Entscheidungsdatum
02.06.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W159 2227737-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.12.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.04.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 Abs. 1 Asylg 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger von Afghanistan, gelangte (spätestens) am 26.08.2019 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung durch die XXXX , gab er an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, zu der Volksgruppe der Hazara zugehörig und sunnitischen islamischen Glaubens. Zu den Fluchtgründen gab er an, dass vor einem Jahr zwei Onkel ms. gewollt hätten, dass er sich einer ihm nicht bekannten terroristischen Gruppe anschließe. Sie hätten die Mutter für diesen Zweck mit 4000 US$ bezahlt. Die Mutter des Beschwerdeführers und er hätten es jedoch nicht gewollt, weswegen er geflüchtet sei.
Das beauftragte medizinische Sachverständigengutachten zur Feststellung eines absoluten Mindestalters zum Antragszeitpunkt stellte am 24.09.2019 aufgrund der durchgeführten Untersuchungen fest, dass der Beschwerdeführer mindestens 18,42 Jahre bei der Asylantragstellung gewesen sei.
Am 15.11.2019 erfolgte eine Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Wien, bei welcher der Beschwerdeführer durch die MA11 vertreten wurde. Der Beschwerdeführer stellte befragt seine Glaubensrichtung schiitischer statt sunnitischer Moslem richtig.
Der Beschwerdeführer gab an, er heiße XXXX , sei am XXXX in Afghanistan, in der Provinz Parwan geboren worden und in dem XXXX aufgewachsen. Er habe in Kabul seit seiner Kindheit bis zur Ausreise gelebt. Die belangte Behörde hielt dem Beschwerdeführer vor, dass mit Verfahrensanordnung vom 02.10.2019 festgestellt worden sei, dass das spätmöglichste Geburtsdatum der XXXX sei. In der Erstbefragung sei seitens des Beschwerdeführers angegeben worden, dass er 16 Jahre alt wäre, jedoch würde sich das nicht mit dem angeführten Geburtsdatum XXXX , umgerechnet XXXX decken. Der Beschwerdeführer gab an, seine Mutter hätte sein Geburtsdatum im Koran aufgeschrieben. Der Arzt habe ein anderes Geburtsdatum festgestellt. Es könnten keine identitätsbezeugende Dokumente in Vorlage gebracht werden. Der Beschwerdeführer gab weiters an, es könnten die Daten/Angaben der Erstbefragung vom 26.08.2019 als Basis für die Einvernahme genutzt werden.
Es wurden die Anmeldebestätigung zum Deutschkurs Intensiv Grundstufe A1.2 vom 14.11.2019, ein Empfehlungsschreiben vom 14.11.2019 des XXXX sowie ein Empfehlungsschreiben vom 14.11.2019 von Herrn XXXX vorgelegt.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, er sei afghanischer Staatsangehöriger, der Volksgruppe der Hazara zugehörig und schiitischer Moslem. Er sei gläubig, er würde zweimal täglich beten, er hätte jedoch keinen Kontakt zu islamischen, radikalen oder extremistischen Gruppierungen. Er habe die Grundschule für sechs Jahre in Kabul besucht. Danach habe er keine weiteren Ausbildungen in Afghanistan erhalten. Seine Mutter hätte als Reinigungskraft gearbeitet und für seinen Lebensunterhalt gesorgt. Er selbst hätte auf Baustellen gejobbt.
Befragt gab er an, dass er keinen Kontakt nach Afghanistan hätte und keinen Kontakt aufnehmen könnte, jedoch das Verhältnis zu seinem im Bundesgebiet lebenden Halbbruder sei gut. Es würden seine Mutter und auch zwei Onkel ms. in Afghanistan leben, sein Vater sei verstorben. Seine Onkel würden XXXX und XXXX heißen, sie würden traditionelle afghanische Kleidung tragen und Luxusautos fahren. Beide würden für die Regierung und gleichzeitig gegen die Regierung arbeiten. Zu den Fluchtgründen gefragt, gab er an, dass sein Onkel zu seiner Mutter gesagt hätte, der Beschwerdeführer solle in den Dschihat ziehen. Die Mutter habe diese Aussagen nicht ernst genommen. Eines Tages sei der Onkel, währen der Beschwerdeführer in der Arbeit gewesen sei, zur Mutter gekommen und habe ihr 4.000 US$ gegeben und ihr gesagt, er würde den Beschwerdeführer am Folgetag abholen. Er habe der Mutter mit der Steinung des Beschwerdeführers gedroht, sollte dieser nicht in den Jihad ziehen. Der Onkel habe der Mutter ein Photo mit einem jüngeren Kind gezeigt und ihr gesagt, dieser Junge würde am Jihad teilnehmen. Auf diesem Foto seien alle schwarz gekleidet und bewaffnet gewesen. Die Mutter des Beschwerdeführers habe vermutet, dass es sich um Mitglieder der ISIS handeln würde. Die Mutter habe gedacht, dass das Leben des Beschwerdeführers in Gefahr sei und so sei der Beschwerdeführer ausgereist.
In der Stellungnahme vom 06.12.2019, eingebracht durch die gesetzliche Vertretung des Beschwerdeführers, wurde ersucht den Namen auf XXXX zu korregieren. Man möge auch von dem Geburtsdatum ausgehen, welches der Beschwerdeführer angegeben habe, umgerechnet der XXXX , denn in der Literatur würden umfangreiche Zweifel an der Genauigkeit und Zuverlässigkeit von Altersfeststellungen vorgebracht werden. Weiters wurde das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers erneut dargelegt und auf kinderspezifische Standards im Asylverfahren verwiesen. Es wurde auf einschlägige Länderinformationen, insbesondere in Zusammenhang mit „Turkmani Hazara“, Kinder(zwangs-)rekrutierungen sowie zur allgemeinen Lage in Afghanistan hingewiesen.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 11.12.2019, Zl. XXXX wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz vom 25.08.2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, jedoch unter Spruchteil II. der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und unter Spruchteil III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 11.12.2020 erteilt.
Als Beweismittel wurde der gesamte Inhalt des Asylaktes IFA 1243373403, die Einsichtnahme in den Asylakt des Bruders des Beschwerdeführers XXXX , XXXX , XXXX , die Protokolle der niederschriftlichen Einvernahmen, aktuelle Länderfeststellungen zum Herkunftstaat Afghanistan, EKIS-Auszug, ZMR-Auskunft, GVS-Auskunft, Strafregisterauskunft herangezogen.
In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang einschließlich der oben bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und Feststellungen zur Person und zum Herkunftsstaat getroffen. Beweiswürdigend wurde insbesondere ausgeführt, dass hinsichtlich der behaupteten Bedrohung dem Vorbringen kein Glauben habe geschenkt werden können, weil der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen sei, die Fluchtgründe und die Rahmenumstände konkret und detailliert zu schildern. Der Beschwerdeführer habe lediglich die Eckpunkte einer Rahmengeschichte, ohne diese durch die Präsentationen spezifischer detaillierter Angaben anzureichern, erzählt. Die Eckpunkte seien im Wesentlichen die Rekrutierungsversuche seines Onkels für den Jihad gewesen.
Zu Spruchpunkt I. wurde insbesondere ausgeführt, dass aufgrund des Umstandes, dass dem Vorbringen die Glaubwürdigkeit abzusprechen gewesen sei, keine Asylgewährung habe erfolgen können. Auch könne weder aus jedem Rekrutierungsversuch der Taliban noch aus der allgemeinen Lage in Afghanistan eine Asylgewährung abgeleitet werden. Zu Spruchpunkt II. wurde angeführt, dass aus den Länderfeststellungen zu Afghanistan hervorgehe, dass sich die aktuelle Situation gegenüber den letzten Jahren zwar verbessert habe, dennoch die Lage nach wie vor weder sicher noch stabil sei. Bezüglich der Versorgungslage und der allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung sei anzumerken, dass die Verwirklichung von grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen in Afghanistan häufig nur sehr eingeschränkt möglich sei. Der Beschwerdeführer sei einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK aufgrund der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers ausgesetzt. Im Spruchpunkt III. war eine befristete Aufenthaltsberechtigung, vorerst für die Dauer von einem Jahr, zu gewähren.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch Stadt Wien Kinder- und Jugendhilfe, Gruppe Recht, Referat Asylvertretung fristgerecht gegen Spruchpunkt I. Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In der Begründung wurde das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers erneut dargelegt. Der Beschwerdeführer würde sich wegen Verstoß gegen §§ 3 AsylG in Folge von mangelhafter Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung, sowie wegen Verletzung von verfahrensrechtlichen Vorschriften, bei deren Beachtung die belangte Behörde gewähren hätte müssen, in seinen Rechten verletzt fühlen.
Zur Altersfeststellung wurde konkret vorgebracht:
Es sei noch einmal darauf zu verweisen, dass der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben am XXXX geboren worden ist. Es darf erneut auf die umfangreichen Zweifel an der Genauigkeit und Zuverlässigkeit von Altersfeststellungen hingewiesen werden. Das deutsche Ärzteblatt führte aus, dass nach der aktuellen Studienlage aus der Untersuchung keine gesicherten Aussagen zur Klärung der Volljährigkeit abzuleiten sind. § 13 Abs. 3 letzter Satz BFA-VG legt im Asylverfahren den Grundsatz fest, dass im Zweifel von der Minderjährigkeit auszugehen ist. Es wird zudem auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 16. Aprul 2007, Zl. 2005/01/0463 hingewiesen, welches ausführt, „… dass auch nach Einholung eines Sachverständigengutachtens im Einzelfall über das Alter (Volljährigkeit oder Minderjährigkeit) eines Asylwerbers nicht hinreichend gesicherte Aussagen bzw. eine Aussagesicherheit nur innerhalb einer Bandbreite möglich sind. In einem solchen Zweifelsfall wäre dann von dem vom Asylwerber angegebenen Geburtsdatum (Alter) auszugehen.“ (vgl. VwGH jeweils vom 17. März 2011, Zl. 2008/01/0364 und Zl. 2008/01/0479). Auch sieht die zitierte Bestimmung keinerlei rechtliche Grundlage für eine Altersfeststellung innerhalb der Minderjährigkeit vor. Eine solche soll alleine dazu dienen, zwischen Minderjärhigkeit und Volljährigkeit zu unterscheiden. Das Vorgehen der Behörde dagegen, ist nicht vom Wortlauf des BFA-VG gedeckt.“
Die belangte Behörde hätte sich nicht mit den entsprechenden Verpflichtungen bezüglich unbegleiteter Minderjähriger auseinandergesetzt. Die UNHCR-Richtlinien zum internationalen Schutz betreffend Asylanträge von Kindern würden hiezu feststellen, dass von Kindern grundsätzlich nicht erwartet werden könne, dass sie Erfahrungen wie Erwachsene schildern und es ihnen aus unterschiedlichstne Gründen schwerfallen könne, ihre Angst zu artikulieren.
Mit 30.01.2020 wurde durch die belangte Behörde der Obsorgebeschluss des Bezirksgerichts XXXX nachgereicht.
Die XXXX , übermittelte am 23.03.2021 eine Vollmacht für den Beschwerdeführer XXXX , in welcher begründend angegeben wurde, dass der Beschwerdeführer durchgehend seit seiner Ankunft in Österreich angegeben hätte, dass er am XXXX geboren worden wäre. Diese Vollmacht würde auch eine Zustellvollmacht umfassen.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung am 07.04.2021 an. Der Beschwerdeführer erschien in Begleitung seines ausgewiesenen Vertreters. Der Behördenvertreter ist entschuldigt nicht erschienen. Der Beschwerdeführer gab an, er halte seine Beschwerde und das Vorbringen aufrecht. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass sein Name falsch geschrieben worden sei, er heiße richtig XXXX . Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und schiitischer Moslem. Er würde aus der Ortschaft XXXX , in der Provinz Parwan stammen. Zu seiner Religion befragt gab er an, er würde das Gebet nicht mehr verrichten, hätte sich jedoch nicht vom Islam losgesagt. Befrag gab er an, er sei in der XXXX , in der Provinz Parwan, am XXXX geboren worden. Seine Mutter habe das Datum auf dem Deckblatt des Koran niedergeschrieben. Seine Kindheit habe er in der XXXX verbracht, aufgewachsen sei er in Kabul. Er sei auch in Pakistan gewesen, er wisse es nicht genau wann, er sei zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein gewesen. Befragt gab der Beschwerdeführer weiter an, er habe sechs Jahre die Grundschule besucht. XXXX habe seine Schule, in der Stadt Kabul geheißen. Seine Mutter sei in Afghanistan, sein Vater sei verstorben, als der Beschwerdeführer noch sehr klein gewesen sei. Er habe die Mutter zum Tod des Vaters befragt, jedoch sie habe nie etwas Genaueres gesagt. Sie habe es ihm verheimlicht. Seine Mutter habe nicht wieder geheiratet. Sein Halbbruder würde in Wien leben, sie hätten den gleichen Vater, jedoch eine andere Mutter.
Der Beschwerdeführer beantwortete die Frage des Richters, dass seine Mutter für seinen Lebensunterhalt gesorgt habe. Er hätte auch ein wenig gearbeitet, nach dem Besuch der sechsten Klasse der Schule. Er habe als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet. Seine Mutter hätte als Reinigungskraft den Lebensunterhalt verdient. Befragt zu seinen Verwandten in Afghanistan, gab der Beschwerdeführer an, er habe nur 2 Onkel ms. in Afghanistan. Diese seien der Grund, warum der Beschwerdeführer aus Afghanistan geflüchtet sei. Seine Onkel würden mit Vornamen XXXX und XXXX heißen, den Nachnamen würde der Beschwerdeführer nicht kennen. Er gab an, er glaube, dass XXXX über 40 Jahre alt sei. Wie alt XXXX sei, wisse er nicht. Er würde auch den Beruf, den seine Onkel ausüben, nicht kennen. Er wisse nur, dass sie für die Behörden gearbeitet hätten und dann auch gegen die Regierung gewesen seien. Seine Onkel seien auch Hazara. Befragt gab der Beschwerdeführer weiter an, er wisse nicht bei welcher bewaffneten Organsiation oder bei welcher Behörde sie gearbeitet hätten. Der Richter erkundigte sich, ob dem Beschwerdeführer der Name Fatemiyoun Division etwas sagen würde. Der Beschwerdeführer antwortete, er glaube, es sei eine terroristische Gruppierung. Er wisse nicht genau, ob die Onkel bei dieser terroristischen Gruppierung gewesen seien.
„R: Vorhalt: Bei der Fatemiyoun Division handelt es sich um eine schiitische Organisation, die im Iran vor allem schiitische Afghanen für den Krieg in Syrien rekrutiert. Wollen Sie dazu etwas sagen?
BF: Ich weiß nicht genau, ob meine Onkel Mitglieder dieser Gruppierung waren.
R: Hätten Sie in den Krieg nach Syrien geschickt werden sollen?
BF: Nein. Genau weiß ich es nicht.
R: Wurden Sie je von Ihren Onkeln persönlich wegen Mitwirkung am Jihad angesprochen?
BF: Mit mir haben sie nicht gesprochen, aber mit meiner Mutter. 1 Tag vor meiner Abreise waren sie bei meiner Mutter und haben mit ihr darüber gesprochen.
R: Haben sie vorher schon mit Ihrer Mutter über eine Rekrutierung für den Jihad gesprochen?
BF: Ja. Sie hatten es meiner Mutter schon gesagt, aber meine Mutter hat es nicht ernst genommen.
R: Wie oft haben Sie mit Ihrer Mutter über dieses Thema gesprochen?
BF: Genau weiß ich es nicht. Ob es 2x, 4x oder wie oft es war.
R: Wie hat Ihre Mutter darauf reagiert?
BF: Meine Mutter war damit nicht einverstanden. Sie hat es auch nicht ernst genommen.
R: Was haben Ihre Onkel bei dem letzten Gespräch mit Ihrer Mutter bezüglicher Ihrer Rekrutierung für den Jihad gesprochen?
BF: Ich war in der Arbeit. Sie waren bei meiner Mutter. Sie haben meiner Mutter gesagt, dass sie Kinder und Jugendliche sammeln und mit sich mitnehmen werden. Sie hatten auch meiner Mutter 4.000 US-Dollar gegeben. Meine Mutter hatte die Onkel auch gefragt, im Falle, wenn ich nicht mitgehen würde, was mit mir geschehen wird. Sie sagten, dass ich dann gesteinigt werde. Die Onkel sagten, dass ich täglich heranwachse. In Kabul war ich auch bereits groß gebaut. Sie hatten meiner Mutter ein Foto von einem Jungen gezeigt. Am Foto war dieser Junge jünger als ich. Der hatte schwarzes Gewand an. Meine Mutter hat angenommen, dass sie der Daesh-Gruppierung angehören.
R: Von wem wissen Sie den Inhalt dieses Gespräches?
BF: Ich war in der Arbeit und meine Mutter hat es mir dann erzählt.
R: Wann war dieses Gespräch?
BF: 1 Tag vor meiner Flucht von zu Hause.
R: Wie hat Ihre Mutter auf das Gespräch gegenüber Ihren Onkeln reagiert?
BF: Meine Mutter war sehr traurig, nachdenklich und damit nicht einverstanden.
R: Haben Sie von Ihren Onkel einen Telefonanruf oder ein Schreiben erhalten?
BF: Ich selbst nicht. Nein.
R: Warum haben Ihre Onkel Ihrer Mutter 4.000 Dollar gegeben?
BF: Wenn man in den Jihad geht und für diese Leute arbeitet, bekommt man Geld und das war das Geld für einige Monate.
R: Hätten Ihre Onkel nicht damit rechnen müssen, dass Sie das Geld für die Ausreise verwenden?
BF: Das weiß ich nicht.
R: Was haben Sie dann gemacht, nachdem Ihnen Ihre Mutter von diesem Gespräch mit Ihren Onkel erzählt hat?
BF: Ich war traurig und dachte mir, dass ich einen Ausweg und eine Lösung finden muss.
R: Haben Sie oder Ihre Mutter versucht, Schutz durch die afghanischen Behörden zu bekommen?
BF: Ich habe das schon zuvor gesagt. Meine Onkel waren auch in der Regierung. Sie hatten Geld. Wenn wir überall hingegangen wären, wäre es sinnlos gewesen.
R: Was war der unmittelbare Anlass Ihrer Ausreise?
BF: Das, was ich erzählt habe. Man wollte mich zu einer terroristischen Gruppierung mitnehmen.
R: Wie lange waren Sie nach diesem Gespräch noch in Afghanistan?
BF: Am nächsten Tag bin ich geflüchtet.“
Der Beschwerdeführer gab an, er sei gegen Abend, es sei dunkel gewesen, ausgereist. Die Uhrzeit und das Datum wisse er nicht. Vom Stadtteil XXXX in der Stadt Kabul seien die Busse Richtung XXXX gefahren. Von XXXX sei er dann in den Iran gereist. Er habe sich ungefähr 1 Monat im Iran aufgehalten. Genaueres wisse er nicht mehr. Vom Iran sei er dann in die Türkei nach Istanbul gereist. Er sei mit einem Schlepper, von XXXX aus, gereist. Er sei heimlich ausgereist. Die Onkel hätten die Absicht gehabt, ihn am nächsten Tag zu holen.
„R Vorhalt: So wie Sie das geschildert haben, haben Ihre Onkel angekündigt, einen Tag nach dem Gespräch mit Ihrer Mutter Sie mitzunehmen. Sie waren aber an diesem Tag noch bis am Abend daheim und sind nicht mitgenommen worden. Was sagen Sie dazu?
BF: Ich meinte, ich bin am selben Tag geflüchtet. Ich habe bis 16 Uhr gearbeitet und am Abend, ich weiß nicht, ob ich genau bis 17 Uhr oder 18 Uhr gearbeitet habe, jedenfalls, als es dann dunkel war, bin ich von zu Hause weggegangen, um aus Afghanistan zu flüchten.“
Befragt gab der Beschwerdeführer weiter dem Richter an, er habe bis jetzt keinen Kontakt zu seiner Mutter gehabt. Er habe bereits zweimal Termine beim XXXX gehabt, doch seine Mutter sei nicht gefunden worden. Auch sein Bruder hätte keinen Kontakt zu seiner Stiefmutter. Der Beschwerdeführer gab an, er habe zu niemanden in Afghanistan Kontakt.
Befragt zum Kontakt zu seinem Halbbruder, erzählte der Beschwerdeführer er würde ihn an den Wochenenden besuchen. Sein Halbbruder würde mit seiner Familie hier im Bundesgebiet leben. Sie würden auch alle zwei bis drei Tage telefonieren.
Der Beschwerdeführer gab an, er habe aktuell keine gesundheitlichen oder psychischen Probleme. Zurzeit sei er bemüht den Pflichtschulabschluss, voraussichtlich in zweieinhalb Monaten abzuschließen. Danach werde er sich auf die Suche nach einer Lehre, vorzugsweise als Elektriker oder KFZ-Mechaniker, machen.
Wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste, dann würden seine Onkel bestimmt ihr Geld zurückfordern. Dann würden sie ihn zwingen in den Jihad zu ziehen. Hinter seinen Onkeln würde eine Gruppe stehen, und da er aus Europa zurückkehren würde, würden sie glauben, dass er hier ungläubig geworden sei. Er wolle nicht in den Jihad ziehen, da er nicht unschuldige Menschen töten wolle.
„BFV: Du bist nach Hause gekommen, an dem Abend, als deine Onkel bei deiner Mutter waren. Wie spät war es da?
BF: Es war schon gegen Nachmittag. Ich glaube, gegen 17 Uhr und 18 Uhr.
BFV: Wann bist du nach XXXX gereist?
BF: Genau weiß ich es nicht. Es war schon Nacht. Zwischen 12 Uhr und 1 Uhr.“
Gemäß § 45 Abs.3 AVG wurde den Verfahrensparteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, aktualisiert am 01.04.2021, WIKIPEDIA Liwa Fatemiyoun und Lars Haupt: „Understanding the Fatemiyoun Division“ vom 22. Mai 2019 zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt, es ist jedoch – trotz Zuwartens über diese Frist hinaus – keine Stellungnahme eingelangt.
Verlesen wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufscheint.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führ den Namen XXXX in Österreich, ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er am XXXX geboren. Laut altersdiagnostischer Begutachtung vom 24.09.2019 wurde er spätestens am XXXX geboren. Er stammt aus der Ortschaft XXXX , in der Provinz Parwan. Seine Mutter ist nach wie vor in Afghanistan aufhältig, sein Vater ist verstorben, als der Beschwerdeführer noch ein Kind gewesen war. Der Beschwerdeführer hat einen Halbbruder, der in Österreich aufhältig ist. Der Beschwerdeführer steht in gutem Kontakt zu seinem Bruder.
Zu den Ausreisegründen können mangels glaubhafter Angaben keine Feststellungen getroffen werden. Es besteht jedenfalls keine aktuelle Verfolgungsgefahr durch die Taliban.
Der Beschwerdeführer hat im Jahre 2019 Afghanistan verlassen und ist nach Österreich zu seinem Bruder gereist. Der Beschwerdeführer ist bemüht in Österreich den Pflichtschulabschluss zu absolvieren und einen Lehrplatz als Elektriker oder KFZ-Mechaniker zu finden. Der Beschwerdeführer ist unbescholten.
Zu Afghanistan wird Folgendes festgestellt:
Politische Lage
Letzte Änderung: 31.03.2021
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Mio. (NSIA 6.2020) bis 39 Mio. Menschen (WoM 06.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.02.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.02.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 04.03.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.07.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.03.2020). Es ist geplant, die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.03.2020, AA 01.10.2020).
Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.04.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.02.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hatte, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.02.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.02.2020; vgl. REU 25.02.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.02.2020; vgl. FH 04.03.2020) waren nur noch 1,8 Mio. Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 04.03.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Mio. bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Mio. (DW 18.02.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah, erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.07.2020), und so ließen sich am 09.03.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.04.2020; vgl. TN 16.04.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.05.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.07.2020; vgl. NZZ 20.04.2020, DP 17.05.2020, TN 11.05.2020).
Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.05.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung unter Vorsitz von Abdullah wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.07.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.06.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.01.2004, USDOS 20.06.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.01.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.07.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.07.2020; vgl. DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.07.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.04.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.01.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 07.05.2020; vgl. NPR 06.05.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020; REU 06.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.04.2020; vgl. USDOS 29.02.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.01.2021).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.02.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 06.10.2020; vgl. AJ 05.10.2020, BBC 22.09.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 05.10.2020). Insbesondere im Süden herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 09.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.09.2020; vgl. EASO 8.2020), wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 06.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.09.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 05.10.2020).
Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 05.01.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.01.2021; vgl. TN 09.01.2021).
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.01.2020; vgl. DZ 29.01.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.01.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.01.2020; vgl. BBC 23.01.2021).
Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.02.2021b.; vgl. AP 23.02.2021).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 25.03.2021
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.03.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019), Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 01.07.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.07.2020; vgl. REU 06.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.07.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.01.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 01.04.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 02.04.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 01.04.2020; vgl. HRW 13.01.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.01.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.08.2020).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43% aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.08.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.07.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.01.2021; vgl. AAN 16.08.2020).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.01.2021, vgl. AIHRC 28.01.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.08.2020).
Zivile Opfer
Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.01.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.01.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). [...]
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.02.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante-Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.08.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der Getöteten und Verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.01.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53% verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15% und ISKP (ISIS) für 5%. Bei 25% der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2% der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.01.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019 als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 01.07.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 01.06.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.01.2021).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten „green-on-blue-attack“: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.03.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.02.2020; vgl. UNGASC 17.03.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 01.07.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.03.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 06.03.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 06.03.2020; vgl. AJ 06.03.2020).
Am 25.03.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikhs (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, acht weitere wurden verletzt (TN 26.03.2020; vgl. BBC 25.03.2020, USDOD 01.07.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.03.2020; vgl. TTI 26.03.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikhs, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.03.2020; vgl. NYT 26.03.2020, USDOD 01.07.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.01.2021).
Opiumproduktion und die Sicherheitslage
Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84% der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 07.02.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.06.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 09.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 07.02.2020).
Kabul
Letzte Änderung: 25.03.2021
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 01.06.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 01.06.2020).
Kabul-Stadt - Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 01.06.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten, und Schätzungen reichen von 3,5 Mio. bis zu möglichen 6,5 Mio. Einwohnern (AAN 19.03.2019; vgl. IGC 13.02.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.). [...]
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).
Der Highway zwischen Kabul und Kandahar gilt als unsicher (TN 07.07.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.02.2019; vgl. UNOCHA 23.02.2020) und kontrollieren Teile der Straße, und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.01.2020; vgl. EASO 9.2020).
Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).
Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, die die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019), und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 07.07.2020a).
In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher, und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.03.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, BalaChawk und Ali Mordan in der Altstadt, und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansäßig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 01.07.2020), und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.01.2021, USDOD 01.07.2020, NYTM 26.03.2020, HRW 12.05.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 01.07.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 02.11.2020; vgl. AJ 02.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020), für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 02.11.2020, GN 02.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.06.2020; vgl. AP 16.06.2020, HRW 12.05.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.06.2020, vgl. HRW 12.05.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt, oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).
Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch, internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.01.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.06.2020; vgl LI 22.01.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).
Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.09.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem u.a. Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 02.09.2019; vgl. FAZ 02.09.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 02.09.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 03.09.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 02.09.2019; vgl. GN 15.07.2020) - und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.07.2020).
Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 10.01.2020, AAN 11.02.2020, AAN 21.02.2020, TN 04.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr [Anm.: 2020] wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 10.01.2020; vgl. TN 24.07.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung „Security Charter“ an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).
Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command-Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 21. ANA Corps (USDOD 01.07.2020). Darüber hinaus