TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/14 W214 2190334-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.06.2021
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Entscheidungsdatum

14.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W214 2190334-1/59E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. SOUHRADA-KIRCHMAYER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. am XXXX Staatsangehörigkeit: Syrien, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger muslimisch-sunnitischen Glaubens und Zugehöriger der Volksgruppe der Araber, stellte am XXXX 10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am darauffolgenden Tag gab er an, illegal aus Syrien ausgereist zu sein, sein Wohnsitz habe sich zuletzt in XXXX befunden. Weiters gab er an, dass das Regime und die YPG ihn mehrmals rekrutieren hätten wollen, einmal hätten ihn die YPG Leute mit Gewalt zu einem Ausbildungslager mitgenommen, von wo er geflüchtet sei. Er wolle nicht am Krieg teilnehmen und fürchte bei einer Rückkehr nach Syrien um sein Leben.

2. Am 06.06.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch niederschriftlich einvernommen. Er gab an, in der Stadt XXXX , im Stadtteil XXXX , gelebt zu haben, die Stadt sei teils unter Kontrolle des syrischen Regimes, teils unter Kontrolle der YPG. Er sei Ende 2015 von der YPG desertiert und dann geflüchtet. Die YPG habe ihn auf der Straße rekrutiert, es sei egal ob man Araber oder Kurde sei, jeder in seiner Stadt im Alter von 15-16 Jahren werde von der YPG eingezogen. Er habe es abgelehnt zu kämpfen, die YPG habe ihm zwar „nichts getan“, er habe aber in der Kaserne bleiben müssen. Als er für ein paar Tage eine Besuchsgenehmigung für zu Hause gehabt habe, sei er geflüchtet. Er sei insgesamt drei Monate in der Kaserne gewesen, nach drei Monaten Ausbildung hätte er gegen den IS kämpfen gehen müssen. Weiters gab der Beschwerdeführer an, dass er im Falle einer Rückkehr seinen Militärdienst zu leisten hätte, da er nunmehr volljährig sei.

3. Mit dem angefochten Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt III.).

Die belangte Behörde stellte unter anderem fest, dass keine Verfolgung des Beschwerdeführers durch den syrischen Staat, die YPG oder andere Gruppierungen vorliege, und der Beschwerdeführer auch keine Einberufung zum Militärdienst erhalten habe. Der Beschwerdeführer war nach den Feststellungen der belangten Behörde auch weder politisch tätig, noch Mitglied einer politischen Partei. Probleme in Syrien aufgrund einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, Religion oder ethnischen Gruppe konnten ebenso wenig wie Probleme mit Privatpersonen festgestellt werden. Zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers nahm die belangte Behörde an, dass Gründe für die Annahme bestünden, dass im Falle der Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung eine nicht ausreichende Lebenssicherheit für den Beschwerdeführer bestünde und der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr zum Militärdienst einberufen werden könnte. Eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK erkannte die Behörde darin jedoch nicht und führte aus, dass ein möglicher Militärdienst keine individuelle, personenbezogene Verfolgung darstelle, da dieser alle männlichen Syrer im wehrfähigen Alter betreffen könne. Zudem habe der Beschwerdeführer stark widersprüchliche Angaben getätigt und keine Furcht vor Verfolgung glaubhaft machen können.

Aufgrund der allgemeinen Lage in Syrien wurde dem Beschwerdeführer jedoch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG wurde dem Beschwerdeführer ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

4. Gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin brachte der Beschwerdeführer vor, dass er, als er noch ein Teenager gewesen sei, von Soldaten/Kämpfern der YPG angesprochen worden sei, bei ihnen mitzumachen. Um einer Zwangsrekrutierung oder Gewaltanwendung durch die Miliz zu entgehen, habe er das „Angebot“ angenommen und sich in deren dreimonatigen Ausbildungsdienst geübt. Als er aber gemerkt habe, dass er nicht für den Dienst an der Waffe geschaffen sei, er niemals auf Zivilisten schießen und diese töten könne, habe er die Gelegenheit vor einem genehmigten dreitägigen Hausbesuch wahrgenommen um seinen Vorgesetzten zu sagen, dass er nicht mehr bei ihnen weitermachen wolle. Diese hätten die Entscheidung zur Kenntnis genommen und ihn ohne Androhung von Repressalien aus deren Truppen entlassen. Der Beschwerdeführer habe sich daraufhin entschlossen, Syrien zu verlassen, da die Gefahr einer Einberufung durch die syrische Armee und eine Rekrutierung zum Wehrdienst einfach zu hoch gewesen sei. Er könne aus weltanschaulich-politischen (Gewissens-)Gründen keine Waffe tragen und sich somit nicht in kriegerische Auseinandersetzungen verwickeln lassen. Er werde von Seiten des Regimes Assad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit wohl gar als Vaterlandsverräter oder auch Deserteur angesehen. Die belangte Behörde habe es unterlassen, den Beschwerdeführer ausführlichst zum syrischen Militärdienst zu befragen und verkenne die Asylrelevanz einer Wehrdienstverweigerung zur Gänze. Zudem habe die belangte Behörde in Bezug auf die Konsequenzen der Wehrdienstverweigerung nur unzureichende Länderfeststellungen getroffen. Nach den Länderfeststellungen sei der Beschwerdeführer diesbezüglich jedenfalls als Betroffener und damit in vollem Maße als schutzwürdig zu betrachten. Es bestünde für den Beschwerdeführer keinerlei Schutz davor, nicht sogleich nach einer erfolgten Rückkehr zwangsrekrutiert zu werden. Zudem habe sich die belangte Behörde nicht damit auseinandergesetzt, dass dem Beschwerdeführer alleine aufgrund seiner Antragstellung auf internationalen Schutz in Österreich im Falle einer Rückkehr Verfolgung drohe. Hätte die belangte Behörde ihre Ermittlungspflicht in angemessener Weise wahrgenommen und den vorliegenden Sachverhalt angemessen gewürdigt und rechtlich richtig beurteilt, hätte sie feststellen müssen, dass eine mit Vernunft begabte Person in der Situation des jugendlich-unerfahrenen Beschwerdeführers ebenfalls wohlbegründete Furcht vor asylrelevanter Verfolgung in Syrien hätte und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuerkennen müssen.

5. Die belangte Behörde machte von der Möglichkeit der Beschwerdevorentscheidung nicht Gebrauch und legte die Beschwerde samt den bezughabenden Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

6. Am 18.09.2019 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, zu welcher der Beschwerdeführer jedoch nicht erschien. Die Verhandlung wurde auf unbestimmte Zeit vertagt. Die damalige Rechtsvertretung des Beschwerdeführers teilte dem Bundesverwaltungsgericht am selben Tag mit, dass die Vollmacht bereits im Vorfeld aufgelöst worden sei, da der Beschwerdeführer nicht erreichbar gewesen sei.

7. Am 20.05.2020 fand eine weitere Tagsatzung der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, zu welcher der Beschwerdeführer – trotz persönlicher zugestellter Ladung – abermals nicht erschien.

8. Am 01.09.2020 wurde der Beschwerdeführer in Justizanstalt XXXX eingeliefert, weshalb die Tagsatzung vom 03.09.2020 abermals vom Beschwerdeführer unbesucht blieb.

9. Am 14.04.2021 fand eine weitere Tagsatzung im gegenständlichen Verfahren im Beisein des Beschwerdeführers sowie seines Rechtsvertreters, welche per Videokonferenz zur Justizanstalt XXXX zugeschaltet wurden, und eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch statt.

In der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer unter anderem zu seinen rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen sowie seinen Fluchtgründen befragt, wobei der Beschwerdeführer sein Fluchtvorbringen aufrecht hielt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger, muslimisch-sunnitischen Glaubens und Zugehöriger der arabischen Volksgruppe. Er trägt den im Spruchkopf angeführten Namen und ist an dem im Spruchkopf angeführten Datum geboren. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf internationalen Schutz war der Beschwerdeführer noch minderjährig, mittlerweile ist er volljährig.

1.1.2. Er reiste am XXXX 10.2015 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.1.3. Der Beschwerdeführer wurde in Österreich mehrmals straffällig und bislang vier Mal rechtskräftig verurteilt:

1.1.3.1. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2017, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB sowie des versuchten Diebstahls gemäß § 15 § 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Wochen verurteilt, wobei diese unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

1.1.3.2. Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX 2019, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen des versuchten Diebstahls gemäß § 15 § 127 StGB sowie des vorschriftswidrigen Besitzes von Suchtgift gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 2.Fall iVm Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt, wobei diese unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Die, mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX .2017, Zl. XXXX ausgesprochene, Probezeit wurde auf 5 Jahre verlängert.

1.1.3.3. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX ,wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der Sachbeschädigung gemäß § 125 Abs. 1 StGB sowie der gefährlichen Drohung gemäß § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, wobei diese unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Zudem wurde für den Beschwerdeführer die Bewährungshilfe angeordnet.

1.1.3.4. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX 2020, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens des Suchtgifthandels gemäß § 28a Abs. 1 5. Fall iVm § 28a Abs. 3 SMG sowie der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 7. Fall, Abs. 4 Z 1 SMG sowie § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2.Fall, Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt.

1.1.3.5. Es liegen jedoch derzeit keine Asylausschlussgründe vor.

1.1.4. Der Beschwerdeführer ist gesund.

1.1.5. Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt XXXX , im Distrikt XXXX , geboren, das im kurdischen Gebiet liegt, wobei einige Stadteile auch vom syrischen Regime kontrolliert werden. Der Beschwerdeführer war zuletzt auch in der Stadt XXXX , und zwar im Bezirk XXXX wohnhaft. Dieser Stadtteil wird aktuell von kurdischen Kräften kontrolliert. Die Eltern, ein Bruder und zwei Schwestern des Beschwerdeführers leben noch dort, sie sind keiner Gefährdung durch die dortigen Machthaber oder die syrische Regierung ausgesetzt.

1.1.6. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Syrien keine asylrelevante Verfolgung aus den von ihm geltend gemachten oder aus anderen Gründen. Der Beschwerdeführer hatte in Syrien vor seiner Ausreise weder mit staatlichen oder kurdischen Stellen oder Behörden bzw. deren Organen jemals Probleme, noch wird in Syrien nach ihm gefahndet. Der Beschwerdeführer wurde vor seiner Ausreise in Syrien nicht verfolgt und droht ihm auch bei einer Rückkehr nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Einberufung zum Wehrdienst durch das syrische Regime oder die Zwangsrekrutierung durch kurdische Kräfte. Dem Beschwerdeführer droht auch keine Verfolgung wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien oder seiner Asylantragstellung in Österreich, welche dem syrischen Staat nicht bekanntgeworden ist. Der Beschwerdeführer kann von der Türkei aus über den Grenzübergang Bab al-Hawa, welcher unter Kontrolle der Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Sham steht, nach Syrien ein- und weiter in sein Herkunftsgebiet reisen, ohne Gebiete queren zu müssen, die unter Kontrolle des syrischen Regimes stehen.

Andere Gründe, die einer Rückkehr nach Syrien entgegenstehen würden, wurden vom Beschwerdeführer nicht vorgebracht.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Syrien:

Länderinformation der Staatendokumentation Syrien (letzte Änderung 11.02.2021)

Politische Lage

Letzte Änderung: 11.02.2021

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 25.2.2019). Seit der Machtergreifung Assads haben weder Vater noch Sohn eine politische Opposition geduldet. Jegliche Versuche eine politische Alternative zu schaffen wurden sofort unterbunden, auch mit Gewalt (USCIRF 26.4.2017).

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weit verbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).

Die syrische Verfassung sieht die Ba'ath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat (USDOS 11.3.2020). Die Verfassungsreform von 2012 lockerte die Regelungen bezüglich der politischen Partizipation anderer Parteien. In der Praxis unterhält die Regierung jedoch noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat zur Überwachung von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten der Regierung Assads entwickeln könnten (FH 1.2018).

Wahlen in Syrien dienen nicht dazu, Entscheidungsträger zu finden, sondern dem Staat den Anschein eines demokratischen Verfahrens zu geben, Normalität zu demonstrieren und die Fassade von demokratischen Prozessen aufrechtzuerhalten (BS 29.4.2020).

2014 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, welche zur Wiederwahl von Präsident Assad führten (USDOS 11.3.2020), wodurch dieser für weitere sieben Jahre im Amt bestätigt wurde (WKO 11.2018). Die Präsidentschaftswahl wurde nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abgehalten. Sie wurde von der EU und den USA als undemokratisch kritisiert, die syrische Opposition sprach von einer "Farce" (Ha'aretz 4.6.2014).

Mitte September 2018 wurden in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zum ersten Mal seit 2011 wieder Kommunalwahlen abgehalten (IFK 10.2018; vgl. WKO 11.2018). Der Sieg von Assads Ba'ath Partei galt als wenig überraschend. Geflohene und Binnenvertriebene waren von der Wahl ausgeschlossen (WKO 11.2018).

Im Juli 2020 fanden nach zweimaligem Verschieben des Wahltermins aufgrund der COVID-19-Pandemie die dritten Parlamentswahlen seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs statt. Die herrschende Ba'ath-Partei von Präsident Bashar al-Assad gewann wie erwartet die Mehrheit. Die Ba'ath-Partei und deren Verbündete schlossen sich zum Bündnis der "Nationalen Einheit" zusammen (DS 21.7.2020) und gewannen zumindest 177 der 250 Sitze (TWP 22.7.2020; vgl. AJ 22.7.2020), laut einer anderen Quelle 183 von 250 Sitzen (DS 21.7.2020). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, die das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (TWP 22.7.2020). Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in Wahllokalen, somit gibt es keinen Mechanismus, um zu überprüfen, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Jede Partei oder jeder Kandidat, der kandidieren möchte, muss die Namen seiner Mitglieder nach denen der Ba'ath-Partei auflisten, so dass jeder, der kandidiert, automatisch die Namen der Ba'ath-Mitglieder in den Vordergrund rückt. Druckereien dürfen auf Anordnung des Geheimdienstes keine Listen ohne die Namen der Ba'ath-Kandidaten drucken. Daher ist jeder, der kandidiert, standardmäßig nur ein Zusatz zu den Ba'ath-Kandidaten (AAN/MEI 24.7.2020).

Durch massive syrische und russische Luftangriffe und das Eingreifen Irans bzw. durch Iran unterstützter Milizen hat das syrische Regime mittlerweile alle Landesteile außer Teile des Nordwestens, Nordens und Nordostens von der bewaffneten Opposition zurückerobert (AA 4.12.2020).

Die Anzahl der Kampfhandlungen ist nach Rückeroberung weiter Landesteile zurückgegangen, jedoch besteht die Absicht des syrischen Regimes, das gesamte Staatsgebiet zurückerobern und "terroristische" Kräfte vernichten zu wollen, unverändert fort. Zuletzt erklärte Assad im August 2020 bei einer Rede vor dem syrischen Parlament die "Befreiung" aller syrischen Gebiete zum prioritären Ziel. Trotz der großen Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, fort. Dies gilt insbesondere für den Nordwesten und Nordosten des Landes (AA 4.12.2020). [Anm.: Nähere Informationen finden sich im Kapitel "Sicherheitslage".] Die Präsenz ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Akteure vor Ort zu kontrollieren. Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach legitimen Positionen zu streben (BS 29.4.2020).

Durch die Eskalation des Syrien-Konfliktes verlagerte sich die Macht zu regieren in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zunehmend auf die Sicherheitskräfte. In Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung ist dies nicht anders. Extremistische Rebellengruppierungen, darunter vor allem Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), haben die Vorherrschaft in Idlib. Lokalräte werden von militärischen Einheiten beherrscht, die momentan unter der Kontrolle von HTS stehen. In den kurdischen Gebieten in Nordsyrien dominiert die Partei der Demokratischen Union (PYD). Obwohl es Lippenbekenntnisse zur Integration arabischer Vertreter in Raqqa und Deir ez-Zour gibt, ist die Dominanz der PYD bei der Entscheidungsfindung offensichtlich. Die PYD hat zwar eine Reihe von Verwaltungsorganen auf verschiedenen Ebenen eingerichtet, es ist jedoch ein kompliziertes System mit sich überschneidenden Zuständigkeiten, das es für die Bürger schwierig macht, sich an der Politik zu beteiligen, wenn sie nicht bereits in die Parteikader integriert sind (BS 29.4.2020). Die PYD [ihrerseits nicht von EU oder USA verboten, Anm.] gilt als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (KAS 4.12.2018a).

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der PKK, deren Mitglieder die PYD gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, Ain al-Arab (Kobane) und die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava" bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS 4.12.2018a). Afrin im Nordwesten Syriens wird von der Türkei und alliierten syrischen oppositionellen Milizen kontrolliert (BBC 28.4.2020).

Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das nicht von islamistischen, sondern von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 4.12.2018a). Das Ziel der PYD ist nicht die Gründung eines kurdischen Staates in Syrien, sondern die Autonomie der kurdischen Kantone als Bestandteil eines neuen, demokratischen und dezentralen Syriens (KAS 4.12.2018a; vgl. BS 29.4.2020). Die PYD hat sich in den kurdisch kontrollierten Gebieten als die mächtigste politische Partei im sogenannten Kurdischen Nationalrat etabliert, ähnlich der hegemonialen Rolle der Ba'ath-Partei in der Nationalen Front (BS 2018). Ihr militärischer Arm, die YPG sind zudem die dominierende Kraft innerhalb des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Flüchtlingswelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen (KAS 4.12.2018a).

Die syrische Regierung erkennt die kurdische Enklave oder Wahlen, die in diesem Gebiet durchgeführt werden, nicht an (USDOS 11.3.2020). Im Zuge einer türkischen Militäroffensive, die im Oktober 2019 gestartet wurde, kam es jedoch zu einer Einigung zwischen beiden Seiten, da die kurdischen Sicherheitskräfte die syrische Zentralregierung um Unterstützung in der Verteidigung der kurdisch kontrollierten Gebiete baten. Die syrische Regierung ist daraufhin in mehrere Grenzstädte eingerückt (DS 15.10.2019).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (13.11.2018): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://www.ecoi.net/en/file/local/1451486/4598_1542722823_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-lage-in-der-arabischen-republik-syrien-stand-november-2018-13-11-2018.pdf, Zugriff 18.8.2020

AAN/MEI – Ayman Abdel Nour in Middle East Institute (24.7.2020): Syria’s 2020 parliamentary elections: The worst joke yet, https://www.mei.edu/publications/syrias-2020-parliamentary-elections-worst-joke-yet, Zugriff 18.8.2020

AJ – Al Jazeera (22.7.2020): Syria: Assad's Baath party wins majority in parliamentary polls, https://www.aljazeera.com/news/2020/07/syria-assad-baath-party-wins-majority-parliamentary-polls-200722065257820.html, Zugriff 18.8.2020

BBC – BBC News (28.4.2020): Syria war: Dozens killed in truck bomb attack at Afrin market, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-52454134, Zugriff 18.8.2020

BBC – BBC News (25.2.2019): Why is there a war in Syria?, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-35806229, Zugriff 18.8.2020

BS – Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf, Zugriff 19.8.2020

DS – Der Standard (21.7.2020): Assads Baath-Partei gewinnt Mehrheit bei Parlamentswahl in Syrien, https://www.derstandard.at/story/2000118902082/assads-baath-partei-gewinnt-mehrheit-bei-parlamentswahl-in-syrien, Zugriff 18.8.2020

DS – Der Standard (15.10.2019): "Schmerzhafter Kompromiss" für Kurden in Nordsyrien, USA verhängen Sanktionen, https://www.derstandard.at/story/2000109839161/erdogan-kuendigt-ausweitung-der-offensive-in-syrien-an, Zugriff 19.8.2020

FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2018 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2000847.html, Zugriff 22.7.2020

Ha'aretz (4.6.2014): Landslide Win for Assad in Syria’s Presidential Elections, http://www.haaretz.com/middle-east-news/1.597052, Zugriff 18.8.2020

IFK – Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement (10.2018): Factsheet Syrien No. 70, 14. August 2018 – 2.10.2018, http://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/fact_sheet_syr_70_deu.pdf, Zugriff 18.8.2020

KAS – Konrad Adenauer Stiftung [Gürbey, Gülistan] (4.12.2018a): Zwischen den Fronten – Die Kurden in Syrien, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zwischen-den-fronten-1, Zugriff 18.8.2020

Savelsberg, Eva: Der Aufstieg der kurdischen PYD im syrischen Bürgerkrieg (2011 bis 2017). In STDOK – Staatendokumentation des BFA [Österreich] (8.2017): Fact Finding Mission Report Syrien – mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/file_upload/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 24.7.2020

SHRC – Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 22.7.2020

Spiegel (29.8.2016): Die Fakten zum Krieg in Syrien, https://www.spiegel.de/politik/ausland/krieg-in-syrien-alle-wichtigen-fakten-erklaert-endlich-verstaendlich-a-1057039.html#sponfakt=1, Zugriff 18.8.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (7.2018): Die Kurden im Irak und in Syrien nach dem Ende der Territorialherrschaft des "Islamischen Staates", https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S11_srt.pdf, Zugriff 18.8.2020

TWP – The Washington Post (22.7.2020): Syria’s elections have always been fixed. This time, even candidates are complaining., https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/syrias-elections-have-always-been-fixed-this-time-even-candidates-are-complaining/2020/07/22/76e0bb12-cb5f-11ea-99b0-8426e26d203b_story.html, Zugriff 18.8.2020

USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom (26.4.2017): United States Commission on International Religious Freedom 2017 Annual Report; 2017 Country Reports: USCIRF Recommended Countries of Particular Concern (CPC): Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/1399549/5250_1494489917_syria-2017.pdf, Zugriff 18.8.2020

USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html, Zugriff 22.7.2020

WKO – Wirtschaftskammer Österreich – Außenwirtschaftscenter Amman (11.2018): Außenwirtschaft: Update Syrien, Zugriff 1.3.2019, liegt in der Staatendokumentation auf

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 12.02.2021

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018b). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten" Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.4.2016). Durch massive syrische und russische Luftangriffe und das Eingreifen Irans bzw. durch Iran unterstützter Milizen hat das syrische Regime mittlerweile alle Landesteile außer Teile des Nordwestens, Nordens und Nordostens von der bewaffneten Opposition zurückerobert. Trotz weitreichender militärischer Erfolge des syrischen Regimes und seiner Unterstützer sind Teile Syriens noch immer von Kampfhandlungen betroffen. Seit März 2020 sind Kampfhandlungen reduziert, dauern jedoch in mehreren Frontgebieten nach wie vor an (AA 4.12.2020). Der Menschrenrechtsmonitor Syrian Network for Human Rights spricht sogar von einem Rückgang an Militäroperationen von 85%, wobei die verbleibenden Militäroperationen sich hauptsächlich auf Bodenoffensiven konzentrieren, bei denen es jedoch nicht mehr zu maßgeblichem Vorrücken kommt (SHNR 26.1.2021).

Die faktische Ausübung der Kontrolle durch das syrische Regime unterscheidet sich stark von Gebiet zu Gebiet. Die verbleibenden Gebiete unterliegen keiner oder nur teilweiser Kontrolle des syrischen Regimes: Im Nordwesten werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte bewaffnete Oppositionsgruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei werden durch die Türkei und ihr nahestehende bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Weitere Gebiete in Nord- und Nordost-Syrien werden durch die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) sowie punktuell durch das syrische Regime kontrolliert. Das Assad-Regime hat wiederholt öffentlich erklärt, dass die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes weiterhin sein erklärtes Ziel sei (AA 4.12.2020).

Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 4.12.2020). Dies gilt auch für vermeintlich friedlichere Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie die Hauptstadt Damaskus (AA 19.5.2020).

43% der besiedelten Gebiete Syriens gelten als mit Minen und Fundmunition kontaminiert. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zour sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen (AA 4.12.2020). Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen mit derartigen Hinterlassenschaften des bewaffneten Konfliktes (DIS/DRC 2.2019). An Orten wie den Provinzen Aleppo, Dara'a, dem Umland von Damaskus, Idlib, Raqqa und Deir ez-Zour führt die Explosionsgefahr zu Verletzungen und Todesfällen, sie schränkt den sicheren Zugang zu Dienstleistungen ein und behindert die Bereitstellung humanitärer Hilfe. Mit Stand Juni 2020 leben 11,5 Millionen Menschen in den 2.562 Gemeinden, die in den letzten zwei Jahren von einer Kontamination durch Minen und explosive Hinterlassenschaften des Konflikts berichtet haben (UNMAS 6.2020).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen Syrian Democratic Forces (SDF) erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem U.S.-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich in den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZ 24.3.2019), und ist im Untergrund aktiv (AA 4.12.2020). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Schläferzellen des IS sind sowohl im Irak als auch in Syrien weiterhin aktiv (FAZ 10.3.2019), sowohl in syrischen Städten als auch in ländlichen Gebieten, besonders in den von der Regierung kontrollierten Gebieten (DIS 29.6.2020). Im Untergrund sollen mehr als 20.000 IS-Kämpfer auf eine Gelegenheit zur Rückkehr warten (FAZ 22.3.2019). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. Es sind zuletzt Berichte über Anschläge in Damaskus, Idlib, Homs sowie dem Süden und Südwesten des Landes und der zentralsyrischen Wüste bekannt geworden. Der Schwerpunkt der Anschläge liegt im Nordosten des Landes (AA 4.12.2020). Nach einer Zunahme der IS-Aktivitäten Anfang 2020 ist die Zahl der Angriffe durch den IS seit April 2020 zurückgegangen. Gegenwärtig gehören zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020).

Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 erneut ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9. Oktober 2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens ("Operation Friedensquelle") (CNN 11.10.2019; vgl. AA 19.5.2020). Durch den Abzug der US-Streitkräfte aus Nordsyrien und die türkische Offensive und die damit einhergehende Schwächung der kurdischen Sicherheitskräfte wurde ein Wiedererstarken des IS befürchtet (DS 13.10.2019; vgl. DS 17.10.2019). Die USA patrouillieren seit dem 31.10.2019 weiterhin in weiten Teilen des Nordostens (AA 4.12.2020).

Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche Zivilisten und Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von "Massakern", bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR 1.1.2020; vgl. SNHR 1.1.2021).

Laut Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) wurden im zweiten Quartal 2020 insgesamt 1.555 Todesopfer gezählt. Die meisten wurden durch Kämpfe (760) oder Explosionen/Fernangriffe (496) getötet, vor allem in den Provinzen Deir ez-Zour (255) und Hama (200), gefolgt von Idlib (196) und Raqqa (194). Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 28.10.2020).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (19.5.2020): Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom November 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031629/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Fortschreibung_des_Berichts_%C3%Bcber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_vom_November_2019_%28Stand_Mai_2020%29%2C_19.05.2020.pdf, Zugriff 7.9.2020

ACLED/ACCORD – Armed Conflict Location & Event Data Project, zusammengestellt von ACCORD (28.10.2020): SYRIEN, 2.QUARTAL 2020: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2040271/2020q2Syria_de.pdf, Zugriff 9.2.2021

CNN (11.10.2019): Everything you need to know about Turkey‘s military offensive in Syria, https://edition.cnn.com/2019/10/07/middleeast/six-questions-syria-us-intl/index.html, Zugriff 9.10.2020

DIS/DRC – Danish Immigration Service [Dänemark] / Danish Refugee Council (2.2019): Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, https://nyidanmark.dk/-/media/Files/US/Landerapporter/Syrien_FFM_rapport_2019_Final_31012019.pdf?la=da&hash=A4D0089B4FB64FC6E812AF6240757FC0097849AC, Zugriff 8.9.2020

DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (29.6.2020): Islamic State in Syria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2032499/COI_brief_report_Islamic_State_in_Syria_June_2020.pdf, Zugriff 9.10.2020

DS – Der Standard (17.10.2019): USA zerstören nach Nordsyrien-Abzug Waffenlager in Zementfabrik aus der Luft, https://www.derstandard.at/story/2000110026710/usa-zerstoeren-nach-abzug-waffenlager-in-zementfabrik-aus-der-luft, Zugriff 9.10.2020

DS – Der Standard (13.10.2019): Hunderte IS-Angehörige aus Lager im Norden Syriens geflohen, https://www.derstandard.at/story/2000109807141/usa-werfen-tuerkischer-armee-beschuss-von-us-truppen-in-syrien, Zugriff 9.10.2020

DZ – Die Zeit (24.3.2019): Kurden warnen vor Wiederaufstieg des IS, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/syrien-islamischer-staat-terrormiliz-kalifat-wiederaufstieg, Zugriff 9.10.2020

FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.3.2019): Sieg über Terrormiliz – Warum der IS weiter gefährlich bleibt, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/warum-der-is-weiter-gefaehrlich-bleibt-16103411.html, Zugriff 9.10.2020

FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.3.2019): Die letzte Schlacht gegen den „Islamischen Staat“ hat begonnen, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kurden-beginnen-angriff-auf-letzte-is-bastion-in-syrien-16082097.html, Zugriff 9.10.2020

KAS – Konrad Adenauer Stiftung [Wörmer, Nils] (4.12.2018b): Assads afghanische Söldner, https://www.kas.de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/assads-afghanische-soldner, Zugriff 22.9.2020

Liveuamap – Live Universal Awareness Map (9.2.2021): Map of Syrian Civil War, https://syria.liveuamap.com/en/time/09.02.2021, Zugriff 9.2.2021

Reuters (13.4.2016): Assad holds parliamentary election as Syrian peace talks resume, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-idUSKCN0XA2C5, Zugriff 9.10.2020

SNHR – Syrian Network for Human Rights (26.1.2021): The Bleeding Decade - Tenth Annual Report: The Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2020, https://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/Tenth_Annual_Report_The_Most_Notable_Human_Rights_Violations_in_Syria_in_2020_en.pdf, Zugriff 3.2.2021

SNHR – Syrian Network for Human Rights (1.1.2021): Extrajudicial Killing Claims the Lives of 1,734 Civilians in Syria in 2020, Including 99 in December Killings of IDPs and Deaths by Mines and Remote Bombings Stood Out Among Killings in Syria in 2020, https://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/Extrajudicial_Killing_Claims_the_Lives_of_1734_Civilians_in_Syria_in_2020_Including_99_in_December_en.pdf, Zugriff 3.2.2021

SNHR – Syrian Network for Human Rights (1.1.2020): 3,364 Civilians Documented Killed in Syria in 2019, http://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/3364_civilians_were_killed_in_Syria_in_2019_en.pdf, Zugriff 10.2.2020

UNMAS – United Nations Mine Action Service (6.2020): Syria, Explosive Hazard Contamination, https://www.unmas.org/en/programmes/syria, Zugriff 9.10.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Gebiete unter kurdischer Kontrolle

Letzte Änderung: 16.12.2020

Die kurdischen Behörden setzen in den von ihnen kontrollierten Gebieten einen Rechtskodex, basierend auf einer "Sozialcharta", durch. In Berichten wird diese "Sozialcharta" beschrieben als eine Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht mit Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und Steuerhinterziehung an europäischem Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt. Das Justizsystem in den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und Ermittlungsbehörden (USDOS 11.3.2020). Es wurde eine von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI 12.7.2017). Die in den Gebieten unter kurdischer Kontrolle geschaffenen Institutionen erscheinen zwar fortschrittlicher als jene des syrischen Regimes, sind in der Realität allerdings nicht demokratisch und stehen unter der strikten Kontrolle der PYD (BS 29.4.2020; vgl. FH 4.3.2020).

Die kurdischen Behörden haben den sogenannten "Defense of the People Court" eingerichtet, der über ehemalige Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in kurdischer Gefangenschaft urteilen soll. Das Gericht wird jedoch weder von den syrischen Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Die Höchststrafe, die dieses Gericht verhängt, ist eine lebenslange Freiheitsstrafe, wobei es sich de facto um eine zwanzigjährige Haftstrafe handelt. Gerichtsurteile werden bei guter Führung oder wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. Diese "mildere Vorgehensweise" hat zum einen den Zweck, der arabischen Mehrheitsbevölkerung Ost-Syriens, die den kurdischen Machthabern misstraut, guten Willen zu zeigen, zum anderen soll dadurch die Regierungskompetenz hervorgehoben und internationale Legitimität gewonnen werden. Das System weist jedoch auch gravierende Mängel auf, so haben die Angeklagten keinen Zugang zu einem Verteidiger und es gibt keine Möglichkeit, Berufung einzulegen (Ha'aretz 8.5.2018).

Juristen, welche unter dem Justizsystem von Rojava agieren, werden von der syrischen Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert, verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).

Quellen:

AI – Amnesty International (12.7.2017): Zwei von drei Aktivisten wieder frei, https://www.amnesty.de/mitmachen/urgent-action/zwei-von-drei-aktivisten-wieder-frei, Zugriff 20.8.2020

BS – Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report – Syria, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029497/country_report_2020_SYR.pdf, Zugriff 19.8.2020

FH – Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2020, Zugriff 22.7.2020

Ha'aretz (8.5.2018): Syria’s Kurds Put ISIS on Trial With Focus on Reconciliation, https://www.haaretz.com/middle-east-news/syria/syria-s-kurds-put-isis-on-trial-with-focus-on-reconciliation-1.6071212, Zugriff 20.8.2020

JS – Just Security (28.10.2019): Northeastern Syria: Complex Criminal Law in a Complicated Battlespace, https://www.justsecurity.org/66725/northeastern-syria-complex-criminal-law-in-a-complicated-battlespace/, Zugriff 20.8.2020

USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html, Zugriff 22.7.2020

Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 11.02.2021

Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für Täter vorsieht. Nichtsdestotrotz wenden die Sicherheitskräfte in Tausenden Fällen solche Praktiken an (USDOS 11.3.2020). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.1.2021; vgl. AI 18.2.2020, USDOS 11.3.2020, AA 4.12.2020). Sie richten sich von Seiten der Regierung insbesondere gegen Oppositionelle oder Menschen, die vom Regime als oppositionell wahrgenommen werden (AA 4.12.2020).

NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten begehen (USDOS 11.3.2020; vgl. TWP 23.12.2018). Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 11.3.2020). Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren (AA 4.12.2020).

Systematische Folter und die Bedingungen in den Haftanstalten führen häufig zum Tod von Insassen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Diese Bedingungen waren so durchgängig, dass die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu dem Schluss kam, diese seien Regierungspolitik (USDOS 11.3.2020). Laut Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festhalten werden (USDOS 11.3.2020; vgl. SHRC 24.1.2019). Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) an unbekannten Orten fest (USDOS 11.3.2020). Von Familien von Häftlingen wird Geld verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden, was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die Freilassung von Gefangenen zu erwirken (MOFANL 7.2019).

In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen. Selten wird ein Häftling freigelassen. Unschuldige bleiben oft in Haft, um Geldsummen für ihre Freilassung zu erpressen oder um sie im Zuge eines "Freilassungsabkommens" auszutauschen (SHRC 24.1.2019).

Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde, wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.). Berichten zufolge sind die Todesfälle auf Folter, Krankheit als Folge mangelnder Ernährung und Hygiene in den Einrichtungen und außergerichtliche Tötungen zurückzuführen (AA 20.11.2019; vgl. SHRC 24.1.2019). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert. Obwohl die Todesfälle in der Vergangenheit eingetreten sind, gibt das Regime diese nur nach und nach bekannt. 2020 lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, da der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert und die Familien aktiv im Melderegister suchen müssen, um den Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 1.2021). Die syrische Regierung übergibt die Überreste der Verstorbenen nicht an die Familien (HRW 14.1.2020).

Zehntausende Menschen sind weiterhin verschwunden, die Mehrheit seit 2011. Unter ihnen befinden sich humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten, friedliche Aktivisten, Regierungskritiker und -gegner sowie Personen, die anstelle von Verwandten, die von den Behörden gesucht wurden, inhaftiert wurden (AI 18.2.2020). In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.1.2020).

Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind jedoch keine Neuerung der Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).

Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen und der Folter von Inhaftierten beschuldigt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Opfer sind vor allem (vermutete) regierungstreue Personen und Mitglieder von Milizen oder rivalisierenden bewaffneten Gruppen. Zu den Bedingungen in den Hafteinrichtungen der verschiedenen regierungsfeindlichen Gruppen ist wenig bekannt, NGOs berichten von willkürlichen Verhaftungen, Folter und unmenschlicher Behandlung. Der sogenannte Islamische Staat (IS) agierte Berichten zufolge mit Brutalität und Missbräuchen gegen Personen in seiner Gefangenschaft in oder in der Nähe der schrumpfenden Gebiete, die er 2019 kontrollierte (USDOS 11.3.2020). Auch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nutzten in ihren Haftanstalten Folter, um Geständnisse zu erhalten, wobei die Folter oft aus Rache und basierend auf ethnischen Vorurteilen durchgeführt wurde. Der Menschenrechtsmonitor, Syrian Network for Human Rights, konnte im Jahr 2020 zumindest 14 Todesfälle aufgrund von Folter und fehlendem Zugang zu medizinischer Versorgung in den Haftanstalten der SDF dokumentieren (SNHR 26.1.2021).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt,_Bericht_%C3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020),_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.11.2019): Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/684542/6038295/21601427/Deutschland___Auswärtiges_Amt%2C_Bericht_über_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_20.11.2019)%2C_20.11.2019.pdf?nodeid=21602084&vernum=-2, Zugriff 26.8.2020

AI – Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa – Review of 2019, Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2025845.html, Zugriff 22.7.2020

FH – Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Syria, https://freedomhouse.org/country/syria/freedom-world/2020, Zugriff 22.7.2020

HRW – Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2043510.html, Zugriff 26.1.2021

HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2022683.html, Zugriff 22.7.2020

MOFANL – Ministry of Foreign Affairs of the Netherlands – Department for Country of Origin Information Reports (7.2019): Country of Origin Information Report Syria – The security situation [Niederlande], per E-Mail am 27.8.2019

SHRC – Syrian Human Rights Committee (1.2021): The 19th Annual Report on Human Rights in Syria 2020, https://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2021/01/SHRC-English-report_20210112.pdf, Zugriff 29.1.2021

SHRC – Syrian Human Rights Committee (24.1.2019): The 17th Annual Report on Human Rights in Syria 2018, http://www.shrc.org/en/wp-content/uploads/2019/01/English_Web.pdf, Zugriff 22.7.2020

SNHR – Syrian Network for Human Rights (26.1.2021): The Bleeding Decade - Tenth Annual Report: The Most Notable Human Rights Violations in Syria in 2020, https://sn4hr.org/wp-content/pdf/english/Tenth_Annual_Report_The_Most_Notable_Human_Rights_Violations_in_Syria_in_2020_en.pdf, Zugriff 3.2.2021

TWP – The Washington Post (23.12.2018): Syria’s once teeming prison cells being emptied by mass murder, https://www.washingtonpost.com/graphics/2018/world/syria-bodies/?noredirect=on&utm_term=.6a8815bb3721, Zugriff 22.7.2020

USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Syria, https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html, Zugriff 22.7.2020

Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 16.12.2020

Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht klar zwischen Wehr- und Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.

Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

Letzte Änderung: 11.02.2021

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 12.8.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Nach dem Ausbruch des Konfliktes stellte die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten, welche den verpflichtenden Wehrdienst geleistet hatten, ein (DIS 5.2020; vgl. ÖB 7.2019). 2018 wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren. Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch auch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020).

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird (STDOK 8.2017).

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (TIMEP 6.12.2018). Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt unverändert hoch, und seit Dezember 2018 haben sich die Rekrutierungsbemühungen aufgrund dessen sogar noch verstärkt (AA 4.12.2020). Während ein Abkommen zwischen den überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung vom November 2019 die Stationierung von Truppen der syrischen Streitkräfte in vormals kurdisch kontrollierten Gebieten vorsieht, hat die syrische Regierung aufgrund von mangelnder Verwaltungskompetenz bislang keinen verpflichtenden Wehrdienst in diesen Gebieten wiedereingeführt (DIS 5.2020) [Anm.: zum Wehrdienst bei Einheiten der SDF siehe Kapitel „Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)“.]

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020). Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018). So errichtet die Militärpolizei beispielsweise in Homs stichprobenartig und nicht vorhersehbar Straßenkontrollen. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020). Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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