TE Bvwg Erkenntnis 2021/2/2 G314 2238746-1

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Veröffentlicht am 02.02.2021
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Entscheidungsdatum

02.02.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76
VwGVG §35

Spruch


G314 2238746-1/9E

Schriftliche Ausfertigung des am 22.01.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , Geburtsdatum unbekannt, vertreten durch die BBU-GmbH, gegen den Mandatsbescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2021, Zl. XXXX , und gegen die Anhaltung in Schubhaft seit XXXX 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

1. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom XXXX 2021 und die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft von XXXX 2021 bis XXXX 2021 wird als unbegründet abgewiesen.

2. Der Beschwerde gegen die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft von XXXX 2021 bis XXXX 2021 wird Folge gegeben und festgestellt, dass die Anhaltung in diesem Zeitraum rechtswidrig war.

3. Es wird gemäß § 22 a Abs 3 BFA-VG festgestellt, dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

4. Die Anträge der Parteien auf Kostenersatz werden gemäß § 35 VwGVG abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) wurde bei einer Polizeikontrolle am XXXX 2021 in XXXX ohne gültiges Reisedokument angetroffen, gemäß § 39 FPG festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum XXXX gebracht. Am XXXX 2021 wurde er unter Beiziehung eines Dolmetschers für Dari vernommen. In der Niederschrift der Vernehmung wird sein Geburtsdatum mit XXXX angegeben. Laut der Niederschrift gab der BF an, dass er in Rumänien Asyl beantragt habe und über Ungarn nach Österreich eingereist sei, hier aber nicht bleiben, sondern nach Belgien weiterreisen wolle. Der BF, der Polizeibeamte, der ihn befragte, und der Dolmetscher unterschieben die Niederschrift, die oberhalb der Unterschriften den Vermerk „Die aufgenommene Niederschrift wurde mir in einer für mich verständlichen Sprache rückübersetzt“ und oberhalb der Unterschrift des Dolmetschers den Vermerk „Ich bestätige, dass ich die gesamte Niederschrift richtig übersetzt habe“ enthält. Der BF hatte einen vorübergehenden Ausweis für Asylwerber, ausgestellt am XXXX 2020 von der Generalinspektion für Einwanderung des rumänischen Innenministeriums, sowie eine Bestätigung, wonach er aufgrund seines Antrags auf internationalen Schutz vom XXXX 2020 berechtigt sei, sich als Asylwerber in Rumänien aufzuhalten, bei sich. Darin wird sein Geburtsdatum jeweils mit XXXX angegeben. Eine EURODAC-Abfrage ergab einen Treffer in XXXX Rumänien am XXXX 2020.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) übernahm daraufhin das weitere Verfahren und ordnete mit dem nunmehr angefochtenen Mandatsbescheid vom XXXX 01.2021, Zl. XXXX , über den BF gemäß Art 28 Abs 1 und 2 Dublin-Verordnung iVm § 76 Abs 2 Z 3 FPG und § 57 Abs 1 AVG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Überstellungsverfahrens an. Der Bescheid wird zusammengefasst damit begründet, dass sich der BF dem Asylverfahren in Rumänien entzogen habe und ohne die erforderlichen Dokumente durch den Schengenraum gereist sei. Er habe keine finanziellen Mittel und sei nicht rechtmäßig nach Österreich eingereist, wo er weder sozial noch beruflich integriert sei, sodass ein beträchtliches Risiko des Untertauchens bestünde. Bei ihm liege Fluchtgefahr gemäß § 76 Abs 3 Z 6 und Z 9 FPG vor. Er sei haftfähig und habe keine schweren Krankheiten, die eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat unzumutbar machen würden. Ein Konsultationsverfahren sei bereits eingeleitet worden. Gelindere Mittel kämen aufgrund seiner finanziellen Situation und des Umstands, dass er sich dem Verfahren bereits einmal entzogen habe, nicht in Betracht. Die Schubhaft sei notwendig und verhältnismäßig.

Mit E-Mail vom 14.01.2021 wurde das BFA darüber informiert, dass der BF bei der mit Videodolmetsch durchgeführten amtsärztlichen Untersuchung am XXXX .2021 angegeben habe, dass sein Geburtsdatum ( XXXX alias XXXX ) nicht richtig und er am XXXX sei.

Gegen den Schubhaftbescheid und die fortdauernde Anhaltung des BF in Schubhaft richtet sich die am 19.01.2021 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eingebrachte Beschwerde, mit er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sowie die Aussprüche, dass die Anordnung der und die Anhaltung in Schubhaft rechtswidrig seien und dass die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung nicht vorlägen, beantragt. Außerdem begehrt er den Ersatz der Aufwendungen. Die weiteren Beschwerdeanträge auf Feststellung des Alters des BF sowie darauf, die Anhaltung im Rahmen der Festnahme für rechtswidrig zu erklären und der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wurden in der Folge zurückgezogen. Die Beschwerde wird im Wesentlichen damit begründet, dass der BF am XXXX geboren und damit minderjährig sei. Seiner Einvernahme am XXXX sei ein Farsi-Dolmetscher beigezogen worden, den er nicht verstanden habe, weil seine Muttersprache Paschtu sei. Das BFA hätte das Alter des BF feststellen und ihn im Rahmen der Manuduktionspflicht auf die Möglichkeit, internationalen Schutz zu beantragen, hinweisen müssen. Der BF habe seine Pflichten nach dem MeldeG nicht verletzt, weil er sich bei seiner Festnahme noch nicht drei Tage lang im Bundesgebiet aufgehalten habe. Die unrechtmäßige Einreise begründe für sich genommen keine Fluchtgefahr. In „Dublin-Fällen“ sei für die Schubhaftverhängung eine erhebliche Fluchtgefahr erforderlich, die hier nicht begründet worden sei. Gemäß § 79 Abs 2 FPG dürften Fremde unter 16 Jahren nur dann in Schubhaft angehalten werden, wenn eine dem Alter und Entwicklungsstand entsprechende Unterbringung und Pflege gewährleistet sei. Das BFA habe nicht begründet, warum gelindere Mittel nicht in Frage kämen, zumal der BF im Rahmen der Grundversorgung untergebracht werden könnte, sodass eine periodische Meldeverpflichtung und eine angeordnete Unterkunftnahme in Betracht kämen und zur Erreichung des Sicherungszwecks jedenfalls ausreichend wären.

Das BFA übermittelte dem BVwG auftragsgemäß die Verwaltungsakten und erstattete eine Stellungnahme zur Schubhaftbeschwerde, in der deren Abweisung, die Feststellung, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen sowie Kostenersatz in der gesetzlichen Höhe beantragt werden. Das BFA weist darauf hin, dass der BF nach seinen Angaben gegenüber der Polizei und laut der rumänischen Identitätskarte volljährig sei. Es sei nicht glaubhaft, dass er den Dolmetscher, der für Farsi und Dari zugelassen sei, nicht richtig verstanden habe. Der BF habe die ordnungsgemäße Rückübersetzung und die Richtigkeit seiner Angaben mit seiner Unterschrift bestätigt und vor der Beschwerde nicht auf die angeblich falsch übersetzten Personendaten hingewiesen. Es liege eine erhebliche Fluchtgefahr vor, zumal der BF versuche, sich als unbegleiteter Minderjähriger auszugeben, um der Überstellung nach Rumänien zu entgehen. Er habe angegeben, dass er nach Belgien weiterreisen wolle. Er habe keinen Wohnsitz in Österreich, kenne niemanden, der sich hier legal aufhalte, und habe nicht die finanziellen Mittel, um seinen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu finanzieren. Ein gelinderes Mittel komme nicht in Betracht.

An der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 22.01.2021 nahmen der (aus dem XXXX vorgeführte) BF, sein Rechtsvertreter, eine Dolmetscherin für Paschtu sowie eine Vertreterin des BFA teil. Nach dem Schluss der Verhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet.

Das BFA beantragte am 26.01.2021 die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.

Feststellungen:

Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stammt aus dem Distrikt XXXX in der Provinz XXXX . Seine Muttersprache ist Paschtu. Bei ihm bestehen keine signifikanten gesundheitlichen Probleme; er ist ohne Einschränkungen haftfähig. Sein Alter kann nicht festgestellt werden; insbesondere kann nicht festgestellt werden, ob er noch minderjährig oder bereits volljährig ist. Vom BFA wurden bis XXXX keine Maßnahmen zur Altersdiagnose in die Wege geleitet.

Der BF besitzt kein Reisedokument. Er verließ Afghanistan zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt und gelangte in der Folge nach Rumänien, wo er am XXXX .2020 internationalen Schutz beantragte. Ohne den Ausgang des Asylverfahrens abzuwarten, verließ er Rumänien und reiste in der Folge ohne Berechtigung zur Einreise nach oder zum Aufenthalt in Österreich über Ungarn in das Bundesgebiet ein, wo er am XXXX .2021 aufgegriffen wurde. Er stellte hier zunächst keinen weiteren Antrag auf internationalen Schutz und gab gegenüber den Behörden auch nicht an, dass er minderjährig sei. Erstmals bei der amtsärztlichen Untersuchung am 14.01.2021 sagte er, dass er am XXXX geboren sei. Während der Verhandlung vor dem BVwG am 22.01.2021 stellte er auch in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Der BF ist – abgesehen von Bargeld von EUR 100 sowie 15 Lei und 100 Bani (entspricht ca. EUR 3,30) – mittellos. Er ist in Österreich nicht sozial verankert, hat hier (abgesehen von einem Cousin, mit dem er gemeinsam unterwegs war und der mit ihm gemeinsam aufgegriffen wurde) keine Bezugspersonen, war hier nie erwerbstätig und hat keinen Wohnsitz. Er ist nicht bereit, freiwillig nach Rumänien zurückzukehren.

Das BFA leitete am XXXX .2021 ein Konsultationsverfahren mit Rumänien ein. Am 21.01.2021 stimmte Rumänien der Überstellung des BF zu. Ein Termin für die Überstellung nach Rumänien war am 22.01.2021 noch nicht fixiert; diese ist nach entsprechenden organisatorischen Vorkehrung (Flugbuchung etc.) aber grundsätzlich jederzeit möglich.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsakts des BVwG.

Name und Staatsangehörigkeit des BF werden anhand seiner konsistenten Angaben dazu festgestellt, ebenso seine Herkunftsregion. Es ist glaubhaft, dass Paschtu – wie angegeben - seine Muttersprache ist, weil bei der Verhandlung am 22.01.2021 keine Verständigungsprobleme mit der beigezogenen Dolmetscherin für Paschtu aufgetreten sind. Daraus kann aber noch nicht zwingend der Schluss gezogen werden, dass er den am XXXX .2021 beigezogenen Dolmetscher für Dari (die in Afghanistan übliche persische Sprache) nicht verstand, zumal die Mehrheit der Afghanen Dari, das als Lingua franca zwischen den Volksgruppen dient, beherrscht (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Dari-Persisch, Zugriff am 01.02.2021).

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF basieren auf seinen Angaben bei der Verhandlung vor dem BVwG und den vorhandenen Unterlagen. Es sind keine Hinweise auf Erkrankungen oder Einschränkungen seiner Haftfähigkeit aktenkundig.

In den beim BF vorgefundenen rumänischen Dokumenten wird sein Alter mit „ XXXX “ angegeben, in der am 08.01.2021 aufgenommenen Niederschrift mit „ XXXX “. Der BF behauptet, dass diese Daten nicht auf seinen Angaben beruhten. Sowohl in Rumänien als auch am XXXX .2021 in Österreich sei seiner Einvernahme ein Dolmetscher für Dari beigezogen worden, die er nicht verstanden habe. Sein Geburtsdatum sei der XXXX ; dies sei in seiner XXXX gestanden (die er mittlerweile verloren habe) und ihm von seinen Eltern so gesagt worden.

Diese Angaben des BF sind nicht glaubhaft, zumal er (wie auch der vernehmende Beamte und der Dolmetscher) die Niederschrift vom XXXX .2021 ohne Einwendungen unterschrieb. Viele Afghanen kennen den genauen Tag ihrer Geburt nicht, zumal Geburtsdaten in der afghanischen Gesellschaft eine geringe Bedeutung haben (vgl. etwa ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Wissen und Bedeutung von persönlichen Tagen (Geburt, Hochzeit) und Umgang mit Zeitangaben [a-10016], 7. Februar 2017 https://www.ecoi.net/de/dokument/1393481.html [Zugriff am 28. Jänner 2021]). Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass die Eltern des BF ihm sein Geburtsdatum (zumal nach dem gregorianischen Kalender) gesagt haben. Außerdem ist in einer Tazkira idR kein genaues Geburtsdatum erfasst (siehe z.B. Landinfo – Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Tazkera, passports and other ID documents, 22. Mai 2019 https://www.ecoi.net/en/file/local/2024733/Afghanistan-Tazkera-passports-and-other-ID-documents-22052019-final.pdf und SEM – Staatssekretariat für Migration (Schweiz) (ehemals: Bundesamt für Migration): Focus Afghanistan. Beschaffung eines Identitätsausweises (Tazkira) aus dem Ausland (05.10.2018), 5. Oktober 2018
https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/asien-nahost/afg/AFG-tazkira-d.pdf [Zugriff jeweils am 28.01.2021]).

Andererseits kann aber auch nicht mit der für eine positive Feststellung erforderlichen Sicherheit konstatiert werden, dass der BF bereits volljährig ist, zumal er sein Geburtsdatum seit 14.01.2021 konsistent mit XXXX angibt, aus seinem Aussehen und Auftreten nicht sicher auf ein Alter über oder unter 18 Jahren geschlossen werden kann und auch ausgehend von dem in Rumänien aufgenommenen Geburtsdatum denkbar ist, dass er das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Es ist möglich, dass dort mangels gesicherter Angaben zum Geburtstag des BF der XXXX . seines Geburtsjahres angenommen wurde, was bedeuten würde, dass er irgendwann im Lauf des Jahres 2021 volljährig wird, oder dass das Geburtsdatum nicht exakt aus dem in Afghanistan verwendeten persischen Sonnenkalender umgerechnet wurde und er daher zwischen dem XXXX und dem XXXX geboren wurde (vgl. zu dieser Vorgangsweise etwa www.afghantranslation.com/blog/afghan-calendar-translation-gap-afghans-really-born-january-1/ [Zugriff am 28.01.2021]). Aufgrund begründeter Zweifel sowohl an dem vom BF zuletzt angegebenen Geburtsdatum als auch an seiner Volljährigkeit, die im Schubhaftbeschwerdeverfahren innerhalb der Entscheidungsfrist nicht ausgeräumt werden konnten, ist zu dieser Frage eine Negativfeststellung zu treffen. Der Umstand, dass das BFA noch keine Altersfeststellung in die Wege geleitet hat, ergibt sich aus den Angaben der Behördenvertreterin am 22.01.2021.

Der BF hat vor dem BVwG angegeben, dass er kein Reisedokument besitzt. Es sind auch keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines solchen Dokuments aktenkundig. Der in Rumänien gestellte Antrag auf internationalen Schutz ergibt sich aus seinen Angaben, die mit dem EURODAC-Treffer und den bei ihm vorgefundenen rumänischen Dokumenten korrespondieren. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der BF zur Einreise nach oder zum Aufenthalt in Österreich berechtigt wäre. Dergleichen wird auch von ihm selbst nicht behauptet. In der Beschwerde wird zugestanden, dass er unrechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist ist.

Der BF behauptete, er habe schon vor dem 22.01.2021 in Österreich internationalen Schutz beantragt. Es sind aber keine Anhaltspunkte dafür aktenkundig. Es ist nicht glaubhaft, dass er schon am XXXX .2021 und danach bei jedem Kontakt mit der Polizei gesagt habe, er wolle Asyl beantragen. Üblicherweise gelingt es Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollen, dies auch ohne Sprachkenntnisse, zumal keine Formerfordernisse bestehen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass sowohl die Polizeibeamten als auch die Sozialarbeiter im XXXX ein solches Ansinnen des BF ignoriert hätten, wenn er es geäußert hätte.

Das E-Mail vom 14.01.2021 mit der Behauptung des BF, er sei am XXXX geboren, wurde vom BFA mit den Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt. Es ist den Akten nicht zu entnehmen, dass er schon davor behauptete, er sei minderjährig, zumal er die Niederschrift vom XXXX .2021, in der das Geburtsdatum XXXX angegeben wird, vorbehaltlos unterschrieb. Wenn er nunmehr angibt, er habe den beigezogenen Dolmetscher für Dari/Farsi nicht verstanden und ein Mitreisender, der sowohl Paschtu als auch Dari gesprochen habe, habe für ihn übersetzt, ist dies nicht glaubhaft, weil sich dafür in der Niederschrift, die auch vom vernehmenden Polizisten und vom Dolmetscher unterschrieben wurde, keine Anhaltspunkte finden.

Der BF gab an, abgesehen von einem Mobiltelefon und dem Geld, das er bei seiner Festnahme bei sich hatte und das sich der Aufstellung seiner Effekten in der Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung entnehmen lässt, mittellos zu sein. Es gibt keine Hinweise auf eine soziale Verankerung in Österreich, zumal er nach eigenen Angaben erst am XXXX .2021 einreiste und vor dem BVwG angab, dass er noch keine privaten oder gesellschaftlichen Bindungen im Inland habe.

Die fehlende Bereitschaft des BF, nach Rumänien zurückzukehren, ergibt sich aus seinen Angaben am 22.01.2021 („Ich möchte aber jedenfalls nicht zurück nach Rumänien …“, Seite 5 der Niederschrift OZ 6).

Die Feststellungen zum Konsultationsverfahren mit Rumänien basieren auf den Angaben der Behördenvertreterin vor dem BVwG und der von ihr dazu vorgelegten E-Mail Korrespondenz.

Rechtliche Beurteilung

Der BF ist seit XXXX .2021 in Schubhaft zur Sicherstellung des Überstellungsverfahrens, gestützt auf Art 28 Abs 1 und 2 Dublin-Verordnung iVm § 76 Abs 2 Z 3 FPG.

Gemäß § 76 Abs 1 FPG können Fremde (abgesehen von unmündigen Minderjährigen) festgenommen und in Schubhaft angehalten werden, sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel erreicht werden kann. Gemäß § 76 Abs 2 Z 3 FPG darf die Schubhaft angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen des Art 28 Abs 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

§ 28 Abs 1 und 2 Dublin-Verordnung (Verordnung (EU) Nr 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist) lautet:

(1) Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt.

(2) Zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren, dürfen die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Verordnung, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, nach einer Einzelfallprüfung die entsprechende Person in Haft nehmen und nur im Falle dass Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

Gemäß § 76 Abs 3 FPG liegt eine Fluchtgefahr im Sinne des Art 2 lit n Dublin-Verordnung vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist gemäß § 76 Abs 3 Z 6 FPG insbesondere zu berücksichtigen, ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt oder falsche Angaben hierüber gemacht hat (lit a), versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen (lit b), oder es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass er die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt (lit c). Außerdem ist gemäß § 76 Abs 3 Z 9 FPG der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes zu berücksichtigen.

Der Schubhaftbescheid und die anschließende Schubhaft sind nicht zu beanstanden, weil der BF ohne entsprechende Dokumente im Bundesgebiet aufgegriffen wurde, sich dem Asylverfahren in Rumänien entzogen hatte und das BFA zu Recht von der Zuständigkeit der dortigen Behörden und vom Vorliegen von erheblicher Fluchtgefahr ausging. Aufgrund der Ergebnisse der Befragung vom XXXX .2021, der Durchsuchung und der erkennungsdienstlichen Behandlung war anzunehmen, dass Rumänien nach der Dublin-Verordnung für das Asylverfahren des BF zuständig ist und dass er die Weiterreise nach Belgien beabsichtigte, zumal zunächst keine Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der am XXXX .2021 aufgenommenen und von allen Beteiligten vorbehaltlos unterschriebenen, mangelfreien Niederschrift vorlagen. Da der BF im Bundesgebiet weder familiär noch sozial verankert ist, liegt überdies Fluchtgefahr gemäß § 76 Abs 3 Z 9 FPG vor.

Ab 14.01.2021 war der Behörde jedoch bekannt, dass der BF behauptet, er sei noch minderjährig. Da im Schubhaftbeschwerdeverfahren innerhalb der einwöchigen Entscheidungsfrist sein Alter letztlich nicht geklärt werden konnte und seine Volljährigkeit auch aufgrund des Geburtsdatums laut den rumänischen Dokumenten ( XXXX ) nicht sicher ist, ist im Zweifel von seiner Minderjährigkeit auszugehen (siehe z.B. VwGH 05.07.2011, 2008/21/0100).

Da der BF somit als minderjährig anzusehen ist, sind gegen ihn gemäß § 77 Abs 1 FPG gelindere Mittel anzuwenden, außer wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Zweck der Schubhaft damit nicht erreicht werden kann. Solche Tatsachen liegen hier nicht vor, zumal der BF einen Antrag auf internationalen Schutz angekündigt hat und in die Grundversorgung aufgenommen werden könnte, sodass die Anordnung der Unterkunftnahme in bestimmten Räumen und eine periodische Meldeverpflichtung bei einer Polizeiinspektion in Betracht kommen.

Bei Minderjährigen stellt die Anordnung gelinderer Mittel die Regel und die Vollstreckung der Schubhaft in Schubhafträumlichkeiten die Ausnahme dar (vgl. VwGH 27.05.2009, 2008/21/0283). Die Schubhaft ist daher seit XXXX .2021, als die Behörde erstmals aktenkundig darüber informiert wurde, dass der BF behauptet, minderjährig zu sein, nicht mehr rechtmäßig. Mangels bestimmter Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen, dass der Sicherungszweck nicht durch gelindere Mittel erreicht werden kann, lagen am 22.01.2021 auch die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft nicht mehr vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 35 VwGVG iVm § 22a Abs 1a BFA-VG. Keine Partei obsiegte vollständig, sodass beide auf den Ersatz der Aufwendungen gerichteten Anträge abzuweisen sind.

Erhebliche Rechtsfragen von der über den Einzelfall hinausgehenden, grundsätzlichen Bedeutung iSd Art 133 Abs 4 B-VG stellten sich nicht, weshalb die Revision an das Höchstgericht nicht zuzulassen ist.

Schlagworte

Aufwandersatz ersatzlose Behebung mangelnder Anknüpfungspunkt Rechtswidrigkeit Schubhaft Schubhaftbeschwerde strafrechtliche Verurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2238746.1.01

Im RIS seit

15.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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