TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/2 Ra 2020/19/0240

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Veröffentlicht am 02.09.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §35 Abs2
AsylG 2005 §35 Abs4 Z3
AsylG 2005 §35 Abs5
AsylG 2005 §60 Abs2 Z1
AsylG 2005 §60 Abs2 Z2
AsylG 2005 §60 Abs2 Z3
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
MRK Art8
NAG 2005 §46
VwRallg

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2020/19/0241
Ra 2020/19/0242

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. der G N T, 2. der B Z T, und 3. der B A T, alle vertreten durch MMag. Dr. Bernt Elsner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Gauermanngasse 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 2020, 1. W161 2227684-1/3E, 2. W161 2227683-1/3E und 3. W161 2227682-1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Islamabad), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerberinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberinnen sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweit- und Drittrevisionswerberin.

2        Die Revisionswerberinnen stellten am 4. Februar 2019 bei der Österreichischen Botschaft Islamabad (im Folgenden: Vertretungsbehörde) Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Bezugsperson gaben sie ihren Ehemann bzw. Vater, ebenfalls ein afghanischer Staatsangehöriger, an, welchem mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. November 2015 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei.

3        Nach einer negativen Wahrscheinlichkeitsprognose des BFA im Sinne des § 35 Abs. 4 AsylG 2005, die mit dem mangelnden Nachweis der Erteilungsvoraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005, der fehlenden Notwendigkeit der Einreise der Revisionswerberinnen zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK und dem Nichtbestehen der Ehe zwischen der Erstrevisionswerberin und der Bezugsperson vor deren Einreise in Österreich begründet wurde, wies die Vertretungsbehörde mit Bescheid vom 7. Oktober 2019 die Anträge der Revisionswerberinnen ab.

4        Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Revisionswerberinnen wies die Vertretungsbehörde mit Beschwerdevorentscheidung vom 26. November 2019 ab.

5        Auf Grund von Vorlageanträgen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde der Revisionswerberinnen als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6        Das BVwG stellte, soweit hier maßgeblich, fest, die Bezugsperson verfüge über kein eigenes Einkommen, sondern lebe von der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Zwischen der Bezugsperson und den Revisionswerberinnen bestehe seit fünfeinhalb Jahren kein persönlicher Kontakt mehr. Die Bezugsperson sei während der Dauer des Verfahrens an verschiedenen Adressen gemeldet gewesen. Die Revisionswerberinnen hätten keinen aktuellen Nachweis über eine ausreichende Unterkunft der Bezugsperson vorgelegt.

7        Rechtlich folgerte das BVwG, die Revisionswerberinnen hätten die Erteilungsvoraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 und 3 AsylG 2005 nicht erfüllt. Die Bezugsperson verfüge über gar kein Einkommen, sondern beziehe lediglich bedarfsorientierte Mindestsicherung. Es stehe somit fest, dass der Aufenthalt der Revisionswerberinnen zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Über die aktuell von der Bezugsperson bewohnte Wohnung sei kein Mietvertrag oder eine andere Nutzungsvereinbarung vorgelegt worden, aus der die Größe der Wohnung und die Anzahl der dort gemeldeten Personen hervorgehe.

8        Die Stattgebung der Anträge sei auch nicht im Sinne des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten. Art. 8 EMRK gewähre kein Recht auf Einreise oder auf Zuwanderung in ein bestimmtes Land. Die Revisionswerberinnen hätten zwei von drei Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AsylG 2005 nicht erfüllt. Die Einreise der Revisionswerberinnen, eine dreiköpfige Familie, würde angesichts der Minderjährigkeit der Zweit- und der Drittrevisionswerberinnen zu einer nicht nur vorübergehenden erheblichen finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen. Eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer Einhaltung fremdenrechtlicher Bestimmungen und der Vermeidung finanzieller Belastungen einer Gebietskörperschaft einerseits und des persönlichen Interesses der Revisionswerberinnen an einer Fortsetzung des Familienlebens in Österreich andererseits falle zu deren Lasten aus. Besondere Umstände, weshalb das Recht auf Familienleben im gegenständlichen Fall schwerer wiegen sollte als das öffentliche Interesse, seien nicht dargetan worden.

9        Die Ausnahmebestimmung des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 sei nicht immer schon dann erfüllt, wenn der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK eröffnet sei, zumal das Bestehen eines Familienlebens im Regelfall Voraussetzung für die Familienangehörigeneigenschaft nach § 35 Abs. 5 AsylG 2005 sei. Selbst wenn die Familienzusammenführung unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK geboten sein sollte, hätte der Gesetzgeber nicht jedem Angehörigen eines Asylberechtigten ebenfalls internationalen Schutz einräumen wollen. Vielmehr ermögliche § 46 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für den Regelfall der Familienzusammenführung die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen Familienangehörigen (Verweis auf Abs. 1 Z 2 lit. c leg. cit.). Nur wenn ausnahmsweise eine Familienzusammenführung im Grunde des § 46 NAG nicht hinreiche, sondern Art. 8 EMRK für den Familienangehörigen internationalen Schutz gebiete, komme die Ausnahmebestimmung des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zum Tragen. Eine solche Ausnahmesituation sei im vorliegenden Fall weder dargetan worden, noch für das BVwG, auch nicht unter dem Blickwinkel des Kindeswohles, ersichtlich.

10       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, welche das Verwaltungsgericht unter Anschluss der Verfahrensakten vorlegte. Die Vertretungsbehörde als belangte Behörde verzichtete auf eine Revisionsbeantwortung.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, dass eine Familienzusammenführung über das NAG nur in jenen Fällen in Betracht kommt, in denen den nachziehenden Familienangehörigen nach Einreise ins Bundesgebiet ein Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 nicht offensteht. Sie ist auch begründet.

13       Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 31. Mai 2021, Ra 2020/01/0284, auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ausgeführt, dass der Gesetzgeber auch die Familienzusammenführung für Familienangehörige von subsidiär Schutzberechtigten nicht im Rahmen des NAG, sondern über das AsylG 2005 regeln wollte. Für die Frage, ob im Fall der Antragstellung nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 von der Erfüllung der Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 aus Gründen des Art. 8 EMRK abzusehen ist, sind daher - anders als es das BVwG vermeint - keine Erwägungen betreffend die Möglichkeiten einer Familienzusammenführung nach dem NAG anzustellen (Rn 24, 26).

14       Im genannten Erkenntnis Ra 2020/01/0284 hat der Verwaltungsgerichtshof zur Interessenabwägung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 mit näherer Begründung dargelegt, dass der Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 (im Rahmen der nach dem Gesetz vorzunehmenden Gesamtabwägung) unter anderem voraussetzt, dass eine aus den Gründen, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz an die Bezugsperson geführt haben, bedingte Trennung der Familie vorliegt, der Nachzug das einzige Mittel darstellt, um das Familienleben wiederaufzunehmen und das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens nie in Frage stand. Nur dann liegt ein besonders gelagerter Fall iSd § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vor, in dem „die Stattgebung des Antrages ... gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten“ ist (Rn 32).

15       Demnach setzt eine gesamtheitliche Abwägung der im Sinne von Art. 8 EMRK maßgeblichen Interessen im Rahmen der Beurteilung der Erteilungsvoraussetzung nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 hinreichende Feststellungen zum Familienleben der subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson und seinen die Erteilung eines Einreisetitels gemäß § 35 Abs. 2 AsylG 2005 beantragenden Familienangehörigen nach Abs. 5 leg. cit. vor deren Trennung, zu den Gründen der Trennung sowie zum Kontakt zwischen Antragsteller und Bezugsperson nach der Trennung voraus (Rn 35; vgl. Rn 34 zur Berücksichtigung des Kindeswohles).

16       Hingegen sind die Gründe für die Nichterfüllung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 für die Beurteilung, ob gemäß § 35 Abs. 4 Z 3 letzter Halbsatz AsylG 2005 die Erteilung eines Einreisetitels nach § 35 Abs. 2 AsylG 2005 gemäß § 9 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist, nicht wesentlich und daher im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nicht zu berücksichtigen (Rn 39).

17       Im Revisionsfall hat das BVwG die nach § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 vorzunehmende Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK auf Grund der Berücksichtigung der für die Revisionswerberinnen als Familienangehörige eines subsidiär Schutzberechtigten nicht in Betracht kommenden Möglichkeit einer Familienzusammenführung nach dem NAG in unvertretbarer Weise vorgenommen und sein Erkenntnis dadurch mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Darüber hinaus fehlen auch die für die Interessenabwägung erforderlichen Feststellungen zum Familienleben der Bezugsperson mit den Revisionswerberinnen vor deren Trennung, zu den Gründen der Trennung und dem tatsächlichen Bestehen eines Familienlebens durch Kontakte nach der Trennung (vgl. VwGH Ra 2020/01/0284, Rn 40 f).

18       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

19       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

20       Von einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 2. September 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190240.L00

Im RIS seit

23.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.09.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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