TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/16 W164 2167600-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.06.2021
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Entscheidungsdatum

16.06.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W164 2167600-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Rotraut LEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.07.2017, Zl. 1100703309-152086516, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben; XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (im folgenden BF) stellte am 31.12.2015 nach illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der am 01.01.2016 durchgeführten Erstbefragung gab der BF an, sein Name sei XXXX , er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitisch muslimischen Glaubens. Der BF sei 16 Jahre alt, ledig und habe keine Kinder. In Afghanistan habe er vier Jahre die Schule besucht. Er habe in Afghanistan noch seine Eltern und vier jüngere Geschwister. Deren finanzielle Situation sei durchschnittlich. Seine Wohnadresse sei „ XXXX “ gewesen. Der BF habe seine Reise von Kabul aus angetreten. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, es gebe in Afghanistan keine Sicherheit. Er sei vor den Taliban geflüchtet. Diese würden Angehörige der schiitischen Hazara töten. Der BF sei schon seit seinem siebten Lebensjahr alleine. Er habe nie zu seinen Eltern können. In Baghlan befänden sich Taliban. Im Falle der Rückkehr habe der BF Angst um sein Leben.

Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zur forensischen Altersschätzung stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Verfahrensanordnung vom 27.05.2016 die Volljährigkeit des BF im Zeitpunkt der Antragstellung fest.

Am 19.04.2017 wurde der BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen. Der BF führte zu seinem Fluchtvorbringen im Wesentlichen aus, er sei in der Provinz Baghlan, Ortschaft XXXX geboren. Er habe drei Jahre die Schule besucht. In Afghanistan habe er mit seinen Eltern, zwei jüngeren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern sowie einer Tante väterlicherseits in einem eigenen Haus mit einer großen Landwirtschaft gelebt, die der Vater betrieben habe. Der BF sei auch kurz, etwa 10 bis 12 Tage, in Kabul gewesen. In Kabul habe er bei seinem Onkel väterlicherseits gewohnt, sei von dort in den Iran gereist und vom Iran nach Europa gekommen. Ein im Iran lebender Onkel habe diese Reise finanziert. Aktuell lebe die Familie des BF im Iran. Zu seinem Fluchtgrund gab der BF nun an, seine Familie, insbesondere sein Onkel XXXX im Folgenden F) hätte einen Konflikt mit einem Mann namens XXXX (im Folgenden A) gehabt, der im Dorf und auch in Kabul sehr mächtig gewesen sei. A sei eines Tages ins Haus der Familie gekommen und habe die Tante väterlicherseits des BF mitgenommen. Der Vater des BF sei bereits alt gewesen und habe dies hingenommen. Jedoch habe der Onkel F von A im Gegenzug eine Frau aus dessen Familie gefordert. Daraufhin habe A jemanden mit der Ermordung von F beauftragt. Der Vater des BF habe sich daraufhin um den BF gesorgt und diesen zu seinem Onkel XXXX nach Kabul, Stadtteil XXXX , geschickt. Auch dieser Onkel sei 10 bis 12 Tage später ermordet worden. Ferner sei im Heimatort des BF im Zuge einer Schießerei sein jüngerer Bruder erschossen worden, der Bruder habe bei diesem Gefecht den Sohn des A getötet. Der BF mache sich Vorwürfe, da er den Bruder damals nach Kabul habe mitnehmen wollen, jedoch sei dann anders entschieden worden. Die restliche Familie des BF sei mittlerweile in den Iran gezogen. Befragt zu seinen Angaben anlässlich der Erstbefragung gab der BF an, er sei damals gefragt worden, wann er nach Kabul gegangen sei und habe geantwortet, „mit 7 Jahren“, denn damals habe er erstmals seinen Onkel in Kabul besucht, gemeinsam mit seinem Vater. Er sei damals mit seinem Vater auch wieder nach Hause zurückgefahren. Dass er nie zu seinen Eltern konnte, habe er nicht angegeben. Die Erstbefragung habe nur wenige Minuten gedauert.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 24.07.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung der BF nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass das Fluchtvorbringen des BF sei voller Ungereimtheiten und sohin nicht glaubhaft sei. Der BF sei in Afghanistan keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Eine Rückkehr nach Afghanistan, etwa in die Städte Kabul, Daikundi, Bamyan oder Mazar-e Sharif sei möglich und zumutbar. Eine Rückkehrentscheidung stelle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privatleben des BF dar.

Dagegen erhob der BF binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde und brachte vor, die belangte Behörde habe es unterlassen, sich ausreichend mit dem Thema „Blutrache“ auseinanderzusetzen. Indem das BFA sich auf Länderinformationen gestützt habe, die nach der Einvernahme erschienen seien, habe es auch gegen das Überraschungsverbot verstoßen. Der BF werde in Afghanistan aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der an Blutfehden beteiligten Personen verfolgt. Der Entführer seiner Tante sei ein mächtiger Warlord. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht, da der BF überall gefunden werden könnte und es ihm überdies nicht zumutbar sei, sich außerhalb seiner Herkunftsprovinz niederzulassen. Aufgrund der prekären Sicherheitslage in ganz Afghanistan, bestehe das reale Risiko einer Verletzung des BF in seinen Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK. Der BF sei seit seiner Einreise sehr darum bemüht, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.02.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, bei der der BF im Beisein seiner Rechtsvertretung und im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari befragt wurde. Das ebenfalls geladene BFA nahm an der Verhandlung nicht teil.

Der BF machte im Wesentlichen die folgenden ergänzenden Angaben:

Er stamme aus der Provinz Baghlan, Distrikt XXXX , Ortschaft XXXX . Dies habe er schon bei der Erstbefragung angegeben. Die damals protokollierte Adresse in Kabul sei die Adresse seines in Kabul lebenden Onkels gewesen. Bei der Erstbefragung sei er gefragt worden, ob die Taliban ihn als Hazara und Schiit in Afghanistan verfolgt hätten. Der BF habe darauf geantwortet, dass die Taliban Hazara und Schiiten allgemein töten würden und dass die Taliban in Baghlan präsent und aktiv seien. Den von ihm später genannten Onkel F habe der BF bei der Erstbefragung nicht erwähnt, da er nicht dazu befragt wurde. Soweit erinnerlich sei er damals gefragt worden, wie er selbst heiße und woher er komme. An weitere Fragen könne er sich nicht mehr erinnern. Befragt, ob er anlässlich der Erstbefragung angegeben habe, dass er seit dem 7. Lebensjahr allein leben würde und nie zu seinen Eltern konnte, gab der BF an, er sei gefragt worden, ob er in Kabul gewesen sei. Auf diese Frage habe er davon erzählt, dass er seinen in Kabul lebenden Onkel schon mit 7 Jahren gemeinsam mit seinem Vater besucht habe. Ob ihm das Protokoll der Erstbefragung rückübersetzt wurde, sei dem BF nicht mehr erinnerlich. Auch gehe es ihm psychisch nicht gut, da seine Mutter seit einigen Jahren erkrankt sei. Der BF habe Erinnerungslücken. Dazu befragt, dass sein Alter durch ein Gutachten um zwei Jahre korrigiert wurde, gab der BF an, er kenne sein genaues Alter nicht. Er habe damals sein ungefähres Alter angeben wollen. Tatsächlich sei der BF mit seinen Eltern, vier jüngeren Geschwistern und einer noch nicht verheirateten Tante, einer Halbschwester seines Vaters, aufgewachsen. Die Familie des BF sei nicht streng religiös gewesen. Der BF habe eine staatliche Schule besucht. Er habe dort und auch später über das Internet Lesen und Schreiben gelernt. Dass A sich für seine Tante interessierte, habe der BF nicht gewusst. Als seine Tante entführt wurde, sei er mit seinem Vater draußen unterwegs gewesen. Beim Heimkommen habe er erfahren, dass die Tante entführt wurde. Danach habe die Familie in Angst um die Frauen gelebt: der BF habe noch zwei Schwestern zu Hause gehabt. Auch seine Mutter sei noch jung gewesen. Gesprochen habe man darüber nicht. Seine Tante habe der BF nie wieder gesehen. Die Familie habe auch nie mehr mit ihr sprechen oder erfahren können, wie es ihr gehe. Etwa ein halbes Jahr später sei Onkel F, der Halbbruder des Vaters, - dieser habe mit Frau und Kindern im Iran gelebt - aus dem Iran gekommen und habe bei der Familie des BF gewohnt. Ob und welche Art der Feindschaft zwischen F und Ad bis dahin bestanden habe und ob die Entführung der Tante bereits aus einer Feindschaft heraus stattgefunden habe, wisse der BF nicht. F habe nun einen älteren Mann, namens XXXX einen ehemaligen Kommandanten der Mujaheddin, Zu A geschickt, mit dem Auftrag, nun von diesem eine Frau zu fordern. Diskussionen innerhalb der Familie über dieses Thema habe der BF nicht in Erinnerung. Er wisse lediglich, dass F damals aus dem Iran gekommen sei, um entweder seine Schwester zurück zu bekommen -dies sei nicht möglich gewesen - oder statt ihr eine andere Frau zu bekommen. Ob F eine Zweitfrau wollte, sei dem BF nicht bekannt. Bekannt sei ihm, dass F eine Wiedergutmachung seitens der gegnerischen Familie wollte. Von den nachfolgenden Konflikten habe der BF unmittelbar nichts mitbekommen. Eines Tages etwa ein bis zwei Monate später hätten mehrere Personen den Leichnam seines Onkels F ins Haus gebracht. Erst da sei dem BF der Konflikt bewusst geworden.

Der BF sei auf Geheiß seines Vaters mit einem Mini-Bus nach Kabul gefahren und habe dort ein Taxi zu seinem Onkel XXXX und dessen Familie genommen. Diesen Onkel und seine Familie habe der BF von früheren Besuchen her gut gekannt. Der BF habe dort etwa 10 bis 12 Tage verbracht. Am Todestag seines Onkels XXXX sei der BF mit diesem Onkel – dieser habe Fußball spielen geliebt - am Fußballplatz gewesen. Danach habe der Onkel den BF heimgeschickt und gesagt, er selbst hätte noch etwas zu tun. Er habe zu einer Bekannten zu gehen und werde in etwa 20 Minuten nachkommen. Der BF wisse nicht, wo der Onkel damals hinging. Der BF sei in die Wohnung des Onkels gegangen. Gegen 22 Uhr habe die Polizei dann die Leiche des Onkels gebracht. Der Onkel sei am nächsten Tag im Beisein von Freunden und Nachbarn beerdigt worden. Der Schiegervater des Onkels sei aus Pakistan nach Kabul gekommen und habe seine Tochter mit den Kindern zu sich genommen. Die Frau des Onkels XXXX habe den BF in den Iran geschickt. Diese Fahrt bezahlt habe ein weiterer Onkel väterlicherseits, der im Iran lebte. Für den BF sei offensichtlich, dass A auch hinter dem Mord an seinem Onkel aus Kabul stehe, denn dieser Onkel hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tod seines Bruders gerächt. Auch sei offensichtlich, dass A hinter der Ermordung des jüngeren Bruders des BF stehe. Es habe im Heimatdorf des BF einen Überfall durch einen Sohn As und dessen Gefolgsleute auf das Haus der Familie des BF gegeben. In Folge dieses Angriffs sei der Bruder des BF getötet worden.

Aktuell lebe die Familie des BF im Iran. Der BF pflege Kontakt zu seiner Familie. In Afghanistan habe der BF zwei Tanten mütterlicherseits gehabt, Schwestern seiner Mutter. Der BF wisse nicht, wo sich diese nun aufhalten.

Dazu befragt ob der Konflikt mit A nun nicht beigelegt sei, merkte der BF an, dies sei unmöglich. Denn wenn die Feindschaft beigelegt worden wäre, wäre es nach der Ermordung des Onkels F nicht zu weiteren Morden gekommen. Der BF gehe davon aus, dass der Kommandant A auch ihn töten würde.

Die Familie sei aus demselben Grund in den Iran geflüchtet und habe es dort sehr schwer. Ihr Aufenthalt im Iran sei illegal, ein Schulbesuch der jüngeren Geschwister sei nicht möglich. Der Vater sei alt und der Mutter gehe es seit dem Anschlag auf das Haus der Familie psychisch nicht gut. Am Telefon spreche sie den BF immer wieder mit dem Namen seines jüngeren Bruders an.

Der BF selbst sei gesund. Wegen seiner psychischen Belastungen sei er nicht zum Arzt gegangen. Der BF versuche, über „You tube“ Deutsch zu lernen. Er könne sich aber nicht gut konzentrieren. Der BF habe einige Deutschkurse besucht. Er legte vor: Bestätigungen über die Teilnahme an zwei Kursen „Talententwicklung“, (je 50 Unterrichtseinheiten) von 15.2.2017 bis 02.06.2017 und von 06.09.2017 bis 08.11.2017, zu den Themen Arbeit, Alltag, Freizeit; Sprachcall Herbst 2017; Bestätigung über die Teilnahme an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF vom 17.10.2017, Bestätigung der Diözese XXXX über die Teilnahme an einem Kurs „Deutsch für Anfänger“ (40 Unterrichtseinheiten von 1.11.2018 bis 28.01.2019. Einmal sei von der XXXX die Einstiegsmöglichkeit für Jugendliche unter 18 in eine Schulklasse vermittelt worden. Die Voraussetzung für die Aufnahme der Schule wäre A2-Deutsch- gewesen. Der BF sei damals schon 19 Jahre alt gewesen. Er sei dennoch zur Prüfung angetreten, habe sie aber leider nicht geschafft. Das sei 2018 oder 2019 gewesen. Der BF lebe in einer abgelegenen kleinen Gemeinde. Die Möglichkeit, dort an Deutschkursen teilzunehmen, sei beschränkt gewesen. Seinen Tag verbringe der BF damit, die Unterkunft rein zu halten. Es gebe eine Putzliste. Jeder Asylwerber beteilige sich an den Reinigungsarbeiten für das Haus und die Räume. Mit den Vermietern, einem Ehepaar und dessen 18 jährigen Sohn habe der BF Kontakt, auch mit den Bewohnern der umliegenden Häuser. Diese seien ebenfalls überwiegend Flüchtlinge bzw. Immigranten aus Nachbarschaftsländern. Oft würden sich die jungen Leute gemeinsam mit Computerspielen beschäftigen. Der BF habe dafür aber keine Geduld. Er putze lieber das Haus. Das beruhige ihn. Der BF würde gerne eine Ausbildung zum Tischler machen.

Der BFV brachte ergänzend vor, dass bei der Erstbefragung ein Standardformular verwendet werde, was erfahrungsgemäß zu Ungenauigkeiten und als Folge davon zu Widersprüchen zwischen Erstbefragung und späteren BFA- Befragung führen könne. Im Zeitraum Ende 2015/Anfang 2016 sei eine große Zahl an Anträgen auf internationalen Schutz gestellt worden. Es hätten sehr viele Erstbefragungen in sehr knappen Zeitabständen durchgeführt werden müssen. Gerade vor diesem Hintergrund sei es nicht auszuschließen, dass es im konkreten Fall zu Fehlern bzw. Ungenauigkeiten gekommen sei. Beispielsweise sei anzuführen, dass am Fragenformular der den BF betreffenden Erstbefragung im Feld Geburtsdaten weder der Ort noch der Bezirk noch die Provinz angeführt seien (Seite 1). Bei der Schulausbildung sei der Name und die Adresse der Schule nicht angeführt. Der BF habe andererseits laut Protokoll bereits in der Erstbefragung angegeben, dass die Taliban in Baghlan aktiv seien, habe also auf seine Herkunftsprovinz hingewiesen. Auch sei naheliegend, dass dem BF, - dieser sei noch sehr jung gewesen – nicht bewusst war, welche Angaben besonders wichtig seien. Die Höchstgerichte würden den Angaben in der Erstbefragung eingeschränkte Aussagekraft zumessen.

Mit ergänzender Stellungnahme vom 19.03.2021 brachte der BF durch seine Rechtsvertretung vor, es sei der Konventionsgrund „Blutrache“ gegeben. Der BF habe begründete Angst vor Verfolgung durch A und habe Afghanistan aus diesem Grund verlassen. Bereits drei seiner Familienangehörigen seien durch A und seine Männer getötet worden.

Verwiesen wurde auf VwGH 2007/10/0265 vom 15.12.2010, weiters aus BVwG W131 1421539-1 vom 10.07.2015 und BVwG W119 2152791-1 vom 02.12.2019. Bei der Familie des A handle es sich um eine paschtunische Familie. Blutrache sei gerade unter paschtunischen Stämmen besonders verbreitet. Die Zugehörigkeit des BF zur Volksgruppe der Hazara verstärke die Feindschaft der beiden Familien und trage zur Asylrelevanz der geltend gemachten Verfolgung bei. In Afghanistan bestehe grundsätzlich kein wirksamer Schutz vor privater Verfolgung. Die Verfolgung sei auch aktuell. Die Herkunftsprovinz des BF sei eine der unruhigsten Provinzen Afghanistans. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem BF nicht zur Verfügung. Ein Leben in Anonymität sei in Afghanistan generell nicht möglich. Der BF wäre auch in Herat oder Mazar e Sharif nicht vor Verfolgung sicher. Verwiesen wurde auf EASO S 163.

Überdies habe der BF noch nie in den Städten Mazar-e Sharif und Herat gelebt und verfüge dort über kein soziales Netzwerk. Er habe ferner Diskriminierung zu befürchten, wenn er nach einem längeren Aufenthalt im westlichen Ausland nach Afghanistan zurückkehren würde. Der BF verfüge über keine Tazkira und müsste, um eine solche zu erlangen, in seine Heimatprovinz reisen, was ihm aus den genannten Gründen nicht möglich sei.

Der BF verfüge über eine bloß rudimentäre Schulbildung und über keine Berufsausbildung, die ihm im Fall einer Wiederansiedlung in Afghanistan von Nutzen sein könnte. Nicht zuletzt habe die COVID-19-Pandemie die angespannte Lage zusätzlich verschlechtert, was sich auf die ökonomische Situation und das Gesundheitssystem auswirke. Verwiesen wurde auf die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 27.01.2021 betreffend die Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif sowie auf BVwG W228 2187596-1 vom 26.01.2021.

Der Besuch eines Deutschkurses sei dem BF unverschuldet derzeit nicht möglich, da es in der Region rund um die Unterkunft des BF im Moment keine kostenfreien Deutschkurse gebe, an denen der BF teilnehmen könnte.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der strafrechtlich unbescholtene BF führt den Namen XXXX . Er wurde im Jahr XXXX in der Provinz Baghlan, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , Afghanistan geboren und ist afghanischer Staatsbürger. Der BF wuchs mit seinen Eltern, zwei jüngeren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern und einer noch nicht verheirateten Halbschwester des Vaters, in seiner Heimatprovinz auf und besuchte drei bis vier Jahre die Schule. Die Familie betrieb eine große Landwirtschaft. Von Zeit zu Zeit besuchte der BF gemeinsam mit seinem Vater seinen in Kabul wohnhaften Onkel.

Im Jahr 2015 – die Region in der der BF mit seiner Familie wohnte war unsicher und politisch unstabil – entführte ein dort ansässiger Warlord die unverheiratete Tante des BF. Die Familie verhielt sich daraufhin passiv. Man kannte keine möglichen Hintergründe dieser Tat und sah sich außer Stande etwas zu unternehmen. Man fürchtete um die weiteren Frauen der Familie. Etwa ein halbes Jahr später kam ein Halbbruder des Vaters, F, aus dem Iran mit der Absicht, die entführte Tante des BF zurückzuholen oder jedenfalls eine Wiedergutmachung zu fordern. F wohnte nun mehrere Monate bei der Familie des BF. Eines Tages wurde seine Leiche zum Haus der Familie gebracht. Der Vater des BF sorgte sich nun um seinen ältesten Sohn, den BF, und schickte diesen nach Kabul zum dort wohnhaften Onkel. Man überlegte, auch den nächst jüngeren Bruder mitzuschicken, ließ dann aber davon ab. Kurz darauf wurde das Haus der Familie von Mitgliedern des Clans des genannten Warlords mit Waffengewalt angegriffen. Der nächst jüngere Bruder des BF verteidigte die Familie – ebenfalls mit einer Waffe. Er erschoss ein Mitglied der verfeindeten Familie und wurde auch selbst getötet.

Der BF hielt sich etwa 10 Tage bei seinem Onkel in Kabul auf, als auch dieser – er hatte den BF nach einer gemeinsamen Unternehmung voraus nach Hause geschickt und war noch allein zu einer Verabredung gegangen – tot heimgebracht wurde. Die Familie des Onkels in Kabul zog nach seiner Beerdigung zum Vater der Frau des Onkels nach Pakistan. Der BF wurde in den Iran zu einem weiteren Verwandten geschickt. Von dort trat er die Reise nach Europa an.

Im Dezember 2015 reiste der BF unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für den Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan fürchtet der BF die verfeindete Familie.

Zur allgemeinen Lage in Afghanistan:

Quellen: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021, EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2019:

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB Kapitel 5)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen. Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17), landesweit betrug die Zahl 88. Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort.

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet. Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt.

Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte – wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein.

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Kapitel 4).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel 5).

UNHCR: Afghanistan ist weiterhin von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt betroffen, bei dem die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF), unterstützt von den internationalen Streitkräften, mehreren regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) gegenüberstehen.

Dem UN-Generalsekretär zufolge steht Afghanistan weiterhin vor immensen sicherheitsbezogenen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Die Sicherheitslage soll sich insgesamt weiter verschlechtert und zu einer sogenannten „erodierenden Pattsituation“ geführt haben. Berichten zufolge haben sich die ANDSF grundsätzlich als fähig erwiesen, die Provinzhauptstädte und die wichtigsten städtischen Zentren zu verteidigen, im ländlichen Raum hingegen mussten sie beträchtliche Gebiete den Taliban überlassen.

Von dem Konflikt sind weiterhin alle Landesteile betroffen. Seit dem Beschluss der Regierung, Bevölkerungszentren und strategische ländliche Gebiete zu verteidigen, haben sich die Kämpfe zwischen regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) und der afghanischen Regierung intensiviert. Es wird berichtet, dass regierungsfeindliche Kräfte immer öfter bewusst auf Zivilisten gerichtete Anschläge durchführen, vor allem durch Selbstmordanschläge mit improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und komplexe Angriffe. Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) setzen ihre groß angelegten Angriffe in Kabul und anderen Städten fort und festigen ihre Kontrolle über ländliche Gebiete. Es wurden Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit und Effektivität der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) geäußert, die Sicherheit und Stabilität in ganz Afghanistan zu gewährleisten.

Um das gesamte Ausmaß der Auswirkungen des Konflikts auf die Zivilbevölkerung genauer zu verstehen, sind nicht allein die Zahlen der zivilen Opfer und der Sicherheitsvorfällle als Indikatoren heranzuziehen, sondern auch die längerfristigen und indirekteren Folgen der Gewalt, einschließlich der Auswirkungen des Konflikts auf die Menschenrechtssituation und das Ausmaß, in dem der Konflikt die Fähigkeit des Staats einschränkt, die Menschenrechte zu schützen In dieser Hinsicht sind im Zusammenhang mit dem Konflikt in Afghanistan u.a. auch das hohe Maß an organisierter Kriminalität und die Möglichkeit lokaler Machthaber („Strongmen"), Kriegsfürsten („Warlords“) und korrupter Beamter, straflos tätig zu sein relevant.

Trotz der ausdrücklichen Verpflichtung der afghanischen Regierung, ihre nationalen und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten, ist der durch sie geleistete Schutz der Menschenrechte weiterhin inkonsistent. Große Teile der Bevölkerung einschließlich Frauen, Kindern, ethnischer Minderheiten, Häftlingen und anderer Gruppen sind Berichten zufolge weiterhin zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch unterschiedliche Akteure ausgesetzt.

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden laut Berichten in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betreffenden Gebiete tatsächlich kontrolliert. In von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es Berichten zufolge regelmäßig zu Menschenrechtsverletzungen durch den Staat und seine Vertreter. In Gebieten, die (teilweise) von regierungsnahen bewaffneten Gruppen kontrolliert werden, begehen diese Berichten zufolge straflos Menschenrechtsverletzungen. Ähnlich sind in von regierungsfeindlichen Gruppen kontrollierten Gebieten Menschenrechtsverletzungen, darunter durch die Etablierung paralleler Justizstrukturen, weit verbreitet. Zusätzlich begehen sowohl staatliche wie auch nicht-staatliche Akteure Berichten zufolge außerhalb der von ihnen jeweils kontrollierten Gebiete Menschenrechtsverletzungen. Aus Berichten geht hervor, dass besonders schwere Menschenrechtsverletzungen insbesondere in umkämpften Gebieten weit verbreitet sind.

Sogar dort, wo der rechtliche Rahmen den Schutz der Menschenrechte vorsieht, bleibt die Umsetzung der nach nationalem und internationalem Recht bestehenden Verpflichtung Afghanistans diese Rechte zu fördern und zu schützen, in der Praxis oftmals eine Herausforderung. Die Regierungsführung Afghanistans und die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit werden als besonders schwach wahrgenommen.

Beobachter berichten von einem hohen Maß an Korruption, von Herausforderungen für effektive Regierungsgewalt und einem Klima der Straflosigkeit als Faktoren, die die Rechtsstaatlichkeit schwächen und die Fähigkeit des Staates untergraben, Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu bieten. Berichten zufolge werden in Fällen von Menschenrechtsverletzungen die Täter selten zur Rechenschaft gezogen und für die Verbesserung der Übergangsjustiz besteht wenig oder keine politische Unterstützung.

Gemäß der Verfassung darf niemand ohne ordentliches Gerichtsverfahren festgenommen oder inhaftiert werden. Die Verfassung enthält außerdem ein absolutes Verbot des Einsatzes von Folter. Der Einsatz von Folter stellt nach dem Strafgesetzbuch eine Straftat dar, während die harte Bestrafung von Kindern durch das Jugendgesetz untersagt ist. Darüber hinausverabschiedete das Oberhaus der Nationalversammlung im Januar 2018 den konsolidierten Wortlaut eines neuen Anti-Folter-Gesetzes.

Trotz dieser Rechtsgarantien bestehen Bedenken hinsichtlich des Einsatzes von Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gegenüber Häftlingen, insbesondere von im Zusammenhang mit dem Konflikt verhafteten Personen, denen Unterstützung von regierungsfeindlichen Kräften zur Last gelegt wird und die in Gefängnissen des Inlandsgeheimdienstes (NDS), der afghanischen nationalen Polizei (ANP) (einschließlich der afghanischen nationalen Grenzpolizei ANBP), der afghanischen nationalen Streitkräfte (ANA) und der afghanischen lokalen Polizei (ALP) inhaftiert sind. UNAMA berichtete 2017, dass in vom Inlandsgeheimdienst (NDS) betriebenen Gefängnissen in fünf Provinzen „systematisch oder regelmäßig und weitverbreitet“ gefoltert wird und dass „ausreichend glaubhaften und verlässlichen Berichten zufolge in 17 anderen Provinz- oder staatlichen Einrichtungen des Inlandsgeheimdienstes gefoltert wird“. UNAMA dokumentierte außerdem „systematische Folterung und Misshandlung” in Haftanstalten der afghanischen nationalen Polizei (ANP) oder der afghanischen nationalen Grenzpolizei (ANBP) in den Provinzen Kandahar und Nangarhar sowie „Berichte über Verstöße in 20 anderen Provinzen, wobei die Behandlung von Häftlingen durch die ANP in den Provinzen Farah und Herat” besondere Sorge bereitet. Unter den Inhaftierten, bei denen die Anwendung von Folter festgestellt wurde, befanden sich auch Kinder.

UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren der folgenden Risikoprofile entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen:

(1) Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich der internationalen Streitkräfte, verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen;

(2) Journalisten und in der Medienbranche tätige Personen;

(3) Männer im wehrfähigen Alter und Kinder im Zusammenhang mit der Einberufung von Minderjährigen und der Zwangsrekrutierung;

(4) Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden;

(5) Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen die Scharia verstoßen haben;

(6) Personen, bei denen vermutet wird, dass sie gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung regierungsfeindlicher Kräfte verstoßen haben;

(7) Frauen mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;

(8) Frauen und Männer, die angeblich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen haben;

(9) Personen mit Behinderungen, insbesondere geistigen Beeinträchtigungen, und Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden;

(10) Kinder mit bestimmten Profilen oder unter spezifischen Umständen;

(11) Überlebende von Menschenhandel oder Zwangsarbeit und Personen, die entsprechend gefährdet sind;

(12) Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität;

(13) Angehörige gewisser Volksgruppen, insbesondere ethnischer Minderheiten;

(14) An Blutfehden beteiligte Personen, und

(15) Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen (sowie deren Familienangehörige).

Ad 14: Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu lang anhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat.

Baghlan:

Baghlan gehört zu den unruhigsten Provinzen in Afghanistan, es finden immer wieder heftige Kämpfe statt, meist zwischen Taliban und Regierungstruppen (DFK 13.2.2020; vgl. KP 21.6.2020). Die Taliban ließen sich an verschiedenen Orten in der Nähe des Highway 1 und seiner nordöstlichen Abzweigung nach Kunduz nieder und schufen so die Möglichkeit, seine Nutzung bei größeren Angriffsoperationen zu unterbrechen. Dies geschah beispielsweise im September 2019 (AAN 30.10.2019), als die Taliban gleichzeitig Pul-i-Khumri und Kunduz-Stadt angriffen (AAN 11.9.2019; vgl. UNGASC 10.12.2019; AAN 30.10.2019). Weiters wird berichtet, dass der Islamische Staat (IS) in der Provinz eine kleinere Zelle unterhält (VOA 20.3.2020; vgl. TN 12.3.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Burka, Baghlan-e-Jadeed, Dahana-e-Ghuri und Tala Wa Barfak mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Deh Salah, Dushi, Firing Wa Gharu, Gozargah-e-Noor, Khinjan, Khost Wa Firing, Khwaja hejran (Jalga), Nahreen, Pul-e-Hisar, Pul-i-Khumri umkämpft sind (LWJ o.D.).Auf Regierungsseite befindet sich Baghlan im Verantwortungsbereich des 217. Afghan National Army (ANA) „Pamir“ Corps (USDOD 1.7.2020; BNA 31.8.2020), das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welches von deutschen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Es kommt in Baghlan zu direkten Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen (KP 19.4.2021; RFE/RL 14.4.2021; AT 26.8.2020; UNOCHA 18.8.2020; BAMF 17.8.2020; RFE/RL 6.8.2020; UNOCHA 15.7.2020; UNOCHA 28.6.2020; BAMF 6.4.2020; RFE/RL 30.3.2020), Talibankämpfer greifen Sicherheitsposten der Regierungstruppen an (RFE/RL 14.4.2021; TN 30.9.2020; NYTM 24.9.2020; NYTM 30.7.2020; NYTM 30.4.2020; AAN 8.4.2020),

unter anderem auch in der Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri (NYTM 30.7.2020; TN 18.6.2020). Regierungstruppen führen Luftangriffe (AT 26.8.2020; NYTM 30.7.2020; PAJ 22.7.2020) und Räumungsoperationen durch (TN 16.7.2020). Es kommt zu Detonationen von Sprengfallen am Straßenrand (TN 5.8.2020; NYTM 30.7.2020) - auch in der Provinzhauptstadt (TN 19.8.2020b; NYTM 30.7.2020; MENAFN 28.7.2020) - sowie versuchten Selbstmordanschlägen (UNAMA 7.2020; BNA 29.3.2020) und gezielten Tötungen auch von Zivilisten (BAMF 3.5.2021; TN 30.4.2021).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde aufgenommen durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt und Abhaltung der mündlichen Verhandlung vom 24.02.2021. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit des BF, ferner zu seinen Sprachkenntnissen, seiner Schulbildung und Berufserfahrung beruhen auf seinen plausiblen, im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben. Das Geburtsdatum des BF wurde auf Grundlage eines gerichtsmedizinischen Gutachtens für forensische Altersdiagnostik festgelegt. Sein aktueller Wohnort ergibt sich aus dem zentralen Melderegister der Republik Österreich. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus dem österreichischen Strafregister. Dass der BF gesund und arbeitsfähig ist, ergibt sich aus seinem eigenen Vorbringen, zuletzt in der mündlichen Verhandlung. Der BF konnte im Rahmen der mündlichen Verhandlung die an ihn gestellten Fragen zum Hergang des in Afghanistan Erlebten konkret aus der jeweils eigenen Perspektive beantworten. Seine Aussagen anlässlich seiner Befragung durch das BFA und das BVwG ergeben in ihrer Gesamtheit ein klares und nachvollziehbares Bild

Soweit der BF laut Protokoll der verfahrensgegenständlichen Erstbefragung einen gänzlich anderen Fluchtgrund angegeben hat, so spricht dies prima facie gegen ihn. Allerdings wendet die Vertretung des BF zu Recht ein, dass Ende 2015 besonders viele Erstbefragungen durchgeführt werden mussten, und dass die Erstbefragung nach einem vorgefertigten Frageformular stattfand, also wenig Möglichkeit bot, auf die individuellen Vorbringen des Befragten einzugehen, ferner dass im vorliegenden Fall das Frageformular der Erstbefragung nicht durchgehend sorgfältig ausgefüllt wurde. Die Frage des Formulars „Angaben zur Wohnsitzadresse und Herkunftsland“ hat der BF mit der Adresse seines Onkels in Kabul beantwortet, wo er unmittelbar vor seiner Ausreiche aus Afghanistan gewohnt hat. An anderer Stelle der Erstbefragung hat der BF die Heimatprovinz Baghlan genannt und ausgeführt, dass die Taliban in Baghlan aktiv seien. Diese Ungereimtheit wurde anlässlich der Erstbefragung nicht aufgegriffen. Das Vorbringen des BF, die Erstbefragung habe nicht länger als 3 bis 4 Minuten gedauert, somit unter Zeitdruck stattgefunden erscheint, vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Ferner ist davon auszugehen, dass die Vorbringen des BF anlässlich der Erstbefragung kurz zusammengefasst und nicht hinterfragt wurden. Wie sich aus den nachfolgenden Befragungen des BF im Wesentlichen übereinstimmend ergibt, befand sich dieser nach dem Tod seines Onkels in Kabul tatsächlich in einer Situation, in der er nicht zu seinen Eltern zurückkonnte. Befragt zu seiner Aussage in der Erstbefragung, warum er angegeben habe, seit seinem 7. Lebensjahr ohne seine Eltern in Kabul zu leben hat der BF angegeben, er habe die Frage, wann er nach Kabul gegangen sei, so aufgefasst, dass er anzugeben habe, wann er das erste Mal in seinem Leben zu seinem Onkel nach Kabul gefahren sei – und dies sei im Alter von etwa 7 Jahren gewesen. Diese Feststellungen führen zu dem Schluss, dass der BF tatsächlich erwähnt haben könnte, er sei mit 7 Jahren nach Kabul gefahren und habe (Jahre später) von Kabul aus nicht zu seinen Eltern zurückkönnen, dass er aber falsch verstanden wurde. In einer Gesamtabwägung ist daher davon auszugehen, dass die Protokollierung des Fluchtgrundes in der Erstbefragung auf einem Missverständnis beruht hat. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen ist ferner, dass die Erstbefragung gemäß § 19 AsylG primär der Ermittlung der Identität und der Reiseroute der Fremden zu dienen hat sich aber nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat.

Soweit sich der BF zu Beginn des Verfahrens als 16-jährig, somit minderjährig ausgegeben hat, was durch die nachfolgende Altersfeststellung um zwei Jahre nach oben korrigiert werden musste, so würde auch dies isoliert betrachtet gegen die Glaubwürdigkeit des BF sprechen. Andererseits ist zu beachten, dass der BF in einer ländlichen Gegend Afghanistans geboren und aufgewachsen ist. Es erscheint daher plausibel, wenn der BF angibt, sein genaues Alter nicht zu kennen und das Alter angegeben zu haben, das man ihm genannt habe.

Die Vorbringen des BF zu seinem Fluchtgrund waren daher im Zweifel als glaubwürdig anzusehen. Dem BF war zu glauben, dass er Mitglied einer Familie ist, die in den Kreislauf einer Blutfehde geraten ist ferner dass die verfeindete Familie über Macht und Einfluss abseits der Staatgewalt verfügt und gut vernetzt ist. Die Feststellung über die aktuelle Gefährlichkeit dieser Situation beruht auf den allgemeinen Informationen zu Afghanistan, wie oben auszugsweise dargelegt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Zu A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatssicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Verlangt wird eine "Verfolgungsgefahr", wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256). Die Voraussetzung der "wohlbegründeten Furcht" vor Verfolgung wird in der Regel aber nur erfüllt, wenn zwischen den Umständen, die als Grund für die Ausreise angegeben werden, und der Ausreise selbst ein zeitlicher Zusammenhang besteht (vgl. VwGH 17.03.2009, 2007/19/0459). Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. u.a. VwGH 20.06.2007, 2006/19/0265). Die entfernte Möglichkeit einer solchen Verfolgung reicht für die Feststellung von Asylrelevanz nicht aus (vgl. VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185).

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

§ 3. AsylG 2005 in der anzuwendenden Fassung:

(1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen is

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.
(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

§ 11 AsylG 2005 in der anzuwendenden Fassung:

(1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definiert, dass als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die "begründete Furcht vor Verfolgung".

Die begründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn objektiver Weise eine Person in der individuellen Situation des Asylwerbers Grund hat, eine Verfolgung zu fürchten. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z. B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen.

Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Relevant kann nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn die Asylentscheidung erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; 19.10.2000, 98/20/0233).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; VwGH 27.06.1995, 94/20/0836; VwGH 23.07.1999, 99/20/0208; VwGH 21.09.2000, 99/20/0373; VwGH 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; VwGH 12.09.2002, 99/20/0505 sowie VwGH 17.09.2003, 2001/20/0177) liegt eine dem Staat zuzurechnende Verfolgungshandlung nicht nur dann vor, wenn diese unmittelbar von staatlichen Organen aus Gründen der Konvention gesetzt wird, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - asylrelevant wären.

Mangelnde Schutzfähigkeit des Staates liegt nicht schon dann vor, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine BürgerInnen gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen (vgl. VwGH 2006/01/0191 vom 13.11.2008); Mangelnde Schutzfähigkeit des Staates ist jedoch dann gegeben, wenn der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 22.03.2003, 99/01/0256). Für eine/n Verfolgte/n macht es nämlich keinen Unterschied, ob er/sie aufgrund staatlicher Verfolgung mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einen Nachteil zu erwarten hat oder ihm/ihr dieser Nachteil aufgrund einer von dritten Personen ausgehenden, vom Staat nicht ausreichend verhinderbaren Verfolgung mit derselben Wahrscheinlichkeit droht. In beiden Fällen ist es ihm/ihr nicht möglich bzw im Hinblick auf seine/ihre wohlbegründete Furcht nicht zumutbar, sich des Schutzes seines Heimatlandes zu bedienen.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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