TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/9 W255 2204667-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.06.2021
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Entscheidungsdatum

09.06.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W255 2204667-1/26E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 01.06.2021 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Ronald EPPEL, MA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.08.2018, Zl. 1097549109-151912353, nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am 21.01.2021 und 01.06.2021, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde des XXXX wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

1.       Verfahrensgang:

1.1.    Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 02.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2.    Am 02.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion XXXX die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Dabei gab der BF zu seinem Fluchtgrund befragt, an, dass er in Afghanistan als Lehrer in einem Nachhilfekurs Englisch unterrichtet habe. Die Taliban hätten wollen, dass er mit ihnen zusammenarbeite und ihnen regelmäßig Bericht erstatte. Der BF habe dies abgelehnt. Aus diesem Grund sei er von den Taliban mit dem Tod bedroht worden. Er habe einen Drohbrief der Taliban erhalten, in dem gestanden sei, dass man ihn und seine Familie umbringen werde.

1.3.    Am 17.04.2018 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA). Dabei gab der BF zu seinem Fluchtgrund befragt, an, dass er in Afghanistan ein Nachhilfeinstitut gegründet habe, in dem Englisch, Computer, Mathematik und weitere Sprachen unterrichtet worden seien. Der BF sei Direktor dieses Instituts gewesen. Er habe zusätzlich freiwillig in einem Dorf namens XXXX Kurse für Jugendliche abgehalten, da ihn seine Stammesleute darum gebeten hätten. Das habe der BF 3mal die Woche für jeweils 2 Stunden gemacht. Als er eines Tages am Heimweg von XXXX nach XXXX gewesen sei, habe man sein Fahrzeug angehalten. Die „Anhalter“ hätten den BF nach seiner Tätigkeit gefragt und ihn mit einem Gewehrkolben auf den Rücken geschlagen. Nach diesem Vorfall sei der BF nicht mehr nach XXXX gereist. Zwei Jahre später habe der BF einen Drohbrief der Taliban erhalten. Diesen Brief habe man ihm Zuhause hinterlegt und gedroht, den BF zu töten. Daraufhin habe der BF seine Familie woanders hingebracht und habe Afghanistan verlassen.

Der BF legte die folgenden Dokumente vor:

?        afghanischer Reisepass im Original;

?        afghanische Tazkira im Original;

?        afghanischer Führerschein im Original;

?        Schulzeugnis, ausgestellt von der XXXX , in Afghanistan;

?        12th Grade Graduation Certificate, ausgestellt vom Ministry of Education of the Islamic Republic of Afghanistan;

?        Ausweis des BF als Manager des Instituts „ XXXX “;

?        Bestätigung betreffend die Tätigkeit des BF für ein Lehramtsinstitut, ausgestellt vom XXXX ;

?        Drohbrief der Taliban;

?        Appreciation Certificate, ausgestellt vom XXXX ;

?        Ausweis des BF als Mitarbeiter des XXXX ;

?        ÖSD Zertifikat A2;

?        Bestätigung der XXXX vom 22.01.2018, betreffend den erfolgreichen Abschluss des Kurses „ XXXX “ seitens des BF;

?        Bestätigung der XXXX vom 13.12.2016betreffend den Besuch eines A1 Deutschkurses seitens des BF;

?        Bestätigungen der XXXX vom 16.02.2017betreffend den Besuch von A1+ und A2 Deutschkursen seitens des BF;

?        Bestätigung des „ XXXX “ vom 14.07.2017betreffend den erfolgreichen Abschluss eines Integrationskurses seitens des BF;

?        Bestätigung der XXXX vom 07.09.2017betreffend den Besuch des Workshops „ XXXX “ seitens des BF;

?        Bestätigung der XXXX vom 14.01.2017betreffend die Teilnahme an der Veranstaltung „ XXXX , …“ seitens des BF;

?        Bestätigung der XXXX vom 28.01.2017betreffend die Teilnahme an der Veranstaltung „ XXXX “ seitens des BF;

?        Zertifikat des Vereins „ XXXX “ vom 23.06.2017, betreffend die Teilnahme an einem Deutschkurs seitens des BF;

?        MRT-Befund des Diagnosezentrums XXXX vom 19.12.2017;

?        Ambulanzkarte der Krankenanstalt XXXX ;

?        Entlassungsbrief der Krankenanstalt XXXX vom 13.02.2018;

?        Röntgen-Zuweisung eines Facharztes für Urologie und Andrologie vom 16.02.2018.

1.4.    Das BFA wies den Antrag des BF auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 08.08.2018, Zl. 1097549109-151912353, bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Das BFA erteilte dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Als Frist für die freiwillige Ausreise des BF nach Afghanistan wurden 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt (Spruchpunkt VI.).

1.5.    Gegen den unter Punkt 1.4. genannten Bescheid richtet sich die vom BF fristgerecht erhobene Beschwerde. Darin wiederholte der BF im Wesentlichen sein Fluchtvorbringen (Anhaltung durch die Taliban auf der Straße samt Schlägen und Drohungen sowie Drohbrief der Taliban aufgrund seiner Unterrichtstätigkeit)

1.6.    Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt langten am 30.08.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurden der Gerichtsabteilung W262 des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

1.7.    Am 23.10.2018 übermittelte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme zur Beschwerde des BF und sprach sich für die Abweisung der Beschwerde aus.

1.8.    Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.04.2020 wurde die Rechtssache der Gerichtsabteilung W262 des Bundesverwaltungsgerichts abgenommen und am 11.05.2020 der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung W255 des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

1.9.    Mit Schreiben vom 22.12.2020 wurden dem BF vom Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderfeststellungen betreffend Afghanistan übermittelt.

1.10.   Am 21.01.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des BF und seiner Rechtsvertreterin eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei brachte die Rechtsvertreterin des BF vor, dass sich der Verdacht ergeben habe, dass der BF unter einer Psychose leide und nicht einvernahmefähig sei. Der BF habe paranoide Züge, lebe sehr isoliert in seinem Zimmer und habe keinen Kontakt zu anderen Menschen. Die Rechtsvertreterin legte eine Stellungnahme („Behandlungsbestätigung“) einer den BF behandelnden Psychologin vom 20.01.2021 vor, in der diese dringend eine psychiatrische Begutachtung des BF empfiehlt und beantragte die Einholung eines Gutachtens eines Sachverständigen zur Frage des Vorliegens einer Psychose sowie zur Frage der Beurteilung der Einvernahmefähigkeit des BF.

1.11.   Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.01.2021 wurde dem BF und dem BFA mitgeteilt, dass die Bestellung des allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen XXXX , Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, beabsichtigt sei und dem BF sowie dem BFA die Möglichkeit eingeräumt, Einwände gegen die Bestellung des genannten Sachverständigen zu erheben. Es wurden weder seitens des BFA noch des BF Einwände erhoben.

1.12.   Am 09.02.2021 übermittelte die den BF behandelnde Psychologin dem Bundesverwaltungsgericht eine ausführliche Stellungnahme vom 08.02.2021 betreffend die Behandlung des BF.

1.13.   Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.02.2021, GZ W255 2204667-1/16Z, wurde XXXX , zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie bestellt und dem Sachverständigen aufgetragen, ein Gutachten samt Beantwortung von elf konkreten Fragen zu erstellen.

1.14.   Am 03.03.2021 wurde der BF von XXXX untersucht.

1.15.   Am 01.04.2021 übermittelte XXXX dem Bundesverwaltungsgericht das beauftragte psychiatrisch-neurologie Gutachten vom 15.03.2021. Darin führte der Sachverständige ua aus, dass der BF einvernahmefähig sei sowie, dass der BF an einer wahnhaften Störung leide.

1.16.   Mit Schreiben vom 04.05.2021 wurden dem BF und dem BFA vom Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderfeststellungen betreffend Afghanistan sowie das Gutachten von XXXX vom 15.03.2021 übermittelt.

1.17.   Am 01.06.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari sowie im Beisein des BF und seiner Rechtsvertreterin eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Dabei gab der BF zusammengefasst an, Afghanistan aufgrund der Bedrohung durch die Taliban verlassen zu haben. Er habe in Afghanistan Englisch, Dari, Mathematik und Computer unterrichtet. Teils habe er selbst unterrichtet, teils als Direktor eines Nachhilfeinstituts fungiert. Im Jahr 2013 sei der BF am Heimweg mit seinem Auto gewesen, als er auf der Straße angehalten worden sei. Man habe ihn aus dem Auto gezerrt, nach seiner Tätigkeit befragt und ihm mit einem Gewehrkolben auf den Rücken geschlagen. Dann habe man von ihm gefordert, insofern mit den Taliban zu kooperieren, dass er Sachen/Gegenstände mit dem Auto nach und von XXXX transportieren sollte. Der BF habe dem aus Angst zugestimmt, sei freigelassen worden, nach XXXX zurückgekehrt und seither nicht mehr in das Dorf XXXX gereist, in dem er unmittelbar vor der Anhaltung ehrenamtlich unterrichtet hätte. Im Jahr 2015 habe er einen Drohbrief der Taliban erhalten, in dem auf seine Unterrichtstätigkeit Bezug genommen und ihm diese vorgeworfen worden sei. Der BF sei mit dem Tod bedroht worden. Er habe daraufhin seine Verwandten, mit denen er bis zu diesem Zeitpunkt zusammengewohnt habe, zu seinen Cousins väterlicherseits gebracht und habe Afghanistan bald darauf verlassen. Die Rechtsvertreterin legte eine schriftliche Stellungnahme zu den in das Verfahren eingebrachten Länderinformationen samt Anfragebeantwortungen von ACCORD zu den Themen „Gesellschaftliche Wahrnehmung von Personen mit psychischen Erkrankungen; Stigmatisierung, schädigende Praktiken, religiöse Aspekte, Wunderheilung; Umgang von staatlichen Stellen/Institutionen mit psychischen Erkrankten, Diskriminierung [a-11251]“ sowie „Informationen zur Lage von Behinderten [a-10528]“ vor.

1.18.   Nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 01.06.2021 wurde gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG das Erkenntnis verkündet, der Beschwerde stattgegeben und dem BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass dem BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

1.19.   Mit Schreiben vom 02.06.2021 beantragte das BFA gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG fristgerecht die Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

2.       Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des gegenständlich erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung sowie der Einvernahme des BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des BFA, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des BFA, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht vom 21.01.2021 und 01.06.2021, der Länderberichte zu Afghanistan, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem sowie das psychiatrisch-neurologische Gutachten von XXXX vom 15.03.2021, werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

2.1.    Zur Person des BF:

2.1.1.  Der BF führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX .

2.1.2.  Der BF ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Der BF spricht Dari, Paschto und Englisch.

2.1.3.  Der BF wurde in der Stadt XXXX geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und vier Schwestern aufgewachsen. Im Alter von 19 Jahren (im Jahr 1992) übersiedelte der BF aufgrund der allgemeinen Situation (Sicherheitslage) in Afghanistan mit seiner Familie nach Peschawar, Pakistan. Der Vater des BF hielt sich während dieser Zeit teilweise in Pakistan und teilweise in Afghanistan auf. Im Jahr 2010 kehrte der BF mit seiner Familie nach Afghanistan zurück und lebte dort bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 in der Stadt XXXX , im Ortsteil XXXX . Die letzten Monaten vor seiner Ausreise lebte der BF mit seinen Schwestern bei seinen Cousins väterlicherseits versteckt in der Stadt XXXX , im Ortsteil XXXX .

2.1.4.  Der BF hat – mit Unterbrechungen – 12 Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Der BF hat in Pakistan zunächst als Teppichknüpfer gearbeitet und das Lehramtsstudium in den Fächern Dari und Pädagogik besucht. Von 2007 bis 2009 hat der BF in Pakistan als Lehrer in einer internationalen Schule für Flüchtlinge („ XXXX “) gearbeitet. Nach seiner Rückkehr nach Afghanistan hat der BF von ca. 2010 bis 2015 ein Nachhilfe-Institut namens „ XXXX “, in XXXX , im Ortsteil XXXX , geleitet, in dem die Fächer Englisch, Dari, Mathematik und Computer unterrichtet wurden. Der BF hat das Institut geleitet, zwölf Lehrer beschäftigt und teilweise selbst unterrichtet. Neben dieser Tätigkeit hat der BF zwei bis dreimal wöchentlich in einem außerhalb der Stadt XXXX gelegenen Dorf namens XXXX ehrenamtlich Kinder und Jugendliche in den Fächern Dari und Englisch unterrichtet. Zusätzlich hat der BF von ca. 2013 bis 2015 mit einem Lehramtsinstitut in XXXX , im Ortsteil XXXX , zusammengearbeitet und dort Verwaltungsaufgaben übernommen.

2.1.5.  Die Mutter des BF ist im Jahr 2020 eines natürlichen Todes verstorben. Der Vater des BF wurde im Jahr 2009 von den Taliban getötet, als diese auf ein Auto geschossen haben, in dem sich – als Bei- bzw. Mitfahrer – der Vater des BF und drei bis vier weitere Personen aufgehalten haben. Dabei handelte es sich um keine zuvor geplante, gezielte Tötung des Vaters des BF durch die Taliban. Die vier Schwestern des BF sind ledig und leben bei den Cousins väterlicherseits des BF in der Stadt XXXX , im Ortsteil XXXX . Der BF verfügt über keine Verwandten in Afghanistan, außerhalb XXXX . Der BF hat in Afghanistan nie außerhalb XXXX gelebt. Er verfügt über kein familiäres oder soziales Netzwerk außerhalb XXXX und keine Ortskenntnisse in anderen Städten Afghanistans.

2.1.6.  Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

2.1.7.  Der BF leidet an einer wahnhaften Störung (ICD-10: F22.0). Er berichtet seit 3 Jahren und verstärkt im Jahr 2020 von Wahnideen im Sinne eines Vergiftungswahns, Beeinflussungswahns und paranoiden Wahns, verbunden mit zeitweise auftretenden taktilen und olfaktorischen Halluzinationen. Die Wahnideen sind als teilsystematisiert zu sehen und als polarisiert, d.h. sie beeinflussen auch das Handeln des BF im Sinne eines zusehenden sozialen Rückzuges. Die Störung ist als eine psychische Erkrankung zu sehen und wird auch als Paranoia bezeichnet und es handelt sich um eine Psychose, eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Es besteht wie häufig bei wahnhaften Störungen keine Krankheitseinsicht und keine Behandlungsbereitschaft.

Der BF verfügt im Alltag über ein Vermeidungsverhalten und eine soziale Rückzugstendenz.

Grundsätzlich ist der BF als arbeitsfähig zu bezeichnen, wobei aber Tätigkeiten bei Anhalten des Wahnes, die im Einflussbereich der Wahnideen liegen, meist nicht wahrgenommen werden. Es zeigen auch die Beschreibungen eine zusehende Isolation des BF.

Eine Prognose betreffend den Krankheitsverlauf des BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan aus rein medizinischer Sicht ist derzeit nicht möglich. Grundsätzlich sind wahnhafte Störungen in vielen Fällen chronische, langdauernde Störungen, die häufig nur schwer Behandlungen zugänglich sind.

2.1.8.  Der BF stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 02.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.1.9.  Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

2.2.1.  Der BF wurde aufgrund seiner unter Punkt 2.1.4. beschriebenen Tätigkeit im Jahr 2013, als er sich gerade mit seinem Auto auf dem Heimweg von XXXX nach XXXX befand, im Ort XXXX von Mitgliedern der Taliban angehalten, aus dem Auto gezerrt, nach seiner Tätigkeit befragt und mit einem Gewehrkolben auf den Rücken geschlagen. Die Taliban forderten den BF auf, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Konkret sollte der BF für die Taliban Sachen nach XXXX bzw. von XXXX zu ihnen transportieren. Der BF stimmte dieser Forderung aus Angst zu und wurde von den Taliban freigelassen. Der BF beendete unmittelbar danach seine Tätigkeit im Dorf XXXX , um (auch) nicht mehr jene Route befahren zu müssen, auf der er angehalten wurde und sich nicht weiter in Gefahr zu begeben.

2.2.2.  Im Jahr 2015 wurde dem BF von den Taliban im Innenhof seines Hauses in XXXX ein Drohbrief hinterlassen, in dem ihm vorgeworfen wurde, Leiter eines Kurses zu sein, Englisch zu unterrichten und gegen die Taliban zu sprechen. Ihm wurde mit dem Tod gedroht. Der BF hat daraufhin seine Tätigkeit als Leiter des Kurses beendet und seine Schwestern von XXXX zu Cousins väterlicherseits in den Ortsteil XXXX gebracht. Der BF hat sich ebenfalls wenige Monate dort aufgehalten und Afghanistan schließlich verlassen.

2.2.3.  Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan – ob nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif oder einen anderen Ort – wäre der BF aufgrund der bisherigen Bedrohungen durch die Taliban und den Informationen, die die Taliban über den BF verfügen sowie seiner individuellen Eigenschaften und Exponiertheit einer konkret gegen ihn gerichteten Verfolgung sowie Stigmatisierung und Diskriminierungen ausgesetzt, da er sich zum Einen den Befehlen der Taliban widersetzt hat und geflüchtet ist und zum Anderen an einer psychischen Krankheit leidet.

2.3.    Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

2.3.1.  Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation mit Stand vom 01.04.2021:

2.3.1.1. COVID-19

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

2.3.1.2. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

2.3.1.3. Sicherheitslage in Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf

Kabul-Stadt - Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als "eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020) , wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).

Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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