Entscheidungsdatum
18.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs2Spruch
W272 2239415-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Braunstein als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Ukraine, vertreten durch RIHS Rechtsanwalt GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Regionaldirektion Niederösterreich vom 29.01.2021, Zahl XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II., III., des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 57, § 10 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, und § 46, § 52 Abs. 9 Fremdenpolizeigesetz (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunktes IV. und VI. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und diese Spruchpunkte ersatzlos behoben.
III. Der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt V. wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass er zu lauten hat:
„Gemäß § 55 Abs. 1 und 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung."
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (in weiterer Folge BF), eine Staatsangehörige der Ukraine, reiste am 06.01.2021, aufgrund eines Stipendiums beim IWM Institut für die Wissenschaften vom Menschen, in das österreichische Bundesgebiet ein. Ihre Einreise erfolgte mit einem, von der österreichischen Botschaft in Kiew am 23.10.2020 ausgestellten, Visum D zu Erwerbszwecken (gültig von 06.01.2021 bis 30.06.2021).
2. Am 11.01.2021 wurde der Stipendiumsvertrag der BF vonseiten des IWM mit der Begründung, die BF sei eine Repräsentation und Sympathisantin von rechtsextremen Gruppen in der Ukraine, gekündigt.
3. In einem Bericht des BVT vom 18.01.2021, über die Prüfung fremdenrechtlicher Maßnahmen, erklärte das BVT, die BF sei bereits seit 2015 als offizielle Koordinatorin der Abteilung für internationale Beziehungen des ASOW-Regiments genannt und sei deren Werbeträgerin und Frontfrau. Sie bekleide weiters die Position einer „International secretary“, einer Sprecherin der aus dem ASOW-Regiment entstandenen Partei „National Corps“. Sowohl die Partei „National Corps“ als auch ASOW seien Befürworter des „Intermarium“-Konzepts, eines Staatenbundes zwischen Adria, Schwarzem Meer und Baltikum. Die BF sei sehr gut in neonazistischen Gegenkulturkreisen integriert und habe ab 2016 an verschiedenen rechtsextremistischen Veranstaltungen als Rednerin teilgenommen. Von der BF sei ein Bild bekannt, auf dem sie mit einer rot-weiß-roten Flagge mit zentriertem Hakenkreuz zu sehen ist und die rechte Hand zum Hitlergruß hebt.
4. Am 23.01.2021 erging gemäß §§ 34 Abs. 5 und 47 Abs. 1 BFA-VG ein Festnahmeauftrag für den 28.01.2021 gegen die BF, wegen unrechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 BFA-VG.
5. Am 28.01.2021 wurde die BF vor der Landespolizeidirektion Wien (in weiterer Folge LPD Wien) zur Prüfung der Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts im Bundesgebiet iSd §§ 34, 35 FPG und der Voraussetzungen der Visumsannullierung iSd § 27 FPG niederschriftlich einvernommen. Der BF wurde der Sachverhalt zur Kenntnis gebracht, nämlich, dass aufgrund der Kündigung des Stipendiumvertrages auch die Grundlage ihrer Visumserteilung weggefallen sei. Zudem sei zu prüfen, ob ein Aufenthalt der BF aufgrund ihrer rechtsextremistischen Aktivitäten die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde und ob die BF ein Naheverhältnis zu einer extremistischen Gruppierung habe.
Die BF gab hierzu folgende Stellungnahme ab: Ihr sei bewusst, dass aufgrund des Wegfalls des Stipendiums auch ihr Visum wegfalle. Sie könne jedoch als Staatsangehörige der Ukraine sichtvermerksfrei in Österreich aufhältig sein. Sie sei Mitglied der Partei „National Corps“, aber kein Mitglied des Asow-Korps und gehöre auch sonst keiner militanten Gruppe an. Es stimme, dass sie Vorträge in Europa halte. Bei dem Foto, dass sie mit erhobener rechter Hand zeigt, handle es sich um einen Halloween-Scherz.
6. Mit dem Standardformular „Annullierung des Visums D“ zur Zahl PAD/PA/00346113/001/21/FW annullierte die LPD Wien am 28.01.2021 gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 und 2 FPG das Visum der BF, da Tatschen bekannt wurden oder eingetreten sind, die eine Nichterteilung des Visums D rechtfertigen.
Begründend führte die LPD Wien aus, dass aufgrund der Kündigung ihres Stipendiums die Grundlage für die Visumserteilung zu Erwerbszwecken weggefallen sei, da sie sohin nicht mehr als Forscherin tätig sein könne. Die BF fungiere als Sprecherin und Repräsentantin der nationalistisch orientierten, rechtsextremen Partei „National Corps“, sowie der bewaffneten Einheit „ASOW“, sei in neonazistischen Gegenkulturkreisen sehr gut integriert und halte Reden bei einschlägigen Veranstaltungen. Die Versagungsgründe des § 21 Abs. 2 Z 7, 8 und 14 FPG seien deswegen als gegeben zu erachten.
7. Am 28.01.2021 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge BFA) unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die ukrainische Sprache statt, bei der die BF zunächst angab, gesund zu sein und auf Englisch erklärte Ukrainisch, Russisch und etwas Deutsch zu sprechen. Sie habe elf Jahre ein Gymnasium besucht, einen Studienabschluss in Philosophie und auch einen, mit einem Doktorat vergleichbaren Abschluss. In ihrer Abschlussarbeit sei es um den tschechischen Philosophen Jan Patocka und seinen Zugang zur Dialektik der Aufklärung im Werk des Ernst Jünger gegangen. Sie unterstütze einen Verein, der das Intermarium – das sei ein Zusammenschluss des ukrainischen Volkes – aufbauen möchte. Der „National Corps“ sei der Gründer des Intermariums, und die BF eine der Koordinatorinnen. Das Intermarium sei aber ein von der Partei autonomes Projekt. Mit dem Vorsitzenden des „National Corps“ XXXX rede sie hin und wieder, kenne ihn aber nur entfernt. Sie werde auf der Homepage des „National Corps“ nur deswegen als führendes Mitglied genannt, weil sie in der Ukraine sehr bekannt sei. Zur Asow-Brigade habe sie keine Bezüge. Sie kenne das Projekt „Asow-Reconqista“, habe es seit 2017 nicht mehr weiterverfolgt, weil dessen Ziel mit Gewalt verwirklicht werden solle. Auch aus dem „Pakt aus Stahl“ sei sie ausgestiegen, weil er sich in die falsche Richtung entwickelt habe. An Corona-Demonstrationen in Österreich habe sie nicht teilgenommen, sie sei keine Corona-Gegnerin. Im November 2017 sei sie auf der Veranstaltung „Zerstörtes Imperium“ – damit sei der Zerfall der Sowjetunion gemeint gewesen – in Polen gewesen. Im Dezember 2017 habe sie einen Vortrag an der Katholischen Universität Zagreb im Rahmen der Konferenz „100 Jahre Oktober-Revolution – Was können wir von den Linken lernen?“ gehalten. Sie habe auch beim „Scandza Forum“ in Stockholm über Ernst Jünger und das Intermarium gesprochen. Auf Vorhalt eines Bildes, das die BF mit einer österreichischen Fahne mit Hakenkreuz und der Hand zum deutschen Gruß erhoben zeigt, erklärte sie, es habe sich dabei um einen Halloween-Scherz gehandelt und tue ihr leid. Sie äußerte sich auch, dass man versuchen solle rechte Weltanschauungen wissenschaftlich salonfähig zu machen. Es schade ihrer Sache, dass sie mit Rassisten in Verbindung gebracht werde. Ihr Ziel sei es bei staatlichen Institutionen Vorträge zu halten, um mehr Kontakt mit den westlichen Staaten und Parteien herzustellen. Sie wolle nicht, dass die Leute prorussisch sind. Befragt ob es legitim sei Gewalt auszuüben, um seine politischen Ziele zu erreichen, erklärte die BF, sie sei gegen Gewalt, der Aggressor sei der russische Staat. Befragt nach der Burschenschaft Teutonia, bei der BF Unterkunft genommen hatte, erklärte die BF, sie habe erst nach ihrem Einzug von der Burschenschaft gehört und nur nach einer günstigen Wohnung gesucht. Sie habe zwar bei deutschsprachigen Bekannten bezüglich Burschenschaften und deren Angeboten gefragt, habe die Wohnung dann aber selbst im Internet gefunden. Befragt zur Ukraine, gab die BF, an sie habe dort keine Probleme.
Die BF nahm Einsicht in das Länderinformationsblatt zur Ukraine und merkte an, die Berichte würden von unabhängiger Stelle kommen, diese Leute wüssten aber nicht wirklich über die Ukraine Bescheid.
8. Am 28.01.2021 erging der Abschiebeauftrag für den 31.01.2021 auf dem Luftweg.
9. Mit Bescheid vom 29.01.2021, zugestellt am 29.01.2021, wurde der BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.). In Spruchpunkt II. wurde gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Ukraine gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 9 FPG wurde ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Eine Frist zur freiwilligen Ausreise wird gemäß § 55 Abs. 4 FPG nicht gewährt (Spruchpunkt V.) und einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das BFA aus, dass die BF eine führende und repräsentative Funktion für das Asow-Regiment sowie der daraus entstandenen politischen Partei „National Corps“ innehabe. Aus der verwendeten politischen Rhetorik wie aus der gewählten Symbolik lasse sich unzweifelhaft schließen, dass es sich bei den oben genannten, um unmittelbar an der nationalsozialistischen Ideologie orientierten Bewegungen handle. Die BF sei bei rechtsextremen Veranstaltungen in ganz Europa zugegen und halte dort Reden. Die Organisation Intermarium sei vom rechtsextremen National Corps gegründet worden, sodass die BF eine Mitverantwortung für deren Politik trage, da sie diese zumindest bewusst und billigend fördere. Der Vorsitzende des National Corps, den die BF auch persönlich kenne, erklärte, dass die ukrainische Nation es zur Mission hätte, die weißen Rassen in einem letzten Kreuzzug gegen die semitischen Untermenschen zu führen. Die BF stelle durch ihre Einstellung, die mit einer gewaltfreien demokratischen Willensbildung, dem europäischen Rechtsdenken und den Grundprinzipien der österreichischen Rechtsordnung, nicht in Einklang zu bringen sei und ihrem Naheverhältnis zu einer extremistischen Organisation eine besonders schwerwiegende Gefahr für den Staat und die Gesellschaft dar.
10. Gegen den gegenständlichen Bescheid erhob die BF am 30.01.2021 fristgerecht Beschwerde und beantragte dieser die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Inhaltlich brachte sie zusammengefasst vor, dass der BF eine rechtswidrige Einreise gemäß Art. 6 Schengener Grenzkodex (SGK) nicht anzulasten sei. Dass sie die Voraussetzungen dafür erfüllt habe, bestätige die Visumausstellung durch die österreichische Botschaft in Kiew. Außerdem unterliege die belangte Behörde einem Rechtsirrtum, wenn sie die Rechtswidrigkeit des Aufenthalts der BF mit Art. 6 SGK begründe. Vielmehr ist die Rechtsgrundlage für die Annullierung und Aufhebung von Visa im Visakodex geregelt, welcher gemäß Art. 34 der BF die Einlegung eines Rechtsmittels ermögliche. Dies sei der BF rechtswidrig verweigert worden. Die BF sei Inhaberin eines ukrainischen biometrischen Reisepasses und demnach berechtigt sich 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen visumfrei im Schengen-Raumen aufzuhalten. Ihr Aufenthalt sei rechtmäßig gewesen, sodass es rechtswidrig sei, gegen sie eine Rückkehrentscheidung wegen eines angeblichen rechtswidrigen Aufenthalts zu erlassen. Die Begründung auf welche Art und Weise die BF die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet haben soll, sei grob mangelhaft und könne sie auch keine diesbezüglichen konkreten Aussagen der BF wiedergeben. Zudem habe sich die belangte Behörde nicht damit auseinandergesetzt, ob und inwieweit die BF in Österreich irgendwelche politischen Aktivitäten gesetzt habe. Die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes sei weit überschießend und unverhältnismäßig, denn die Behörde habe nicht dargelegt, in welcher konkreten Verbindung die BF zu den „National Corps“ und „Asow“ steht und auch keine Straftaten dieser Bewegungen oder der BF nennen können.
11. Am 11.02.2021 langte eine Beschwerdebeantwortung des BFA beim BVwG ein, in der zusammengefasst vorbracht wurde, dass neben dem vom BVT vorgelegten Bericht auch der persönliche Eindruck von der BF einen maßgeblichen Eindruck auf die Behörde gehabt habe. An der Begründung der Visumsannullierung durch die LPD Wien habe kein Zweifel bestanden und so sei davon ausgegangen worden, dass das Visum als ex tunc verwirkt gelte, und sohin ein auf das Visum gestützter Aufenthalt weder zum Zeitpunkt der Festnahme noch zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung bestand. Das Recht der BF auf visafreien Aufenthalt, sei durch ihre Gefährdung iSd Art. 6 Abs. 1 lit. e Schengener Grenzkodex verwirkt. Ein Rechtsmittel im Annullierungsverfahren sei der BF nicht verweigert worden. Für die Verhängung eines Einreiseverbotes gemäß § 53 Abs. 3 Z 9 FPG werde ein Aufruf zu Extremismus vor großer Öffentlichkeit oder dahingehende Gewalttaten nicht verlangt, sondern genüge das Naheverhältnis bzw. die dahingehende Meinungskundgabe. Auch wenn die BF versuche durch ihre wissenschaftliche Vorgehensweise ihr Verhalten zu verharmlosen, sei ihre Gesinnung deutlich im rechtsextremen Lager zuzuordnen. Die momentan coronabedingt unruhige Situation sei hervorragend geeignet, um durch extremistische Kräfte die demokratische Ordnung zu destabilisieren, weshalb gerade bei der BF eine Verpflichtung der Behörde bestanden habe, die aufschiebende Wirkung abzuerkennen.
12. Am 18.02.2021 ging eine Anfragebeantwortung des BVT zur BF beim BVwG ein, in der unter anderem ergänzende Informationen zu den von ihr besuchten Veranstaltungen, den Gruppierungen zu denen sie Kontakt hat, ihre Verbindung zum Asow-Bataillon und verschiedenen, als rechtsextrem eingestuften, Gruppierungen in Europa und dem Projekt „Reconquista Europa“, das der BF zugerechnet werden könne, übermittelt wurden.
13. Am 09.03.2021 ging eine Beantwortung des BVT zu einem ergänzenden Ersuchen des BVwG ein, in dem ausgeführt wurde, dass im Zuge des Aufenthalts der BF in Österreich keine verstärkten rechtsextremen Veranstaltungen und Handlungen wahrgenommen worden seien. Weiters wurde erklärt, dass zu den Demonstrationsteilnehmern gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung Personen aus dem neonazistischen Bereich und der „Neuen Rechten“ gehören. XXXX sei eine Führungsfigur der Neuen Rechten in Österreich, ob es zwischen ihm und der BF ein Bekanntschaftsverhältnis gebe, sei nicht bekannt.
12. In einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation über die BF, das Asow-Regiment und die Partei „National Corps“ vom 11.03.2021, wurde ausgeführt, dass „National Corps“ dem rechten politischen Spektrum angehöre und antisemitische, neonazistische und stark nationalistische Züge aufweise. Zwischen „National Corps“ und der Asow-Brigade bestünden enge Kontakte. Die BF gehöre der politischen Führungsriege des „National Corps“ an, wo sie für internationale Beziehungen zuständig sei.
14. Am 28.04.2021 langte eine Stellungnahme der BF, zu dem ergänzenden Bericht des BVT und der Staatendokumentation ein, in der zunächst erklärt wurde, gegen die Annullierung des Visum D sei keine Beschwerde erhoben worden und bleibe die Beschwerde gegen alle Spruchpunkte des gegenständlichen Bescheides aufrecht. Inhaltlich wurde zusammengefasst vorgebracht, dass sich aus der Fragenbeantwortung des BVT gerade keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in Österreich ergebe. Konkrete Angaben oder Belege für rechtswidrige Aktivitäten der BF seien in den Ermittlungsergebnissen nicht zu finden. Außerdem seien die für die Recherche herangezogenen Quellen nicht vertrauenswürdig, mehrheitlich anti-ukrainisch und russlandfreundlich. Die BF habe in keiner ihrer Konferenzreden jemals rechtsextremistische Äußerungen getätigt. Zudem gehe aus dem vom BVT zitierten Artikel „The First Lady of Ukrainian Nationalism“ hervor, dass sich die BF vom „Asgardsrei“-Festival und seinem Gründer distanziert habe und an keinen weiteren Festivals mehr teilgenommen habe. Außerdem interpretiere das BVT die Bestrebungen des politischen Projekts „Reconquista Europa“ falsch, denn ziele es nicht darauf ab das vereinte Europa zu untergraben, sondern es zu reformieren und zu stärken. Es seien keine Beweise für die angeblich rechtsextremen Meinungen der BF vorgelegt wurden und habe die BF keine Position innerhalb des Asow-Regiments inne.
15. Mit Stellungnahme vom 29.04.2021 führte das BFA erneut aus, die BF sei unzweifelhaft nicht nur bloßes Mitglied, sondern Schlüsselfigur in der rechtsextremen Szene Osteuropas, die sie auch gegen die Europäische Union und die von ihr verkörperte Rechts- und Wertegemeinschaft wende. Sie werde vom BVT als Kontaktperson rechtsextremer Gruppierungen in der Ukraine genannt. Die BF vertrete öffentlich gerade jene Aspekte der Theorien von Ernst Jünger, die Totalitarismus befördern. Insoweit sehe sich die Behörde in ihrer Anwendung des § 53 Abs. 3 Z 9 FPG bestätigt. Aufgrund der kurzen Aufenthaltsdauer der BF in Österreich könne auch nichts über langfristige Aktivitäten gesagt werden. Am Gesamtbild vermöge der bloße Hinweis, dass die BF während ihres Aufenthalts keine politischen Aktivitäten gesetzt hat, nichts zu ändern. Die BF gehöre in der Partei „National Corps“ zum Führungsstab und handle es sich dabei um eine rechtsradikale Organisation und den politischen Arm des Asow-Regiments.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die BF führt den Namen XXXX , ist am XXXX geboren und ukrainische Staatsangehörige.
Die BF reiste, aufgrund eines Stipendiums beim IWM, am 06.01.2021 in das österreichische Bundesgebiet ein. Sie war im Besitz eines österreichischen Visum D zu Erwerbszwecken (gültig von 06.01.2021 bis 30.06.2021). Am 11.01.2021 wurde ihr Stipendiumsvertrag vonseiten des IWM gekündigt.
Am 28.01.2021 wurde das Visum D der BF nach einer Befragung von der LPD Wien annulliert. Am 29.01.2021 erging eine Rückkehrentscheidung mit Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbotes gegen die BF.
Am 31.01.2021 wurde die BF über den Luftweg in die Ukraine abgeschoben.
Die BF spricht Ukrainisch, Russisch, Englisch und auch etwas Deutsch. Sie absolvierte in der Ukraine elf Jahre das Gymnasium, hat einen Studienabschluss in Philosophie und auch einen mit einem Doktorat vergleichbaren Abschluss. Die BF lebte bis zur Ausreise in der Ukraine.
Die BF ist gesund und arbeitsfähig. Sie fällt in keine der Risikogruppen für Covid-19.
Die BF verfügt in Österreich über keine familiären, privaten oder sozialen Anknüpfungspunkte.
Die BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Nicht festgestellt werden kann, dass eine ausgeprägte und verfestigte entscheidungserhebliche individuelle Integration der BF in Österreich vorliegt.
1.2. Zur beruflichen Tätigkeit der BF:
Die BF ist Mitglied der ukrainischen Partei „National Corps“ und Koordinatorin des „Intermarium“-Projekts, welches von dieser Partei gegründet wurde. Sie hat ein Naheverhältnis zur ukrainischen Asow-Brigade. Zudem ist der BF die Unternehmung „Reconquista Europe“ zuzuordnen.
Die BF hat Nahebeziehungen zu bedenklich rechten – rechtsextremen - Bewegungen und Gruppen in ganz Europa und den USA, wie der Identitären Bewegung und der Partei „Der Dritte Weg“ in Deutschland und „Casa Pound“ in Italien.
Beginnend mit dem Jahr 2016 hält die BF regelmäßig Vorträge und Reden bei einschlägigen Kongressen und Veranstaltungen. Thematisch geht es zumeist um das Intermarium-Projekt und ihre wissenschaftlichen Arbeiten und Theorien zu Ernst Jünger und mit ihm verwandten Philosophen.
Während ihres Aufenthaltes kam es bei zwei Demonstrationen in Kärnten (18.01.2021 und 23.01.2021), einer Demonstration in der Steiermark (08.01.2021) und einer Demonstration in Wien (16.01.2021) zu Anzeigen nach dem Verbotsgesetz.
In Österreich nahm die BF an keinen rechts- oder rechtsextremistischen Veranstaltungen teil. Es wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit festgestellt, dass die BF auch in Österreich versuchen wird Kontakt mit rechtsextremen Gruppierungen aufzunehmen und ihre Wertvorstellungen zu verbreitern.
Die BF stellt aktuell keine schwerwiegende Gefährdung für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar. Wenngleich die BF aufgrund ihrer Vernetzung im internationalen rechtsextremen Bereichen auch in Österreich durch Teilnahme an Veranstaltungen eine hohe potentielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt.
1.3. Zur Frage der Rückkehr in die Ukraine:
Es existieren in casu keine Umstände, welche einer Rückkehr der BF in die Ukraine entgegenstünden. Die BF verfügt über keine sonstigen Aufenthaltsberechtigungen. Die BF wird nicht wegen Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht oder verfolgt.
Die BF leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche ihrer Rückkehr in die Ukraine entgegenstehen würden. Sie fällt auch nicht unter die Covid-Risikogruppen. Auch aus dem sonstigen Verfahrensergebnis werden vor dem Hintergrund der aktuellen Lage in der Ukraine keine Hinweise auf eine allfällige Gefährdung der BF im Falle ihrer Rückkehr ersichtlich, noch wurde vom Beschwerdeführer eine solche Gefährdung behauptet. Die BF gab vielmehr explizit an, in der Ukraine keine Probleme zu haben. Eine in die Ukraine zurückkehrende Person, bei welcher keine berücksichtigungswürdigen Gründe vorliegen, wird durch eine Rückkehr nicht automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt.
Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie bildet kein Rückkehrhindernis. Die Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Beschwerdeführerin bei einer Rückkehr in die Ukraine eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
In der Ukraine halten sich Familienangehörige der BF auf. Die BF ist arbeitsfähig und in der Lage ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie ist Koordinatorin des Projekts „Intermarium“, Parteimitglied des „National Corps“ und tritt als Rednerin auf diversen Veranstaltungen auf. Die BF wird in keine existenzgefährdende Notlage in der Ukraine geraten.
1.4. Zur Lage in der Ukraine:
Das BVwG trifft folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat unter Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 16.10.2020 und schließt sich damit vollinhaltlich den, dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegenden, nach wie vor als aktuell anzusehenden Länderfeststellungen an. Die BF ist den Länderfeststellungen nicht entgegengetreten.
COVID-19
Letzte Änderung: 16.10.2020
Die ukrainische Regierung verlängerte am 13.10.2020 die angepassten Quarantäne-Maßnahmen
bis mindestens 31.12.2020. Mit dieser abermaligen Quarantäne-Verlängerung gehen geplante
zusätzliche Beschränkungen einher, um COVID-19 einzudämmen (verringerte Teilnehmerzahlen
bei Großveranstaltungen etc.). Die aktuelle Quarantäne-Verlängerung stellt eine
Reaktion auf die in der Ukraine stark steigenden COVID-Fallzahlen dar (Gov 13.10.2020; vgl.
KP 13.10.2020; vgl. Reuters 13.10.2020).
Die sogenannte angepasste Quarantäne (Ampelsystem) wurde im Juli 2020 von der ukrainischen
Regierung eingeführt (UA 25.9.2020) und beruht auf Faktoren wie Fallzahlen pro
100.000 Einwohner während der letzten 14 Tage und Bettenauslastung in Krankenhäusern
(KP 13.10.2020). Insgesamt stehen in der Ukraine 52.000 Krankenhausbetten für COVID-19-
Patienten zur Verfügung, wovon 34.154 Betten derzeit belegt sind (KP 13.10.2020). Die regierungseigene COVID-Homepage verlautbart, bisher (Stichtag 13.10.2020) insgesamt 2.630.988
COVID-Tests durchgeführt zu haben (CMU 13.10.2020).
Die ukrainische Regierung beschloss im April 2020 einen 66 Mrd. Hrywnja (ca. 2,2 Mrd. Euro)
umfassenden Fonds zum Kampf gegen COVID-19 und entwickelte sozialpolitische Maßnahmen,
um die Quarantäne-Folgen für Haushalte abzufedern: Im April 2020 veranlasste die
Regierung eine Einmalzahlung von 1.000 Hrywnja (etwa 30 Euro) an einkommensschwache
Rentner und führte eine allgemeine Zuzahlung von 500 Hrywnja an Rentner ein, die älter als
80 Jahre sind (insgesamt ca. 1,5 Millionen Menschen). Im Mai 2020 trat die ohnehin bereits
geplante Rentenanpassung vorzeitig in Kraft. Die Regierung gewährt Arbeitnehmern, denen
aufgrund von Quarantäne-Maßnahmen der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht, Kurzarbeitergeld.
Die Mindesthöhe der Arbeitslosenunterstützung wurde von 1.630 auf 1.800 Hrywnja (etwa 54
Euro) angehoben. Zum 1. September 2020 wurde der Mindestlohn um 6% von 4.723 auf 5.000
Hrywnja (ca. 150 Euro) erhöht (UA 25.9.2020). Im September 2020 wies der ukrainische Präsident
Selenskyj die Regierung an, die Gehälter/Löhne von Arbeitskräften im medizinischen
Bereich zu erhöhen (WP 8.10.2020).
Seit Mai 2020 wurden mehrere Beschränkungen aufgehoben, beispielsweise sind der Betrieb
von Kosmetiksalons und Fitnesscentern und Bewirtungen in Außenbereichen von Cafés und
Restaurants wieder erlaubt. Seit Ende Mai 2020 fahren U-Bahnen in den Großstädten wieder,
und einige Zugstrecken sind erneut aktiv. Im Juni 2020 starteten zuerst die Inlandsflüge, und
kurze Zeit später fanden auch einige internationale Flüge wieder statt (UA 25.9.2020).
Laut jüngsten Zahlen des Ukrainischen Statistikamts ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 2.
Quartal 2020 im Vergleich zum Wert des Vorjahres um 11,4 % gesunken (SSSU o.D.; vgl. UA
25.9.2020).
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.07.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben
ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen
und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen
stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten
und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten
(FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk
und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen.
Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).
Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst
erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten
Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen
verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge
sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55
Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar
2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt.
Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an
der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern
und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes
überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der
Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig
nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen
nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat
das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis
Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von
Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das
als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am
26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten.
(AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im
September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine
angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern
der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen
Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der
russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern.
Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt.
Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen
Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall.
Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der
damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht,
„das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“.
In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von
Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl.
SO 24.4.2019).
Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj
während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb
der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von
Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie,
zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter
Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen
Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas
wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit
denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27
ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 09.07.2020
Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig.
Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden.
Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den
nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung
zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem
Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem
In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt
die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident
ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht
direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat
es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche
durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die
Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder
verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies
betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBTPersonen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).
Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden
getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und
ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden
angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert
jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen
werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).
In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020).
Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei
nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als
von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die
Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in
der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich
die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen
„Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen
durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den
erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten
im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft
wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia
Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei.
Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei
verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst,
der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen
ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform
somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze
befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls
nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher
Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften,
spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits
seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die
Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der
Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die
Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung
eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein
Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige
Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese
nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der
Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission
(EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan
entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung
ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt
wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).
Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 09.07.2020
Der Schutz der Menschenrechte durch die Verfassung ist gewährleistet (AA 29.2.2020; vgl.
GIZ 3.2020a). Jedoch bestehen in der Ukraine gegenwärtig noch Unzulänglichkeiten in der
Umsetzung und Gewährung der Menschenrechte, was insbesondere die Bereiche Folter, Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit, Behandlung von Geflüchteten und sozialen (LGBTQ) bzw.
ethnischen Minderheiten (Roma) betrifft. 2019 stufte Freedom House die Ukraine auf „partly
free“ ab (GIZ 3.2020a). Zu den Menschenrechtsproblemen gehören darüber hinaus u.a. rechtswidrige
oder willkürliche Tötungen; Folter und andere Misshandlungen von Gefangenen durch
Vollzugspersonal; schlechte Bedingungen in Gefängnissen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; Einschränkungen der Internetfreiheit und Korruption. Die Regierung hat es im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu
unternehmen, um Fehlverhalten von Beamten strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen.
Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest
(USDOS 11.3.2020).
Die Verfassung schreibt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausdrücklich vor.
Auch im Übrigen gibt es keine rechtlichen Benachteiligungen. Nach ukrainischem Arbeitsrecht
genießen Frauen die gleichen Rechte wie Männer. Tatsächlich werden sie jedoch häufig schlechter
bezahlt und sind in Spitzenpositionen unterrepräsentiert. Nach 2018 kam es auch am 8. März
2019 bei Veranstaltungen und Paraden zum Frauentag in mehreren Städten zu Zwischenfällen
mit rechten Gruppierungen (AA 29.2.2020). Durch den bewaffneten Konflikt kommt es vermehrt
zu häuslicher Gewalt und Gender Based Violence (GBV), von der vor allem Frauen betroffen
sind. Ein neues Gesetz, das häusliche Gewalt als Straftatbestand deklariert, wurde im Dezember
2017 angenommen. Es gibt jedoch kaum ausreichend psychosoziale und medizinische
(Notfall-) Einrichtungen mit geschultem Personal (ÖB 2.2019). Frauen und Mitglieder von Minderheitengruppen können am politischen Leben in der Ukraine teilnehmen (FH 4.3.2020; vgl.
USDOS 11.3.2020). Diese Rechte werden jedoch durch Faktoren wie Diskriminierung, den
Konflikt im Osten, Analphabetismus und das Fehlen von Ausweisdokumenten (häufig bei Roma)
geschmälert. Das Gesetz über Kommunalwahlen schreibt eine 30%-Quote für Frauen auf
Parteilisten vor, die jedoch nicht wirksam durchgesetzt wird (FH 4.3.2020). Nach den Parlamentswahlen vom Juli 2019 stieg der Anteil der Frauen im Parlament von 12 auf 20% (FH
4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten
beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich an politischen Prozessen und Wahlprozessen zu beteiligen (FH 4.3.2020).
Die Aktivitäten von Oppositionsparteien und -gruppen sowie die Versammlungs-, Meinungs- und
Pressefreiheit unterliegen keinen rechtsstaatlichen Restriktionen (AA 29.2.2020). Die Medienlandschaft zeichnet sich durch einen beträchtlichen Pluralismus sowie offene Kritik an der
Regierung aus (FH 4.3.2020). Meinungs- und Pressefreiheit leiden jedoch weiter hinunter der
wirtschaftlichen Schwäche des unabhängigen Mediensektors und dem Übergewicht von Medien,
die Oligarchen gehören oder von ihnen finanziert werden. Repressionen und Angriffe
gegenüber Journalisten sind insgesamt rückläufig; besorgniserregend bleiben aber die oftmals
fehlenden Ermittlungserfolge und die daraus resultierende Straflosigkeit – selbst in schwerwiegenden Fällen. Diverse russische soziale Medien und populäre Onlinedienste bleiben seit einem Dekret von Mai 2017 weiter verboten. Aus diesen Gründen verbleibt die Ukraine trotz großer
Fortschritte gegenüber den Jahren vor dem Euromaidan im „Reporter ohne Grenzen“-Index auf
Platz 102 von 180 Staaten (AA 29.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Im Jahr 2018 erneuerten
die Behörden bestehende Maßnahmen gegen eine Reihe russischer Nachrichtenagenturen
und ihre Journalisten. Verschiedene Sprachgesetze schreiben Nachrichtenagenturen vor, dass
bestimmte Inhalte in ukrainischer Sprache verfasst sein müssen. Im Jahr 2019 bestätigte der
Oberste Gerichtshof der Ukraine regionale Verbote für russischsprachige „Kulturprodukte“, darunter
Bücher und Filme (FH 4.3.2020). Die Regierung setzte die Praxis fort, bestimmte Werke
russischer Schauspieler, Filmregisseure und Sänger zu verbieten und Sanktionen gegen prorussische
Journalisten zu verhängen (USDOS 11.3.2020).
Von einigen Ausnahmen abgesehen, können Einzelpersonen im Allgemeinen öffentlich und privat
Kritik an der Regierung üben und Angelegenheiten von öffentlichem Interesse diskutieren,
ohne offizielle Repressalien befürchten zu müssen. Das Gesetz verbietet jedoch Aussagen,
die die territoriale Integrität bzw. nationale Sicherheit des Landes bedrohen, den Krieg fördern,
einen Rassen- oder Religionskonflikt befeuern oder die russische Aggression gegen das Land
unterstützen, und die Regierung verfolgt Personen nach diesen Gesetzen (USDOS 11.3.2020).
Gewalt und Drohungen gegen Journalisten bleiben weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020;
vgl. FH 4.3.2020). Das unabhängige Institut für Masseninformation registrierte von Januar bis
Anfang Dezember 2019 226 Verstöße gegen die Medienfreiheit, darunter die Ermordung eines
Journalisten. Weitere Verstöße waren 20 Fälle von Schlägen, 16 Cyberangriffe, 93 Fälle
von Einmischung, 34 Fälle von Bedrohung und 21 Fälle von Einschränkung des Zugangs zu
öffentlichen Informationen (FH 4.3.2020). Die Qualität des ukrainischen Journalismus leidet
nicht nur unter russischer Propaganda, Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik sowie
der wirtschaftlichen Krise, sondern auch unter einer nicht zufriedenstellenden Ausbildung und
Einhalten von journalistischen Standards (GIZ 3.2020a). Die Strafverfolgungsbehörden überwachen
das Internet, zeitweise ohne entsprechende rechtliche Befugnisse, und unternahmen 2019
schwerwiegende Schritte, um den Zugang zu Websites aufgrund von „nationalen Sicherheitsbedenken“ zu blockieren. Gerichte sollen auch begonnen haben, den Zugang zu Websites aus anderen Gründen als der nationalen Sicherheit zu blockieren. Es gab Berichte darüber, dass
die Regierung Einzelpersonen wegen ihrer Beiträge in sozialen Medien strafrechtlich verfolgte
(USDOS 11.3.2020).
Grundversorgung
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die makroökonomische Lage hat sich nach schweren Krisenjahren stabilisiert. Ungeachtet der
durch den Konflikt in der Ostukraine hervorgerufenen Umstände wurde 2018 ein Wirtschaftswachstum von 3,3% erzielt, das 2019 auf geschätzte 3,6% angestiegen ist. Die Staatsverschuldung ist in den letzten Jahren stark angestiegen und belief sich 2018 auf ca. 62,7% des BIP (2013 noch ca. ein Drittel). Der gesetzliche Mindestlohn wurde zuletzt mehrfach erhöht und
beträgt seit Jahresbeginn 4.173 UAH (ca. 130 EUR) (AA 29.2.2020).
Die EU avancierte zum größten Handelspartner der Ukraine. Der Außenhandel mit Russland
nimmt weiterhin ab. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU regelt
das Assoziierungsabkommen, das am 1. September 2017 vollständig in Kraft getreten ist (GIZ
3.2020b).
Die Existenzbedingungen sind im Landesdurchschnitt knapp ausreichend. Die Versorgung der
Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert. Vor allem in ländlichen Gebieten stehen Strom,
Gas und warmes Wasser zum Teil nicht immer ganztägig zur Verfügung (AA 29.2.2020; vgl. GIZ
12.2018). Die Situation, gerade von auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen,
Kranken, Behinderten und Kindern, bleibt daher karg. Die Ukraine gehört trotzt zuletzt deutlich
steigender Reallöhne zu den ärmsten Ländern Europas. Das offizielle BIP pro Kopf gehört zu
den niedrigsten im Regionalvergleich und beträgt lediglich ca. 3.221 USD p.a. Ein hoher Anteil
von nicht erfasster Schattenwirtschaft muss in Rechnung gestellt werden (AA 29.2.2020). Die
Mietpreise für Wohnungen haben sich in den letzten Jahren in den ukrainischen Großstädten
deutlich erhöht. Wohnraum von guter Qualität ist knapp (GIZ 12.2018). Insbesondere alte bzw.
schlecht qualifizierte und auf dem Arbeitsmarkt nicht vermittelbare Menschen leben zum Teil weit
unter der Armutsgrenze (GIZ 3.2020b). Ohne zusätzliche Einkommensquellen (in ländlichen
Gebieten oft Selbstversorger, Schattenwirtschaft) bzw. private Netzwerke ist es insbesondere
Rentnern und sonstigen Transferleistungsempfängern kaum möglich, ein menschenwürdiges
Leben zu führen. Sozialleistungen und Renten werden zwar regelmäßig gezahlt, sind aber trotz regelmäßiger Erhöhungen größtenteils sehr niedrig (Mindestrente zum 1. Dezember 2019:
1.638 UAH (ca. 63 EUR) (AA 29.2.2020). Nachdem die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten
weit hinter den Möglichkeiten im EU-Raum, aber auch in Russland, zurückbleiben, spielt
Arbeitsmigration am ukrainischen Arbeitsmarkt eine nicht unbedeutende Rolle (ÖB 2.2019).
Das ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingeführte ukrainische Sozialversicherungssystem
umfasst eine gesetzliche Pensionsversicherung, eine Arbeitslosenversicherung und eine
Arbeitsunfallversicherung. Aufgrund der Sparpolitik der letzten Jahre wurde im Sozialsystem
einiges verändert, darunter Anspruchsanforderungen, Finanzierung des Systems und beim Versicherungsfonds.
Die Ausgaben für das Sozialsystem im nicht-medizinischen Sektor sanken von 23% des BIP im Jahr 2013 auf 18,5% im Jahr 2015 und danach weiter auf 17,8%. Dies ist vor allem auf Reduktion von Sozialleistungen, besonders der Pensionen, zurückzuführen.
Das Wirtschaftsministerium schätzte den Schattensektor der ukrainischen Wirtschaft 2017 auf
35%, andere Schätzungen gehen eher von 50% aus. Das Existenzminimum für eine alleinstehende
Person wurde für Jänner 2019 mit 1.853 UAH beziffert (ca. 58 EUR), ab 1. Juli 2019 mit 1.936 UAH (ca. 62 EUR) und ab 1. Dezember 2019 mit 2.027 (ca. 64,5 EUR) festgelegt
Außerdem ist eine Hinterbliebenenrente vorgesehen, die monatlich 50% der Rente des Verstorbenen für eine Person beträgt; bei zwei oder mehr Hinterbliebenen werden 100% ausgezahlt.
Versicherte Erwerbslose erhalten mindestens 1.440 UAH (ca. 45 EUR) und maximal 7.684 UAH (240 EUR) Arbeitslosengeld pro Monat, was dem Vierfachen des gesetzlichen Mindesteinkommens entspricht. Nicht versicherte Arbeitslose erhalten mindestens 544 UAH (ca. 17 EUR). In den ersten 90 Kalendertagen werden 100% der Berechnungsgrundlage ausbezahlt, in den nächsten 90 Tagen sind es 80%, danach 70%. Die gesetzlich verpflichtende Pensionsversicherung wird durch den Pensionsfonds der Ukraine verwaltet, der sich aus Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aus Budgetmitteln und diversen Sozialversicherungsfonds speist. Im Oktober 2017 nahm das ukrainische Parlament eine umfassende Pensionsreform an, die vor allem auch von internationalen Geldgebern zur Reduzierung des großen strukturellen Defizits gefordert wurde. Darin enthalten ist vor allem eine Anhebung der Mindestpension, welche von knapp zwei Drittel aller Pensionisten bezogen wird, um knapp 700 UAH (ca. 22 EUR). Ebenfalls vorgesehen ist eine automatische Indexierung der Mindestpension sowohl an die Inflationsrate, wie auch an die Entwicklung des Mindestlohns. Weiters wurde für arbeitende Pensionisten der Beitrag zur staatlichen Pensionsversicherung von 15% zur Gänze gestrichen. Das Pensionsantrittsalter wurde bei 60 Jahren belassen, die Anzahl an Beitragsjahren zur Erlangung einer staatlichen Pension wurde jedoch von 15 auf 25 Jahre erhöht und soll sukzessive bis 2028 weiter auf 35 Jahre steigen. Ebenfalls
abgeschafft wurden gewisse Privilegien z.B. für öffentliche Bedienstete, Richter, Staatsanwälte
und Lehrer. Im Jahr 2017 belief sich die Durchschnittspension auf 2.480,50 UAH (ca. 77 EUR),
die durchschnittliche Invaliditätsrente auf 1.996,20 UAH (ca. 62,31 EUR) und die Hinterbliebenenpension auf 2.259,99 UAH (ca. 70,55 EUR). Viele Pensionisten sind dementsprechend
gezwungen, weiterzuarbeiten. Private Pensionsvereinbarungen sind seit 2004 gesetzlich möglich.
Die Ukraine hat mit 12 Millionen Pensionisten (knapp ein Drittel der Gesamtbevölkerung)
europaweit eine der höchsten Quoten in diesem Bevölkerungssegment, was sich auch im öffentlichen Haushalt widerspiegelt: 2014 wurden 17,2% des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine
für Pensionszahlungen aufgewendet (ÖB 2.2019; vgl. UA 27.4.2018).
Seit dem russisch-ukrainischen Krieg in der Ostukraine verschärfte sich die Lage der Bevölkerung
in den Gebieten Donezk und Luhansk beträchtlich. Circa 3,5 Millionen Menschen sind
auf die humanitäre Hilfe angewiesen. Die Infrastruktur in der Region ist zerstört, die Wirtschaft
ist paralysiert, lediglich kleine und mittlere Unternehmen können überleben (GIZ 3.2020b). In
den von Separatisten besetzten Gebieten in Donezk und Luhansk müssen die Bewohner die
Kontaktlinie überqueren, um ihre Ansprüche bei den ukrainischen Behörden geltend zu machen
(AA 29.2.2020).
2. Beweiswürdigung:
Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde kommt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein mängelfreies, ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst hat.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen zur Identität der BF gründen auf dem in Kopie im Akt befindlichen ukrainischen biometrischen Reisepass der BF mit der Nummer XXXX , mit Gültigkeitsdauer bis 10.08.2027.
Die Feststellungen zu ihrer Einreise, ihrem Visum D und ihrem Stipendium ergeben sich aus den Angaben der BF und dem Verwaltungsakt.
Die Visumsannullierung durch die LPD Wien, die gegen die BF ergangene Rückkehrentscheidung mit unbefristetem Einreiseverbot und ihre Abschiebung zurück in die Ukraine ergeben sich zweifelsfrei aus dem unbedenklichen Verwaltungsakt.
Die Feststellungen zur Schul- und Universitätsausbildung der BF, ihren Sprachkenntnissen, ihrem Gesundheitszustand und ihren familiären, privaten und sozialen Anknüpfungspunkten in Österreich ergibt sich aus ihren g