (bzw des für das Gesundheitswesen zuständigen Bundesministers) nach dem Epidemiegesetz 1950 betreffend COVID-19 vorsehen. Bei der angefochtenen Verordnung des Bezirkshauptmannes des politischen Bezirks Kufstein handelt es sich um eine zusätzliche Maßnahme zu der in der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol von 29.03.2021, LGBl 51/2021, vorgesehenen Verkehrsbeschränkung. Die angefochtene Verordnung sollte durch die Beschränkung der Ausreise aus dem politischen Bezirk Kufstein die (Weiter-) Verbreitung von COVID-19 (bzw der Virusmutationen) über die Bezirksgrenze hinweg, sprich in den Rest des Bundeslandes Tirol hintanhalten. Aus diesem Grund sah der Bezirkshauptmann des politischen Bezirks Kufstein die Pflicht zum Nachweis eines negativen Testergebnisses auf COVID-19 bei Überschreiten der Grenzen des Bezirks Kufstein für dort wohnhafte bzw aufhältige Personen vor. Demgegenüber zielte die genannte Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol auf die Verhinderung der Weiterverbreitung der Krankheit über die Landesgrenzen hinaus ab. Der Umstand, dass sich die Bezirksgrenzen des politischen Bezirks Kufstein teilweise mit den Landesgrenzen Tirols überschneiden, ändert nichts an der Einordnung der angefochtenen Verordnung als "zusätzliche Maßnahme" iSd §43a Abs3 EpiG.

Kein Verstoß des §43a EpiG gegen das Bestimmtheitsgebot nach Art18 B-VG:

Die Zuständigkeit zum Erlass einer Verordnung nach dem Epidemiegesetz 1950 betreffend COVID-19 in §43a Abs1 bis Abs3 EpiG ist ausreichend bestimmt geregelt: Gemäß §43a Abs1 EpiG ist eine Verordnung nach §24 EpiG (primär) von dem für das Gesundheitswesen zuständigen Bundesminister zu erlassen. Der Landeshauptmann kann eine Verordnung nach §24 EpiG erlassen, wenn der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister keine solche Verordnung erlassen hat oder zusätzliche Maßnahmen zu einer Verordnung festgelegt werden. Die Bezirksverwaltungsbehörde kann eine Verordnung nach dem Epidemiegesetz 1950 betreffend COVID-19 erlassen, wenn weder der für das Gesundheitswesen zuständige Bundesminister noch der Landeshauptmann eine Verordnung erlassen hat oder zusätzliche Maßnahmen zu einer Verordnung festgelegt werden.

Hat sohin der Landeshauptmann eine Verkehrsbeschränkung (wie in der vorliegenden Konstellation) gemäß §24 EpiG für das Bundesland Tirol erlassen, kommt der Bezirksverwaltungsbehörde (nur mehr) die Zuständigkeit zur Verhängung zusätzlicher Maßnahmen zur bestehenden Verordnung des Landeshauptmannes für Tirol gemäß §43a Abs3 EpiG zu. Die Verkehrsbeschränkung der Bezirksverwaltungsbehörde nach §24 EpiG besteht als zusätzliche Maßnahme gemäß §43a Abs3 EpiG neben der Verkehrsbeschränkung des Landeshauptmannes. Bei einer "zusätzlichen Maßnahme" iSd §43a Abs3 EpiG kann es sich - dem Wortlaut und dem Telos der Regelung entsprechend - nur um eine über die vom Landeshauptmann nach §43a Abs2 EpiG getroffene Regelung hinausgehende Maßnahme handeln. Der Begriff der "zusätzlichen Maßnahme" in §43a Abs3 EpiG ist daher den Anforderungen des Art18 Abs1 B-VG entsprechend hinreichend bestimmt.

Kein Verstoß gegen §24 EpiG idF BGBl I 33/2021 und das Recht auf Freizügigkeit:

Die Frage, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen ihre gesetzliche Grundlage in §24 EpiG idF BGBl I 33/2021 finden, ist im Lichte des Art4 Abs1 StGG und Art2 4. ZPEMRK zu beurteilen, wonach Verkehrsbeschränkungen zum Schutz vor der Weiterverbreitung einer meldepflichtigen Krankheit nur vorgesehen werden dürfen, soweit sie im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens der Krankheit "unbedingt erforderlich" sind.

Bei der Virusvariante B.1.1.7/E484K handelt es sich um eine neue, später aufgetretene Mutation der neuartigen COVID-19-Krankheit. Da es sich nach unbestrittener Auffassung bei den Mutationen von COVID-19 nicht um eigenständige, sondern von der Bezeichnung "2019-nCoV" umfasste Krankheiten handelt, handelt es sich auch bei der COVID-19-Virusvariante B.1.1.7/E484K - anders als der Antragsteller meint - um eine meldepflichtige Krankheit iSd §24 iVm §1 EpiG idF BGBl I 33/2021.

Aus dem Verordnungsakt und der erstatteten Äußerung geht hervor, dass zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Verordnung von einer zunehmenden Verbreitung der COVID-19-Virusmutation B.1.1.7 samt der "Fluchtvariante E484K" im politischen Bezirk Kufstein auszugehen war (sogenannte "britische" Virusmutation). Der Bezirkshauptmann des politischen Bezirks Kufstein stufte die Virusmutation B.1.1.7/E484K als besonders gefährlich ein, weil diese Variante von COVID-19 als erhöht ansteckend galt und auch Personen betreffen könne, die über Antikörper gegen die "Wildtyp-Variante" von COVID-19 aufwiesen. Unter Berücksichtigung der im Verordnungsakt dokumentierten Analysen der Tiroler Landessanitätsdirektion zum Stand 29.03.2021 über ein mögliches Infektionsgeschehen im Bundesland Tirol einerseits und in den jeweiligen Bezirken andererseits sowie der Auslastung der Intensivstationen im Bezirkskrankenhaus Kufstein erachtete der Bezirkshauptmann für den politischen Bezirk Kufstein die Verhängung zusätzlicher Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung der COVID-19-Virusvariante B.1.1.7/E484K für notwendig.

Die angefochtene Verkehrsbeschränkung bei der Ausreise aus dem Bezirk Kufstein diente dem Ziel des Gesundheitsschutzes, nämlich der Verhinderung der Weiterverbreitung von COVID-19, insbesondere der Virusvariante B.1.1.7/E484K, iSd Art2 Abs3 4. ZPEMRK. Der in §2 Ausreiseverordnung für die Überschreitung der Grenzen des politischen Bezirks Kufstein verlangte Nachweis eines negativen Ergebnisses eines Antigen-Tests oder eines molekularbiologischen Tests auf COVID-19, der nicht mehr als 48 bzw 72 Stunden zurückliegen durfte, ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet: Der VfGH geht davon aus, dass der in §2 Ausreiseverordnung verlangte Nachweis des Infektionsstatus anhand eines hinreichend aktuellen Testergebnisses einer hiezu befugten Stelle ein geeignetes Mittel ist, um die Ausreise von mit COVID-19 infizierten Personen hintanzuhalten und damit die Weiterverbreitung des Virus einzudämmen. Dass die verlangten Antigen- bzw molekularbiologischen Tests auf COVID-19 in Einzelfällen auch bei infizierten Personen ein negatives Testergebnis ausweisen könnten, ändert nichts daran, dass der Verordnungsgeber von der allgemeinen Zuverlässigkeit von durch eine hiezu befugten Stelle durchgeführten Antigen- bzw molekularbiologischen Tests ausgehen durfte. Gleiches gilt für die vorgesehenen Ausnahmen von der Nachweispflicht eines negativen Testergebnisses bei der Ausreise aus dem politischen Bezirk Kufstein: Die in §3 Ausreiseverordnung aufgelisteten Ausnahmetatbestände von der Nachweispflicht eines gültigen negativen Testergebnisses auf COVID-19 bei der Ausreise aus dem politischen Bezirk Kufstein stellen allesamt auf den dringenden Bedarf der Überschreitung der Bezirksgrenzen bzw die Aufrechterhaltung der Versorgung des betroffenen (Epidemie-)Gebietes ab. Die im Übrigen geltende Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen Nachweises des negativen Infektionsstatus bei der Ausreise ist auch im Hinblick auf die in §3 Ausreiseverordnung bestimmten Ausnahmen geeignet, die Weiterverbreitung von COVID-19 (bzw der Virusmutation B.1.1.7/E484K) über die Grenzen des politischen Bezirks Kufstein einzudämmen.

Zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung und während der Geltungsdauer der angefochtenen Ausreiseverordnung war von einem erhöhten Auftreten der Virusmutation B.1.1.7/E484K im politischen Bezirk Kufstein auszugehen. Die mit der "Testpflicht" für die Ausreise gemäß §2 Ausreiseverordnung verbundene Einschränkung der Freizügigkeit der im umfassten Gebiet wohnhaften bzw aufhältigen Personen ist im Lichte des verfolgten Ziels der Verhinderung der Weiterverbreitung dieser Virusmutation verhältnismäßig. Zunächst handelt es sich bei der in §2 Ausreiseverordnung vorgesehenen Verpflichtung zum Nachweis eines negativen Testergebnisses auf COVID-19 bei der Ausreise aus dem politischen Bezirk Kufstein um keinen schwerwiegenden Eingriff in Art4 Abs1 StGG und Art2 Abs1 4. ZPEMRK, zumal die Bewegungsfreiheit für Bewohner bzw Aufhältige innerhalb des Bezirks von der Ausreisebeschränkung unberührt blieb. Der gemäß §2 Ausreiseverordnung für die Ausreise verlangte Nachweis eines negativen Antigen- bzw molekularbiologischen Testergebnisses auf COVID-19 ist im Hinblick auf die Verfügbarkeit solcher Tests, die angewendeten (Test-)Verfahren, die Dauer der Gültigkeit des Nachweises über das negative Testergebnis und die Ausnahmetatbestände in §3 Ausreiseverordnung gerechtfertigt.

Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz:

Zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung war von einer reduzierten Immunantwort nach Infektion mit der "Wildtyp-Variante" von COVID-19 bzw Impfung im Hinblick auf die Virusmutation B.1.1.7/E484K auszugehen. Vor diesem Hintergrund war es sachlich gerechtfertigt, auch von genesenen oder bereits gegen COVID-19 geimpften Personen einen Nachweis eines negativen Testergebnisses gemäß §2 Ausreiseverordnung zu verlangen.

Kein Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art3 GRC:

Ungeachtet der Frage, ob der Anwendungsbereich des Art3 GRC im konkreten Fall überhaupt eröffnet ist, ist dem Vorbringen des Antragstellers (auch im Hinblick auf Art8 EMRK) bereits deshalb nicht zu folgen, weil die mit einem Antigen- oder molekularbiologischen Test auf COVID-19 in der Regel verbundene Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit im Hinblick auf das verfolgte Ziel gerechtfertigt ist. Der Verordnungsgeber verhängte die angefochtene "Testpflicht" als Bedingung für die Ausreise aus dem politischen Bezirk Kufstein zum Schutz der Gesundheit anderer, in concreto zum Schutz vor einer Infektion mit COVID-19 bzw bestimmter Virusmutationen. Nach Auffassung des VfGH überwiegt der Gesundheitsschutz die seitens des Antragstellers unter Art3 GRC ins Treffen geführten Interessen.

Kein Verstoß des §2 Ausreiseverordnung gegen Art31 Abs1 Tiroler Landesordnung 1989:

Im verlangten Nachweis eines gültigen negativen Testergebnisses im Hinblick auf COVID-19 für die Ausreise aus dem Bezirk Kufstein vermag der VfGH - auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit des vorgesehenen Test(verfahren)s - keinen Verstoß gegen Art31 Abs1 Tiroler Landesordnung 1989 zu sehen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), Verordnung, Zuständigkeit, Geltungsbereich (örtlicher) einer Verordnung, Recht auf Freizügigkeit, Verhältnismäßigkeit, VfGH / Individualantrag, Rechtsstaatsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V131.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.09.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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