TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/11 W159 2237245-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.06.2021
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Entscheidungsdatum

11.06.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W159 2237245-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.10.2020, Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.05.2021 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Afghanistan, der Volksgruppe der Sadat zugehörig, gelangte spätestens am 26.02.2020 irregulär nach Österreich und stellte an diesem Tag auch einen Antrag auf internationalen Schutz.

In der Erstbefragung durch die Niederösterreichische Fremden- und Grenzpolizeiliche Abteilung, XXXX gab sie zu ihrem Fluchtgrund an, sie habe Afghanistan vor etwa 15 Jahren mit ihren Kindern verlassen, weil die Nichten ihres Mannes entführt worden seien und sie Angst um ihre Töchter gehabt hätte. Da die Familie keine Dokumente gehabt hätte, wäre das Leben im Iran sehr schwer gewesen. Vor etwa fünf Monaten wäre ihr Mann von der iranischen Polizei angehalten worden. Er hätte einerseits nach Afghanistan abgeschoben werden sollen oder andererseits, hätte er nach Syrien in den Krieg ziehen können, umso das Bleiberecht für seine Familie im Iran zuerwirken. Die Beschwerdeführerin sei Mutter eines mj Sohnes, geb. am XXXX und einer Tochter, geb. am XXXX .

In der niederschriftlichen Einvernahme am 06.08.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz erschien die Beschwerdeführerin mit einem Kopftuch. Sie gab befragt an, sie würde ein Handy besitzen, jedoch würde sie sich damit nicht auskennen. Sie könne nur abheben, wenn sie jemand anrufe. Sie gab an, sie habe bis dato die Wahrheit gesagt, es sei alles vollständig protokolliert und rückübersetzt worden. Nach ihrer Gesundheit befragt, gab sie an, sie würde Medikamente wegen ihrer Psyche, ihren Blutdruckhochdruck sowie Zucker bekommen. Sie könne keine ärztlichen Befunde vorlegen. Sie sei schon in Afghanistan an Bluthochdruck und Zucker erkrankt gewesen, nur sei es damals nicht so schlimm gewesen. Im Iran habe sie deswegen schon Medikamente genommen, sowie Medikament wegen psychischer Probleme.

Befragt gab die Beschwerdeführerin weiters an, sie sei in Uruzgan geboren worden und sei etwa 58 Jahre alt, ihr genaues Geburtsdatum wisse sie nicht. Auf die Frage, warum in der Erstbefragung Daikundi als Geburtsort angeführt worden sei, antwortete sie, sie sei Analphabetin, sie sei schon lange nicht mehr in Afghanistan gewesen, sie könne sich nicht mehr erinnern und die Provinzen Afghanistans würde sie nicht mehr gut kennen.

Sie gab weiters an, sie werde in Afghanistan verfolgt. Sie sei afghanische Staatsangehörige und habe immer ihren Namen geführt. Sie gab nunmehr an, sie sei in Daikundi geboren worden, aufgewachsen und habe dort geheiratet. Sie sei immer nur in Daikundi gewesen. Sie gehöre der Volksgruppe der Hazara, dem Stamm der Sadat an und sei schiitische Muslima. Aufgrund der Coronakrise sei es ihr nicht möglich gewesen, einen Deutschkurs zu besuchen.

Befragt gab sie an, ihre Eltern seien beide verstorben, ein Bruder würde in Griechenland und eine Schwester in Deutschland leben. Ihr Halbbruder, der Sohn ihres Vaters, würde in Schweden leben und sie würden in Kontakt stehen. Sie sei mit ihrem Mann traditionell verheiratet worden. Er sei mit ihr nicht verwandt, würde aus dem gleichen Dorf stammen und auch dem Stamm der Saed angehören. Ihr Mann sei ebenfalls afghanischer Staatsangehöriger, etwa 68 Jahre alt, der Volksgruppe der Hazara, dem Stamm der Saed zugehörig und schiitischer Moslem. Sie sei bei der Hochzeit etwa 16 Jahre alt gewesen. Die Ehe sei arrangiert – wie üblich - gewesen. Sie habe vier Kinder. Ihr Ehemann und die Zwillingsschwester ihrer Tochter würden sich zurzeit in Serbien aufhalten. Sie könnten aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht nach Österreich einreisen. Sie würden in telefonischen Kontakt stehen. Ihr Ehemann sei auch krank, er würde auch an psychischen Problemen leiden.

Zu ihren Kindern befragt gab die Beschwerdeführerin an, ihre Tochter XXXX sei verheiratet, etwa XXXX Jahre alt und würde in Afghanistan leben. XXXX würde in Wien leben. Ihre Zwillingsschwester XXXX sei bei ihrem Vater in Serbien. Ihr Sohn XXXX sei etwa 16 Jahre alt und würde in XXXX im Camp aufhältig sei. Er wolle nach Österreich kommen. Der Junge, der mit ihr gekommen sei, sei der Sohn ihres Schwagers (vom Bruder ihres Mannes). Seine Eltern seien bei einem Autounfall gestorben, sie habe ihn aufgenommen und aufgezogen. Er nehme an, dass die Beschwerdeführerin seine Mutter sei, denn die Eltern seien gestorben, als er sechs Monate alt gewesen sei. Alle Kinder seien afghanische Staatsangehörige. Sie würde nunmehr den Jungen im Verfahren vertreten.

Das Zielland ihrer Reise sei Österreich gewesen, die Gesetze seien gut, Frauen und Männer seien gleichberechtigt. In Afghanistan und im Iran würden die Frauen nicht geschätzt werden. Sie habe Afghanistan vor etwa 17 Jahren verlassen. In Afghanistan hätten sie ein Haus besessen, die Felder bewirtschaftet und Tiere gehabt. In dem Haus hätte ihre Familie, der Schwager und die Schwiegereltern bewohnt. In Afghanistan hätte sie keine Schule besuchen dürfen. Im Iran hätte sie als Schneiderin gearbeitet. Auch ihre Tochter XXXX hätte im Iran gearbeitet. Ihre Tochter und sie hätten im Iran gearbeitet um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihr Ehemann sei in Afghanistan gewesen, um die entführte Nichte zu finden. Die Nichte sei von den Kutschis entführt worden. Es seien alle aus Afghanistan ausgereist. Sie wisse nicht, was mit ihrem Besitz passiert sei. Sie habe zu niemandem in Afghanistan mehr Kontakt. Befragt gab sie weiters an, im Iran hätten sie in einer Mietwohnung gelebt. Ihr Ehemann sei etwa neun Jahre weg gewesen. Er sei bei den Taliban gewesen und wolle mit ihr nicht darüber sprechen. Nach diesen neun Jahren sei er zu seiner Familie in den Iran gezogen. Er habe im Iran gearbeitet, sie hätten Müll gesammelt.

Die Beschwerdeführerin gab an, sie sei in ihrem Heimatstaat nicht vorbestraft, sei nicht inhaftiert gewesen, habe keine Probleme mit Behörden gehabt, es würden keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief vorliegen, sie sei nicht politisch tätig sowie sie und/oder ihre Familienmitglieder seien keine Mitglieder einer politischen Partei gewesen. Sie hätte jedoch Probleme aufgrund ihres Religionsbekenntnisses, ihrer Volksgruppenzugehörigkeit und mit Privatpersonen, den Kutschis gehabt. Sie habe nicht an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teilgenommen.

Befragt zu ihrem Fluchtgrund erzählte die Beschwerdeführerin, dass die Kutschi zu ihren Grundstücken gekommen seien und alles zerstört hätten. Es sei zu einem Streit gekommen und einer von ihnen sei getötet worden. Ihr Ehemann sei beschuldigt worden, ihn getötet zu haben. Es sei die Tochter des Schwagers entführt worden. Ihr Mann habe sie und die Kinder in den Iran geschicht und gesagt, er wolle seine Nicht suchen. Der afghanische Staat habe nicht geholfen. Danach sei ihr Ehemann jahrelang weggewesen. Sie hätten keinen Kontakt zueinander gehabt. Sie habe die Familie im Iran finanziell versorgt. Ihr Mann konnte im Gegensatz zu ihr und ihren Kindern, den Aufenthalt im Iran nicht legalisieren, weswegen sie den Iran verlassen hätten.

Mit Bescheid vom 23.10.2020, Zl. XXXX wurde der Antrag auf internationalen Schutz im Spruchpunkt I. vom 26.02.2020 hinsichtlich der der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen. Im Spruchpunkt II. wurde gem. § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und im Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG für ein Jahr erteilt.

Das BFA stellte fest, dass die Beschwerdeführerin afghanische Staatsanhörige sei, der Volksgruppe der Hazare angehöre sowie schiitische Muslima sei. Sie würde aus der Provinz Daikundi stammen und habe sich von 2003/4 bis 2019 im Iran aufgehalten. Sie sei verheiratet, habe vier Kinder und einen Ziehsohn, für welchen sie sorgeberechtigt sei. Sie würde an keiner lebensbedrohenden Krankheit leiden. Sie sei Analphabetin und habe im Iran illegal als Schneiderin gearbeitet. Es hätte keine Bedrohng oder Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Volksgruppenzugehörigkeit, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe, oder der politischen Gesinnung festgestellt werden können. Die Beschwerdeführerin würde über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in einer sicheren Provinz in Afghanistan verfügen. Ihre Familienmitglieder seien derzeit in unterschiedlichen Ländern der EU aufhältig. Es bestünden Gründe für die Annahme, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung nach Afghanistan in eine für sie existenbedrohte Notlage geraten würde und sie ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig sichern könnte. Im Spruchpunkt I. des Bescheides wurde angegeben, dass die Beschwerdeführerin keine Gründe der Genfer Flüchtlingskonvention für das Verlassen ihres Heimatlandes vorgebracht hätte. Sie habe auch keinen „westlichen Lebensstil“ aus eigenen Stücken vorgebracht. Eine westliche Orientierung würde nicht vorliegen. Im Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass sie Beschwerdeführerin bei einer Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung nach Afghanistan in eine für sie Existenz bedrohtende Notlage geraten würde und sie ihren Lebensunterhalt nicht selbstständig sichern könnte. Mit Spruchpunkt III. wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

Gegen Spruchpunkt I dieses Bescheides erhob die Beschwerdeführerin, vertreten durch die XXXX , fristgerecht wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Beschwerde. Es wurde auf das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin kurz erörtert. Die Familie habe von der Landwirtschaft gelebt. Die Kutschis seien zumindest einmal jährlich gekommen und hätten die Felder zerstört um ihre Tiere grasen zu lassen. Der Ehemann sei mit den Kutschis aneinandergeraten und beschuldigt worden, einen Kutschi getötet zu haben. Es sei die Nichte ihres Ehemanns entführt worden, die bis heute als verschollen gelten würde. Die Familie habe Afghanistan verlassen und einige Jahre im Iran gelebt. In den anschließenden Ausführungen wurde auf die Länderinformationen bzw. Berichte bezüglich der Hazara und Kutschis Bezug genommen. Es wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragt.

Die Beschwerde langte beim BFA am 23.11.2020 und beim Bundesverwaltungsgericht am 26.11.2020 ein. Am 30.11.2020 wurde geantwortet, dass das Dublin-Verfahren weiter durchgeführt werde und die Antwortfrist Griechenlands am 24.12.2020 enden würde. Ob das Dublin-Verfahren damit abgeschlossen sei, könne aus derzeitiger Sicht nicht beurteilt werden.

Der Tochter XXXX der Beschwerdeführerin wurde mit Bescheid des BFA, RD Wien vom 27.12.2016 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Am 30.11.2020 erging die Anfrage an das BMI, ob hinsichtlich des Ehemanns der Beschwerdeführerin bereits subsidiärer Schutz zuerkannt wurde oder das Dublin-Verfahren mit Griechenland weiterhin durchgeführt werde.

Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 04.05.2021 an, an welcher die Beschwerdeführerin, ihre Rechtsvertretung, XXXX und ein Dolmetscher teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde war entschuldigt nicht erschienen.

Die Beschwerdeführerin hielt ihr Vorbringen und die Beschwerde aufrecht, nachdem sie hinsichtlich ihrer Rechtsposition als subsidiär Schutzberechtigte belehrt und die Sach- und Rechtslage erörtert wurde. Die Beschwerdeführerin gab an, sie könne psychisch und der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung folgen.

Die Rechtsvertretung brachte eine Bestätigung des Arztes für Allgemeinmedizin, XXXX in Vorlage und gab an, dass sich die Beschwerdeführerin in psychotherapeutischer und medikamentöser Behandlung befände.

Die Rechtsvertretung regte die Führung eines Familienverfahrens hinsichtlich des Ziehsohnes (Obsorgebeschluss wurde bereits vorgelegt) an und verwies auf die Entscheidung des VfGH zur Zahl G298/2019 vom 26.06.2020. Hier führte der VfGH aus, dass es keinen Grund für eine Differenzierung zwischen leiblichen Eltern und gesetzlicher Vertretung gibt. Die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 lit. d AsylG wurde dbzgl. schon angepasst. Im ggst. Fall handele es sich somit um ein Familienverfahren.

Die Beschwerdeführerin erschien zur Verhandlung mit locker gebundenem, schwarz-grauem Kopftuch. Sie hielt die Beschwerde und ihr bisheriges Vorbringen aufrecht. Sie gab weiters an, sie hätte angegeben, dass ihr Mann zwei Jahre in der Gefangenschaft der Taliban gewesen sei, es seien jedoch „neun Jahre“ geschrieben worden (siehe S. 9 des Bescheides).

Die Beschwerdeführerin gab an, sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Ethnie Sadat an und sei schiitische Muslima. Befragt gab sie an, sie würde ihre Religion in Österreich ausüben. Sie erzählte, sie sei in Afghanistan, in der Provinz Daikundi, im Dorf XXXX geboren worden. Sie sei eine Analphabetin, sie wisse ihr Geburtsdatum nicht, wisse jedoch, dass sie 59 Jahre alt werde. Sie habe in Afghanistan und nachher im Iran gelebt. Im Iran habe sie etwa 16 Jahre lang gelebt. Sie das letztemal vor etwa 17 Jahren in Afghanistan gewesen. Sie sei nie zur Schule gegangen. Hier in Österreich würde sie einen Deutschkurs besuchen.

In Afghanistan sei sie als Bauerin in der Landwirtschaft tätig gewesen. Sie hätten Kühe und Schafe gehabt. Im Iran sei sie dann als Schneiderin für Frauenkleidung tätig gewesen.

Auf die Frage des Richters, wie ihr Leben als Frau in Afghanistan gewesen sei, antwortete sie: „Soweit es die Arbeit angeht, durfte ich schon meine Aufgaben machen, das heißt, ich habe mich um viel gekümmert, sowohl im Stall als auch draußen auf der Weide. Bei der Ernte habe ich auch geholfen, z.B. Weizen nach Hause zu bringen. Ich durfte aber nicht alleine hinausgehen, um spazieren zu gehen oder Freundinnen zu treffen.“

„RI: Haben Sie dieses Leben akzeptiert oder haben Sie dagegen in Afghanistan schon irgendwie rebelliert?

BF: Ehrlich gesagt, war ich damit nicht zufrieden, ich habe mich dazu aber nicht geäußert. Das Leben war halt so. Zu diesem Zeitpunkt ging es überhaupt nicht, dass die Frauen dagegen etwas unternommen oder gesagt hätten.“

Sie gab weiters befragt an, sie hätte mit 16 Jahren geheiratet, es sei eine arrangierte Hochzeit, wie es üblich gewesen sei, gewesen. Sie habe vier eigene Kinder und einen Ziehsohn. „Das Kind ist eigentlich von dem Bruder meines Mannes. Der Vater und die Kindesmutter sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und ich habe ihn aufgezogen.“

Sie würde zurzeit mit ihrem Ehemann zusammenleben, der erste Einvernahmetermin beim BFA sei am 20.05.2021. Eine ihrer Töchter würde im Iran leben, sie sei dort verheiratet., Ihre Tochter XXXX sei hier in Österreich (anwesend im Verhandlungssaal). Die Zwillingsschwester sei in Großbritannien. Sie würde dort allein leben. Ihr Sohn würde in Griechenland sein. Ihr Sohn sei 16 oder 17 Jahre alt. Sie wisse nicht, welchen Status er haben würde. Es sei bisher nicht gelungen ihn nach Österreich zu holen. Sie hätten keine Familienangehörige oder Verwandte mehr in Afghanistan. Sie sei nur mit ihren Kindern in Kontakt.

Auf die Frage des Richters, aus welchen Gründen sie Afghanistan verlassen habe, antwortete sie, dass sie grundsätzlich vor den Kutschis geflüchtet sei. „Die kamen jedes Jahr zu uns, besonders im Frühling, um ihr Vieh dort zu weiden. Aber in dem Jahr, in dem ich dann meine Heimat verlassen musste, war es so, dass die Kutschis mit noch mehr Vieh kamen. Ihr Vieh hat alles gefressen, was vorhanden war, egal, ob es Weizen war, Karotten, Kartoffeln, egal. Das Schlimmste war, dass das, was das Vieh nicht gefressen hat, die Kutschis zusammengetrampelt und zerstört haben. Aus diesem Grund gab es einen Verteidigungskrieg der Dorfbewohner gegen die Kutschis. In dieser bewaffneten Auseinandersetzung ist auch ein Kutschi getötet worden. Wir haben zu diesem Zeitpunkt als Dorfbewohner gedacht, dass wir einige Zeit vor denen Ruhe hätten, weil wir haben uns verteidigt. Aber nach kurzer Zeit sind sie mit noch mehr Leuten zurückgekommen und in diesem Zusammenhang haben sie auch eine Tochter von uns mitgenommen. Damit meine ich, sie haben die Tochter des Bruders meines Mannes mitgenommen. Sie hat bei uns im Haus gelebt. Dann sind mein Mann und sein Bruder, nämlich der Vater des entführten Mädchens, zu dem Ergebnis gekommen, dass sie uns in den Iran schicken, damit sie freie Hand hätten, um das Mädchen zu befreien. Sie haben gemeint, dass wenn sie das Mädchen befreit hätten, würden sie in den Iran nachkommen.“

Auf die Frage des Richters, ob es gelungen sei, das Mädchen zu befreien, führte sie weiter aus: „Sie sind mit diesem Ziel hingegangen, aber sie haben das Ziel überhaupt nicht erreicht, denn unterwegs haben die Taliban die beiden Männer mitgenommen und ab diesem Zeitpunkt galt für mich mein Mann als verschollen. Ich bin mit meinen vier Kindern und den Kindern des Bruders meines Mannes und einem jüngeren Bruder von meinem Mann, alle zusammen, in den Iran gegangen. Das war im Frühling. Ganz ehrlich weiß ich es nicht so genau.“

Der Richter fragte die Beschwerdeführerin: „Wurden Sie persönlich von den Kutschis angegriffen oder bedroht?“ Die Beschwerdeführerin antwortete: „Ja, wie gesagt, in diesem Zusammenhang haben sie mir auf den Kopf geschlagen und seit diesem Tag habe ich Kopfschmerzen. Ich habe deshalb Nervenprobleme. Aus diesem Grund gehe ich zum Arzt. […] Es war genau an dem Tag, an dem diese Auseinandersetzung passiert ist. Damit meine ich, an dem Tag, an dem die Tochter des Bruders meines Mannes mitgenommen wurde. An diesem Tag haben Sie mich geschlagen. […] Es war etwas aus Holz. Damit meine ich, es kann ein Stiel eines Krampens oder einer Schaufel gewesen sein.“

Ein Schlepper hätte ihnen dann geholfen in den Iran zu gelangen. Sie hätten sich im Iran, in Teheran, XXXX niedergelassen. Sie hätte sich ohne ihren Mann durchschlagen müssen. Sie habe auch gearbeitet. Sie hätte auf niemanden gewartet, um ihr zu helfen, weswegen sie begonnen hätte Kleidung zu nähen. Ihr Mann sei etwa acht Jahre später nachgekommen. Sie hätten im Iran kein Aufenthaltsrecht gehabt. Ihr Leben im Iran hätte aus Arbeit bestanden. Sie selbst hätte keine Probleme mit der Polizei gehabt. Ihr Mann und auch andere Männer hätten immer Probleme mit der Polizei gehabt. Ihr Leben im Iran habe sich zu ihrem Leben in Afghanistan dadurch unterschieden, dass sie nicht jedes Jahr die Kutschis gesehen hätte. Sonst sei nicht ein so großer Unterschied gewesen. Sie habe etwa 17 Jahre im Iran gelebt. Sie seien vor etwa zwei Jahren aus dem Iran ausgereist. Ihr Mann und ihr Sohn, der jetzt in Griechenland aufhältig ist, hätten entweder in den Krieg nach Syrien ziehen oder nach Afghanistan zurückzugeschickt werden sollen. Aus diesem Grund hätten sie den Iran verlassen. Ihre Tochter XXXX sei schon früher ausgereist. Sie sei mit ihrem Mann, mit XXXX und mit jener Tochter, die zurzeit in Großbritannien leben würde, ausgereist. Ihr Sohn, der jetzt in Griechenland leben würde, habe den Iran auch schon früher verlassen. Sie seien in Griechenland bei der Zuteilung zu den Fahrzeugen getrennt geworden und hätten sich auf der Weiterreise verloren. Ihre Tochter hätte sich alleine, auch mit Hilfe ihrer Englischkenntnisse bis nach Großbritannien durchgeschlagen. Ihr Mann sei seit etwa fünf Monaten in Österreich und seit zwei Monaten würden sie wieder zusammenleben. Ihr Ziehsohn, XXXX habe keine eigenen Fluchtgründe, er sei immer ihr Kind gewesen. Er würde hier in Österreich zur Schule gehen.

Auf die Frage des Richters, ob sie aktuelle gesundheitliche oder psychische Probleme habe, antwortete die Beschwerdeführerin, sie würde zurzeit Medikamente nehmen, für die sie eine Bestätigung vorgelegt habe. Sie habe Nervenprobleme, einen hohen Blutdruck und was das Mentale oder Seelische angehen würde, würde sie sich depressiv fühlen. Sie leide auch unter Diabetes. Ihr Ziehsohn sei gesund.

„RI: Was machen Sie derzeit in Österreich?

BF: Jeden Tag nehme ich meinen Ziehsohn mit in die Schule und dann besuche ich einen Deutschkurs.

RI: Wie lange besuchen Sie schon einen Deutschkurs?

BF: Seit zwei Monaten.

RI: Haben Sie auch schon einen Alphabetisierungskurs besucht?

BF: Ja, diesen genannten Kurs, den Sie gesagt haben, habe ich auch gehabt. Es gibt eine österreichische Dame, die mich in diesem Alphabetisierungskurs unterrichtet hat. Aber wegen der Corona-Krise unterrichtet sie mich nur telefonisch. Ich habe auch ihretwegen Sorgen, weil sie ist eine ältere Dame.

RI: Können Sie mittlerweile ein bisschen lesen und schreiben?

BF: Ja, schon, aber mein Lesen ist besser als mein Schreiben.

RI: Leben Sie mit Ihrer Tochter XXXX in einem Haushalt?

BF: Ja.

RI: Wer lebt sonst noch in dieser Wohnung?

BF: Mein Ehemann, mein Ziehsohn XXXX , meine Tochter XXXX und, so Gott will, wird mein Sohn aus Griechenland dazukommen.

RI: Was macht Ihre Tochter XXXX in Österreich?

BF: Sie geht zur Uni.

Die anwesende Tochter gibt an, dass sie an der TU technische Chemie studiert.

RI: Hat sich Ihr Leben, seit Sie in Österreich sind, wesentlich verändert?

BF: Ja, es ist ein großer Unterschied. Ich bin dafür auch dankbar. Ich bin jetzt frei. Vor allem kann ich hier lernen und das macht einen großen Unterschied. Ich kann auch selbst einkaufen gehen.

RI: Gehen Sie alleine einkaufen?

BF: Ja, alleine.

RI: Gehen Sie auch alleine zum Arzt?

BF: Ja.

RI: Betreiben Sie irgendeinen Sport?

BF: Ja, wenn ich das Sport nennen kann, gehe ich sehr viel zu Fuß.

RI: Können Sie Radfahren oder Schwimmen?

BF: Nein, aber ich versuche, in der Zukunft, Fahrradfahren zu lernen. Vor allem bin ich interessiert, wieder als Schneiderin Fuß zu fassen.

RI: Wollen Sie, dass sich Ihre Kinder ihren Partner selbst aussuchen können?

BF: Ja, das ist ehrlich gesagt auch mein Ziel und dieses Ziel ist hier auch erreichbar.

RI: Was sagen Sie dazu, dass Ihre Tochter XXXX hier in Österreich und studiert und bisher nicht geheiratet hat?

BF: Deshalb hat sie diese Freiheit, um auswählen zu können, ob sie zuerst studieren oder heiraten will. Weder will ich das noch kann ich das hier, dass ich sie mit Gewalt verlobe.

RI: Welche Pläne haben Sie für Ihre Zukunft in Österreich?

BF: Wie gesagt, werde ich mein Deutsch verbessern und werde sicher eine kleine Werkstatt oder ein Geschäft aufmachen, um als Schneiderin tätig zu sein. Zurzeit kann ich auch sehr gut als Schneiderin arbeiten, aber zuerst muss ich mein Deutsch verbessern.

RI: Sehen Sie sich selbst als eine westlich orientierte Frau, die von ihren Grundrechten Gebrauch macht oder als eine Frau, die die afghanischen Traditionen bewahren und danach auch in Österreich leben will?

BF: Ich würde gerne meine Rechte auch beanspruchen. Ich bin grundsätzlich gegen solche Menschen, die z.B. versuchen, andere zu etwas zu zwingen.

RI: Was würde mit Ihnen geschehen, wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren würden?

BF: Meine größte Angst ist vor den Kutschis. Ich erinnere mich sehr genau daran. Wenn ich mich an sie erinnere, dann erinnern sie sich sicher auch an uns.

RI: Könnten Sie in Afghanistan so leben, wie Sie jetzt in Österreich leben?

BF: Nein, das ist nicht möglich.

RI: Was würde geschehen, wenn Sie es trotzdem versuchen würden?

BF: Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was passieren würde. Ich will selbst nicht mehr so leben.

RV: Haben Sie eine Bankomatkarte?

BF: Ja.

RV: Wer entscheidet, was mit dem Geld, das Sie bekommen, geschieht? Wer trifft die Entscheidung, was gekauft wird?

BF: Ich persönlich.

RV: Keine ergänzenden Fragen.

RI: Verwalten Sie das Geld für sich und Ihren Mann?

BF: Ja, er ist auch damit einverstanden. Anders gesagt, er vertraut mir 100 %.

RI: Was sagt Ihr Mann sonst zu den Veränderungen in Ihrem Leben?

BF: Er freut sich darüber.

RV hat keine weiteren Fragen.“

Im aktuellen Strafregisterauszug der Beschwerdeführerin scheint keine Verurteilung auf. Gemäß § 45 Abs.3 AVG wurde den Verfahrensparteien das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 01.04.2021 (soweit verfahrensrelevant).zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt. Innerhalb der gleicher Frist können noch weitere Dokumente zum Gesundheitszustand und der Integration der Beschwerdeführerin vorgelegt werden und auch Rechtsausführungen erstattet werden.

Am 18.05.2021 wurde durch die Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin, XXXX , eine Stellungnahme zur mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 04.05.2021 eingebracht.
„Nach mittlerweile stRsp des VwGH können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 22.03.2017, Ra 2016/18/0388).

Für die Beschwerdeführerin ist eine solche Lebensweise, in der die Anerkennung und die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie ist eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrehitlich gelebten Frauen und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Die Beschwerdeführerin lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht mehr vorstellen, nach den konservativ-afghanischen Traditionen zu leben, vielmehr lehnt sie diese ab.

Es handelt sich bei der Beschwerdeführerin somit um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten allgemein als „westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist.

Die BF schilderte in der mündlichen Verhandlung am 04.05.2021 dass sie sich seit ihrer Ankunft in Österreich erstmals frei fühlt, dass sie es schätzt, in Österreich lernen zu können, einkaufen zu können, sich kleiden zu können, wie sie möchte, dass sie Rad fahren lernen möchte und hier - als Frau - ihre eigenen Entscheidungen treffen kann. Die BF hat auch bereits einen konkreten Berufswunsch, sie möchte in Österreich als Schneiderin arbeiten.

Dass die BF nach wie vor ein Kopftuch trägt, ist allein ihre freie Entscheidung. Weiters legte die BF dar, dass sie sich seit ihrer Ankunft in Österreich bereits sehr verändert hat und sich nun an europäischen Frauen orientiert, leben möchte, wie ein Europäer, Die BF hat sich aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich in einem Entwicklungsprozess an eine Lebensführung ohne religiös-motivierte Einschränkungen angepasst, was sich primär in ihrer Einstellung widerspiegelt. Sie schilderte auch, dass sie sich seit der Ankunft ihres Ehemannes um seine Finanzen kümmert. Die BF und ihr Ehemann führen eine Ehe auf Augenhöhe und er unterstützt sie bei allen Veränderung, die die BF durchlebt. Außerdem kümmert sich die BF um ihren Ziehsohn, XXXX . Sie ist wie eine Mutter für ihn, bringt ihn in die Schule, spricht – so gut es aufgrund der Sprachbarriere geht – mit den Lehrern und trifft Entscheidungen bezüglich der Erziehung ihres Ziehsohnes und erledigt Arztbesuche mit ihrem Ziehsohn alleine.

Die BF unterstützt die seit einigen Jahren in Österreich lebende- asylberechtigte- Tochter XXXX , bei ihrem Studium an der Universität XXXX und generell bei der Führung ihres eigenständigen Lebens und unterstützt die freien Entscheidungen ihrer Tochter.

Die BF geht in Österreich alleine einkaufen, alleine zum Arzt, trifft familiäre und finanzielle Entscheidungen und verfügt über ein eigenes Konto.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Beschwerdeführerin in Afghanistan nie die Schule besuchen durfte, nun aber einen großen Wunsch nach Bildung hat und auch – trotz ihres erst kurzen Aufenthaltes einen Deutschkurs besucht, die deutsche Sprache unbedingt lernen möchte und ihr weiters Ziel, als Schneiderin arbeiten zu können, zu verfolgen.

Die Beschwerdeführerin schilderte mehrmals, dass sie sich nicht mehr vorstellen kann, nach Afghanistan zurückzukehren und wieder so zu leben, wie sie dies als Frau in Afghanistan musste.

Es ist daher davon auszugehen, dass eine Ablehnung der konservativ-islamischen Wertevorstellungen der Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich und ihrer Anpassung an das hier bestehende Werte- und Gesellschaftssystem zumindest unterstellt werden würde und, dass sie längerfristig auch nicht in der Lage wäre, ihre nunmehr westlich orientierten Wertevorstellungen auf Dauer zu verbergen.“

Es wurde anschließend auf die Länderberichte und ähnliche Berichte bezüglich Frauen Bezug genommen. Es wurde eine Anmeldebestätigung Deutschkurs-beginnend mit 01.03.2021 –vom 06.05.2021, eine Bestätigung Ordination XXXX vom 07.05.2021 und div. Fotos der Beschwerdeführerin vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:

1. Feststellungen:

Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist afghanische Staatsangehörige, sie gehört der Volksgruppe der Hazara und dem Stamm der Sadat an und ist schiitische Muslima. Sie führt den Namen „ XXXX “. Sie wurde mit 16 Jahren traditionell in Afghanistan verheiratet, hat vier Kinder geboren und einen (Zieh-) Sohn angenommen. Die Eltern dieses Kindes wurden bei einem Autounfall getötet. Das Kind lebt seit dem 6. Lebenmonat in der Familie und ist ihr Neffe.

Die Eltern der Beschwerdeführerin sind verstorben, eine Tochter ist verheiratet und lebt im Iran, eine Tochter hat den Asylstatus und lebt in Wien, eine Tochter lebt alleine in Großbritannien, der leibliche Sohn lebt in Griechenland, der angenommene Sohn lebt im Familienverband in Wien. Zu ihrem Halbbruder, der in Schweden aufhältig ist, hält die Beschwerdeführerin Kontakt.

Für die Beschwerdeführerin ist ein gelebter „westlich“ orientierter Lebensstil, in dem die Anerkennung und die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Ihre Wertehaltung und ihre Lebensweise orientiert sich an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild. Die Beschwerdeführerin hat bereits bei ihrer Flucht von Afghanistan in den Iran erkannt, dass für sie eine grundsätzliche Änderung in ihrem Leben nicht eingetreten ist, im Gegenteil für sie war die Pflichterfüllung besonders als Frau auch hier gefragt. Die Beschwerdeführerin war für einige Jahre, als alleinerziehende Mutter, für den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder, trotz illegalen Aufenthalts im Iran, verantwortlich. Mit ihren Aufenthalt in Österreich lehnt sie offen ab, nach den konservativ-afghanischen Traditionen zu leben. Sie ist auf ihre Eigenständigkeit bedacht und orientiert sich in ihrer persönlichen Wertehaltung an dem in Europa mehrheitlich gelebten allgemein als „westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild. Hierbei ist zu beachten, dass die Beschwerdeführerin Analphabetin ist, es wurde ihr untersagt in Afghanistan die Schule zu besuchen und sie wurde bereits mit 16 Jahren verheiratet und hatte die entsprechenden Pflichten und keine Rechte zu übernehmen. Nunmehr befindet sich die Beschwerdeführerin aufgrund ihres Aufenthaltes in Österreich in einem Entwicklungsprozess an eine Lebensführung, die sich nicht an religiös-motivierte Einschränkungen angepasst, was sich primär in ihrer Einstellung widerspiegelt.

Seit ihrer Ankunft in Österreich fühlt sie sich das erstemal in ihrem Leben frei. Sie beginnt als Frau ihre Entscheidungen zu treffen. Sie kümmert sich um ihre Finanzen und seit der Ankunft ihres Ehemanns auch um seine Finanzen. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann führen eine Ehe auf Augenhöhe und er unterstützt sie bei ihrer Veränderung. Für ihren Ziehsohn, XXXX hat sie die Verantwortung übernommen. Ihr obliegt die Erziehung und Obsorge, sie bringt ihn u.a. zur Schule und hält – so gut es aufgrund der Sprachbarriere geht – mit den Lehrern Kontakt.

Die Beschwerdeführerin befürwortet, dass die seit einigen Jahren in Österreich lebende- asylberechtigte- Tochter XXXX , an der Universität XXXX studiert und dass ihre in Großbritannien lebenede Tochter ihrer eigenständigen Leben alleine führt. Sie befürwortet die freien Entscheidungen ihrer Töchter.

Die Beschwerdeführerin geht in Österreich alleine einkaufen, alleine zum Arzt, trifft familiäre und finanzielle Entscheidungen und verfügt über ein eigenes Konto mit Bankomatkarte und beginnt Sport auszuüben.

Die Beschwerdeführerin schilderte mehrmals, dass sie sich nicht mehr vorstellen kann, nach Afghanistan zurückzukehren und wieder so zu leben, wie sie dies als Frau in Afghanistan musste.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich nicht verurteilt.

Zu Afghanistan wird verfahrensrelevant folgendes festgestellt (Auszüge aus den LIB):

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan (Stand 02.04.2021, Schreibfehler teilweise korrigiert):

„Relevante Bevölkerungsgruppen

Letzte Änderung: 01.04.2021

Frauen

Letzte Änderung: 01.04.2021

Art. 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.01.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.07.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.06.2018).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (HRW 30.06.2020; vgl. STDOK 25.06.2020, AA 16.07.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.07.2020; vgl.: REU 02.12.2019, STDOK 25.06.2020). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.07.2020; vgl. STDOK 25.06.2020).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.06.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.07.2020).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. STDOK 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht, Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen sowohl national als auch international zum Thema regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.06.2020; vgl. AT 06.11.2019). Aus verschiedenen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.06.2020; vgl. RY 01.08.2019, BBC 10.07.2019).

Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Gemäß Art. 83 und 84 sind Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm „Women’s Economic Empowerment“ gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 28.02.2019). So hat die afghanische Regierung u.a. gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das Projekt „Enhancing Gender Equality and Mainstreaming in Afghanistan“ (EGEMA) beispielsweise ist ein Gemeinschaftsprojekt der afghanischen Regierung und des UNDP (United Nations Development Program) Afghanistan und hat den Hauptzweck, das Ministerium für Frauenrechte (MoWA) zu stärken. Es läuft von Mai 2016 bis Dezember 2020 (UNDP o.D.).

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.06.2020; vgl. BBC 27.02.2020, BP 31.08.2020, TN 31.05.2019, Taz 06.02.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu lernen, zu studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass „im Namen der Frauenrechte“ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 06.02.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln oktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 03.09.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (BP 31.08.2020; vgl. WP 12.09.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.08.2020).

Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.06.2019; vgl. STDOK 25.06.2020).

Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 – November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen, und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.06.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.03.2020; vgl. STDOK 25.06.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.03.2020). Die afghanische Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte, die für sexuelle Übergriffe verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.01.2021).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.07.2020).

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Bildung für Mädchen

Letzte Änderung: 01.04.2021

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt worden war, Schulbildung erhalten (HRW 30.06.2020; vgl. KUR 17.12.2019, STDOK 25.06.2020), Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ist seitdem ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen (STDOK 25.06.2020; vgl. REU 02.12.2019). Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren (STDOK 25.06.2020; vgl.: OI 03.12.2019, AT 06.11.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.03.2020; vgl. UNICEF 8.2020). Untersuchungen von Human Rights Watch (HRW) und anderen belegen eine steigende Nachfrage nach Bildung in Afghanistan, einschließlich einer wachsenden Akzeptanz eines Schulbesuchs von Mädchen in vielen Teilen des Landes. NGOs, die „gemeindebasierte Bildung“ unterstützen - Schulen, die sich in Häusern in den Gemeinden der Schülerinnen und Schüler befinden, waren oft erfolgreicher, wenn es darum ging, Mädchen den Schulbesuch in Gegenden zu ermöglichen, in denen sie aufgrund von Unsicherheit, familiärem Widerstand und Gemeindeeinschränkungen nicht in der Lage gewesen wären, staatliche Schulen zu besuchen. Doch das Versäumnis der Regierung, diese Schulen in das staatliche Bildungssystem zu integrieren, hat in Verbindung mit der uneinheitlichen Finanzierung dieser Schulen dazu geführt, dass vielen Mädchen die Bildung vorenthalten wird (HRW 30.06.2020).

Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.05.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).

Schätzungen zufolge sind etwa 3,7 Mio. Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.05.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.05.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017.

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.08.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die nun vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.06.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (STDOK 13.06.2019).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.05.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.05.2019; UNAMA 24.04.2019; PAJ 16.04.2019; PAJ 15.04.2019; PAJ 31.01.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.05.2019). Obwohl die Taliban offiziell erklären, dass sie nicht mehr gegen die Bildung von Mädchen sind, gestatten nur sehr wenige Taliban-Entscheidungsträger Mädchen tatsächlich den Schulbesuch nach der Pubertät. Andere gestatten Mädchenschulen überhaupt nicht. Diese Ungereimtheiten führen zu Misstrauen in der Bevölkerung. Beispielsweise haben Taliban in mehreren Distrikten von Kunduz den Betrieb von Mädchen-Grundschulen zugelassen und in einigen Fällen Mädchen und jungen Frauen erlaubt, in von der Regierung kontrollierte Gebiete zu reisen, um dort höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen von den Taliban kontrollierten Distrikten in der Provinz Helmand keine funktionierenden Grundschulen für Mädchen, geschweige denn weiterführende Schulen - einige dieser ländlichen Distrikte hatten keine funktionierenden Mädchenschulen, selbst als sie unter Regierungskontrolle standen. Ihre inkonsistente Herangehensweise an Mädchenschulen spiegelt die unterschiedlichen Ansichten der Taliban-Kommandeure in den Provinzen, ihre Stellung in der militärischen Kommandohierarchie der Taliban und ihre Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften wider. In einigen Distrikten hat die lokale Nachfrage nach Bildung die Taliban-Behörden überzeugt oder gezwungen, einen flexibleren Ansatz zu wählen (HRW 30.06.2020).

Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung, genannt Kankor, ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen, und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.02.2019).

Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und - aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.02.2019).

Es gibt aktuell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28%) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a). Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht.

Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studentinnen zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell.

Mithilfe des Higher Education Development Programms haben 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, 65 Frauen waren dabei, im Ausland ein Masterstudium abzuschließen und 41 weitere standen vor ihrem Studienbeginn (WB 06.11.2018).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für „Frauen- und Genderstudies“ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018, Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 07.11.2017).

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Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Letzte Änderung: 01.04.2021

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.03.2020). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.06.2020, vgl. WS 02.12.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.07.2020; vgl. BBW 28.08.2019). Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent, und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 06.09.2019).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 03.04.2019) wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8% angegeben wurde (WB 21.06.2020). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.06.2020; vgl. OI 03.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse, die als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.07.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.06.2020; vgl. REU 20.05.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.06.2020; vgl. WS 26.11.2019).

Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.03.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22 auf 30% zu erhöhen (USAID 24.07.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 06.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollten mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 hatten 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen waren in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.07.2019).

Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 11.03.2020); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 11.03.2020). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.07.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women’s Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.06.2020; vgl. OI 03.12.2019).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.07.2020; vgl. USDOS 11.03.2020).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 07.03.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.05.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.07.2020), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 11.03.2020). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.07.2020).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dom

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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