Entscheidungsdatum
01.04.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I416 2158992-1/17E
S C H R I F T L I C H E A U S F E R T I G U N G D E R A M 2 3. 0 2. 2 0 2 1
M Ü N D L I C H V E R K Ü N D E T E N E N T S C H E I D U N G
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Alexander BERTIGNOL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch 1.) Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH – BBU und 2.) RAe Dr. Peter LECHENAUER, Dr. Margrit SWOZIL, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.02.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 19.10.2015 unter Vorlage seines irakischen Reisepasses einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 16.11.2015 wurde der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen. Dabei führte er zu seiner Fluchtroute aus, dass er am 03.10.2015 mit dem Flugzeug von Bagdad nach Istanbul geflogen sei. Von dort sei er nach Bodron geflogen und mit einer Yacht auf die griechische Insel Kos, von dort weiter nach Athen und über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Ungarn nach Österreich gelangt. Befragt, warum er sein Heimatland verlassen habe, gab er wörtlich an: „Unbekannte Milizen bedrohen mich mit dem Tod und wollen mich als Geisel nehmen. 2006 wurde ich von diesen entführt. Da meine Eltern sehr reich sind, mussten sie mich damals freikaufen. Ich habe keinen weiteren Fluchtgrund.“ Im Falle einer Rückkehr in seine Heimat habe er Angst um sein Leben.
2. Am 28.04.2017 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Er gab an, dass er gesund sei, dass die Angaben in seinem Reisepass richtig seien und dass in der Ersteinvernahme alles richtig protokolliert worden sei. Zu seinen persönlichen Verhältnissen führte er aus, dass er schiitischer Moslem sei, keine Kinder habe und ledig sei. Sein Vater sei Doktor der Physik und Arzt für Innere Medizin und würde seit 2002 in Abu Dhabi leben. Seine Mutter und seine Schwester würden beide als Ärztinnen in Bagdad arbeiten und zwischen dem Irak und Abu Dhabi hin und her pendeln. Er habe noch zwei Brüder, wobei ein Bruder ein technisches Studium abgeschlossen habe und in Bagdad arbeiten würde und sein zweiter Bruder sei geistig beeinträchtigt und werde von seiner Familie betreut. Er führte weiters aus, dass er regelmäßig mit seinen Familienmitgliedern Kontakt habe und es ihnen gut gehen würde. Sie hätten Angst, dass sein Bruder XXXX bedroht werde, wobei es dazu bisher noch nicht gekommen sei. Zu den finanziellen Verhältnissen seiner Familie befragt, führte er aus, dass seine Familie sehr wohlhabend sei und sie zwei Häuser besitzen würden. Er selbst besitze drei Autos und könne mehrere solche Wertgegenstände aufzählen. Er gab weiters an, dass er abgesehen von seinem beruflichen Aufenthalt in Abu Dhabi zwischen 2008 bis 2010 immer im Irak gelebt habe. Hinsichtlich seiner Schulausbildung führte aus, dass er einen Hochschulabschluss in Biologie habe und im Irak für ca. sechs Monate im Jahr 2010 bei seiner Mutter im Labor gearbeitet habe. Zu seinen Fluchtgründen führte er zusammengefasst aus, dass er im Jahr 2006 von der Al-Qaida-Miliz entführt und vier Tage gefangen gehalten worden sei. Seine Familie habe $ 45.000 Lösegeld für seine Befreiung bezahlt. Die Entführer hätten im Zuge seiner Entlassung gesagt, dass sie ihn töten könnten, dies aber nicht machen würden, da seine Mutter eine Sunnitin sei. Zwei Tage nach seiner Entlassung hätten unbekannte Täter eine nicht tödliche Handgranate in ihren Garten geworfen, weshalb sie das Haus in Dora verlassen und in ihr anderes Haus gezogen seien. Er selbst sei nach dem Umzug immer wieder von der Miliz telefonisch kontaktiert worden und hätten ihm diese gesagt, dass sie gegen die Bezahlung eines Schutzgeldes wieder in das Haus ziehen könnten. Beim letzten telefonischen Kontakt im Jahr 2008 sei er gefragt worden, ob er das Schutzgeld nun zahlen würde, da sie ihn ansonsten überall finden würden. Sein Vater habe dann versucht für ihn einen Aufenthaltstitel in Abu Dhabi zu beantragen und habe er diesen letztlich erhalten. 2010 habe er sich dann entschlossen in den Irak zurückzukehren, weil sich die Sicherheitslage verbessert habe. Danach sei der Irak jedoch in eine Wirtschaftskrise geschlittert, wodurch es generell im Irak zu wiederholten Entführungen gekommen sei, wobei keine Person seiner Familie entführt worden sei. 2015 sei er mit einem Freund zum Haus in Al Dora zurückgekehrt, um die Satellitenanlage einzurichten. Dort sei eine Person zu ihm gekommen und habe diese zu ihm gesagt, dass er ihn umbringen und köpfen werde. Sein Freund habe die Bedrohungslage zum Beweis aufgenommen. Der Beschwerdeführer habe daraufhin das Haus in Al Dora verlassen und sei schließlich drei Wochen später geflohen. Er führte weiters an, dass sie den Sachverhalt auch nicht anzeigen hätten können, weil im Falle einer Anzeige die Milizen noch aggressiver vorgehen würden. Gefragt, ob dies der einzige Grund für seine Flucht aus dem Irak gewesen sei, gab der Beschwerdeführer wörtlich zu Protokoll: „Ja, so ist es. Ich verweise auch auf die allgemeine Situation im Irak - überall kann man dort sterben.“ Auf die Frage, warum von seiner Familie nur er konkret bedroht worden sei und nicht seine anderen Angehörigen, gab der Beschwerdeführer wörtlich zu Protokoll: „Ich weiß es nicht. Ich hatte mehr Kontakt zur Gesellschaft als mein Bruder.“ Nach seiner Flucht gab es auch keine weiteren Vorfälle, das Haus in Al Dora hätten sie vor ca. zwei Wochen für $ 500.000 verkauft. Er gab weiters an, dass er die Person, die ihn bedroht habe, vom Sehen her gekannt habe, er kenne auch seinen Namen. Diese Person sei Sunnit gewesen, wobei der Beschwerdeführer nicht glaube, dass diese Person in einer Miliz aktiv sei. Die Person habe sich wohl erhofft, Geld von ihm zu bekommen, da er von keiner Miliz bzw. Organisation Schutz erhalten würde. Auf Nachfrage, ob es sich bei der Bedrohung um eine Bedrohung von einer privaten Person gehandelt habe, gab der Beschwerdeführer wörtlich an: „Ich weiß es nicht, ob die Person in einer Miliz aktiv ist.“ Nachgefragt, ob diese Person konkret Geld gefordert habe, gab er wörtlich an: „Er sagte das nicht direkt, aber indirekt war klar zu entnehmen, dass er Geld wollte.“ Auf Nachfrage, ob die telefonischen Bedrohungen nach seiner Rückkehr im Jahr 2010 aufgehört hätten, gab der Beschwerdeführer an, dass dies richtig sei. Es sei auch nach 2010 zu keinem Kontakt mehr mit Al-Qaida oder einer anderen kriminellen Gruppierung (Miliz) gekommen. Er führte weiters aus, dass er glaube, dass im Irak nach ihm gefahndet werde, weil ihn die Person konkret bedroht habe. Er könne auch aufgrund der generellen Lage nicht an einem anderen Ort im Irak leben. Nachgefragt führte er aus, dass die Polizei sicher nicht nach ihm suche, die Milizen aber nach ihm fahnden könnten, er wisse es aber nicht. Auf Nachfrage gab er weiters zu Protokoll, dass seine im Irak lebenden Angehörigen bislang keinen Bedrohungen ausgesetzt gewesen seien. Gefragt, ob er Zugriff auf sein eigenes Vermögen habe, führte er aus, dass er zurzeit € 2.500,- habe und seine Familie ihm bei Bedarf Geld schicken würde. Das Gesamtvermögen seiner Familie belaufe sich auf über $ 1 Million. Letztlich führte er aus, dass er weder im Irak noch in Österreich Probleme mit Behörden, Polizei, Gerichten oder anderen Institutionen gehabt habe und er auch nie konkret wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt worden sei. Es habe auch keine Verfolgung seiner Person aufgrund seiner Nationalität gegeben bzw. habe er nie Probleme mit – außer den genannten - privaten Personen, Personengruppen, Banden oder kriminellen Organisationen gehabt. Hinsichtlich einer Verfolgung seiner Person aufgrund seiner Religionszugehörigkeit gab er wörtlich an: „Ja (Verweis auf die Entführung 2006). Die Entführung erfolgte auch, weil ich Schiit bin.“ Zu seinen persönlichen Lebensumständen im Bundesgebiet führte er aus, dass er soziale Kontakte habe und dass er mehrmals ehrenamtlich in der Gemeinde gearbeitet habe. Zu den Länderfeststellungen zum Irak führte er aus, dass er dies nicht brauche und er auch keine Stellungnahme einbringen werde. Seinerseits sei alles gesagt worden und ersuche er um eine rasche Entscheidung. Der Beschwerdeführer legte im Rahmen seiner Einvernahme folgende Unterlagen vor: Bestätigungen über Kursbesuche: Deutsch für Asylwerbende A1/2 und A1/1, in griechischer Sprache verfasste Dokumente, eine in englischer Sprache gehaltene Bestätigung seiner Anstellung aus dem Jahr 2010, die Teilnahmebestätigung am Werte- und Orientierungskurs des ÖIF, Schulzeugnisse und Dokumente auf Arabisch, die Kopien der Aufenthaltsgenehmigungen und der Reisepässe seiner Eltern, Unterlagen seinen Vater betreffend, die Kopie der Reisepässe seiner Brüder und seiner Schwester sowie die Kopie der Aufenthaltsbestätigung seiner Schwester für Abu Dhabi, Unterlagen bezüglich seines Flugtickets, die Anmeldebestätigung für einen Integrationsworkshop und diverse Fotos.
3. Mit Bescheid vom 08.05.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten „gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF“ (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak gemäß „§ 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG“ (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen „gemäß § 57 AsylG“ nicht erteilt und gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF eine Rückkehrentscheidung „gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (FPG) idgF“ erlassen, sowie „gemäß § 52 Absatz 9 FPG“ festgestellt, dass seine Abschiebung „gemäß § 46 FPG“ in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
4. Mit Verfahrensanordnungen gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 09.05.2017 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
5. Gegen den Bescheid der belangten Behörde erhob der Beschwerdeführer durch seine gewillkürte Rechtsvertretung mit Schriftsatz vom 18.05.2017 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Begründend wurde im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass der Beschwerdeführer der Meinung sei, dass sein Fall nicht richtig beurteilt worden sei. Der Beschwerdeführer halte seine Aussagen inhaltlich aufrecht und würde sich seines Erachtens aus seinem Vorbringen ein Fluchtgrund ergeben. Weiters wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer am Verfahren, soweit es ihm möglich gewesen sei, mitgewirkt und es die belangte Behörde unterlassen habe, sich mit dem gesamten individuellen Vorbringen sachgerecht auseinanderzusetzen und diesbezüglich ein adäquates Ermittlungsverfahren durchzuführen. Es werde daher beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge den angefochtenen Bescheid dahingehend abändern, dass ihm der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werde, in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die erste Instanz zurückverweisen, in eventu dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak zu erkennen, in eventu ihm gemäß §§ 55 und 57 AsylG einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen zuerkennen, sowie die gegen den Beschwerdeführer ausgesprochene Ausweisung und Rückkehrentscheidung aufheben und eine mündliche Beschwerdeverhandlung anberaumen.
6. Beschwerde und Bezug habender Akt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 26.05.2017 vorgelegt.
7. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 25.09.2018 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung L506 abgenommen und der Gerichtsabteilung I416 neu zugewiesen. Am 04.10.2018 langte der verfahrensgegenständliche Beschwerdeakt bei der zuständigen Gerichtsabteilung I416 ein.
8. Mit Schriftsatz vom 19.10.2020 wurden folgende Unterlagen bezüglich der Integration des Beschwerdeführers vorgelegt: ZMR-Auszug, Teilnahmebestätigung an einem Integrationsworkshop, ein Zertifikat des bfi bezüglich der Qualifizierung zur Gastronomiehilfskraft, Bestätigung der Stadt XXXX über gemeinnützige Tätigkeiten in der Stadtgemeinde XXXX , Bestätigung des Roten Kreuzes betreffend die Mitarbeit beim Projekt „Schürzenwerkstatt“, Bescheinigung betreffend seiner Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Grundkurs, ÖSD Zertifikat A2, Bestätigung der Stadt XXXX hinsichtlich einer gemeinnützigen Beschäftigung, Teilnahmebestätigung an der Veranstaltungen FIT-Arbeiten am Computer für medizinisches Pflegepersonal, Schreiben des Roten Kreuzes als Quartiergeber, eine Rechnung hinsichtlich eines Kurses Deutsch Intensiv B1, weitere Unterlagen über gemeinnützige Tätigkeiten, sowie ein Stundenplan des Roten Kreuzes.
9. Mit Schriftsatz vom 11.02.2021 wurde die Vollmacht der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen-BBU vorgelegt und folgende weitere Unterlagen hinsichtlich seiner Integration übermittelt: ÖSD Zertifikat A1 und ÖSD Zertifikat A2, Bestätigung der Volkshochschule hinsichtlich des Kursbesuches Deutsch für Asylwerbende A 1/2 sowie ein Empfehlungsschreiben des österreichischen Roten Kreuzes als Quartiergeber.
10. Am 23.02.2021 erfolgte in Anwesenheit des Beschwerdeführers eine mündliche Beschwerdeverhandlung am Bundesverwaltungsgericht, in der der Beschwerdeführer eine Bestätigung der Marktgemeinde XXXX vom 05.11.2020 vorlegte. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet.
11. Mit Schriftsatz vom 24.02.2021 beantragte die BBU die schriftliche Ausfertigung des mündlichen verkündeten Erkenntnisses.
12. Am 26.02.2021 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein E-Mail der RAe Dr. Lechenauer, Dr. Swozil ein, mit welcher eine Vertretungsvollmacht vorgelegt und die schriftliche Ausfertigung des mündlichen verkündeten Erkenntnisses beantragt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger. Seine Identität steht fest. Er gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.
Der Beschwerdeführer ist gesund, leidet an keinen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen, welche einer Rückkehr in den Herkunftsstaat entgegenstehen und gehört keiner Risikogruppe im Sinne der COVID-19-Pandemie an. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.
In den Jahren 2010 bis 2015 reiste der Beschwerdeführer mehrmals in die Türkei und nach Indien, kehrte allerdings nach jedem Aufenthalt wieder in den Irak zurück. Der Beschwerdeführer reiste letztlich im Jahr 2015 legal mit dem Flugzeug aus dem Irak aus und gelangte unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet, wo er am 19.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Er hält sich seither durchgehend in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer stammt aus Bagdad und besuchte dort die Grund- und Mittelschule sowie eine allgemeine höhere Schule. Im Anschluss daran absolvierte er das Studium der Biologie (Mikrobiologie) an der Universität Bagdad, welches er im Jahr 2007 positiv abschloss. Anschließend lebte er zwischen 2008 und 2010 in Abu Dhabi bei seiner Familie. Er sammelte bereits in Abu Dhabi und in Bagdad Arbeitserfahrung als Akademiker bei einer Wasseraufbereitungsfirma und einem Labor und hat er somit auch hinkünftig eine Chance, am irakischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Die Mutter des Beschwerdeführers ist nach seinen Angaben Schiitin und der Vater Sunnit. Seine Familie ist wohlhabend und sind seine Eltern und seine Schwester Ärzte. Sein Vater lebt und arbeitet mittlerweile in Abu Dhabi, wohingegen seine Mutter und seine Schwester – außerhalb der Covid-19-Situation - im Irak arbeiten und in Abu Dhabi leben. Seine zwei Brüder leben jedoch beide nach wie vor in Bagdad und besitzt seine Familie zwei Häuser in Bagdad. Der Beschwerdeführer unterhält täglich Kontakt zu seinen Eltern und seinem Bruder.
Der Beschwerdeführer verfügt über keine familiären Anknüpfungspunkte in Österreich und führt keine Beziehung. Der Beschwerdeführer hat diverse Bekanntschaften in Österreich geschlossen, mit denen er auch seine Freizeit verbringt.
Der Beschwerdeführer weist Deutschkenntnisse auf und besuchte während seines Aufenthaltes in Österreich mehrere Deutschkurse; zuletzt hat er am 22.09.2020 das ÖSD-Zertifikat A2 erworben. Derzeit besucht der Beschwerdeführer drei Mal pro Woche einen Deutschkurs auf dem Niveau B1. Außerdem leistet er bei Organisationen wie dem Österreichischen Roten Kreuz oder auch bei verschiedenen Stadtgemeinden ehrenamtliche oder gemeinnützige Tätigkeiten in Form von Übersetzungs-, Aufbau-, oder auch Reinigungsarbeiten.
Der Beschwerdeführer ging keiner legalen unselbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich nach und kann außerdem nicht festgestellt werden, ob der Beschwerdeführer für wenige Tage selbständig tätig gewesen ist. Seinen Lebensunterhalt in Österreich finanziert sich der Beschwerdeführer durch Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, durch Leistungen aufgrund seiner freiwilligen Tätigkeiten in Österreich und durch finanzielle Unterstützungsleistungen seiner irakischen Familie.
Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt war.
Der Beschwerdeführer konnte nicht glaubhaft machen, dass ihm im Irak Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht. Zudem konnte die vom Beschwerdeführer behauptete Bedrohung/Verfolgung durch den Mann seiner Tante mangels Glaubhaftmachung nicht festgestellt werden. Eine staatliche Verfolgung hat der Beschwerdeführer zudem nicht behauptet.
Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer unmittelbar vor seiner Ausreise einer individuellen und aktuellen Verfolgung aus den von ihm genannten Gründen im Herkunftsstaat ausgesetzt gewesen wäre bzw. im Fall seiner Rückkehr in den Irak der Gefahr einer solchen ausgesetzt sein würde.
Im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat Irak wird der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und auch keiner wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.
Es existieren keine Umstände, welche einer Abschiebung aus dem Bundesgebiet der Republik Österreich entgegenstünden. Es spricht nichts dafür, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak Verletzung von Art. 2, Art. 3 oder auch der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention nach sich ziehen würde. Der Beschwerdeführer ist auch nicht von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer wurde im Zuge der Ladung zur mündlichen Verhandlung das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Irak übermittelt. Zudem wurden im Rahmen der Beschwerdeverhandlung folgende Berichte ergänzend eingebracht: EASO-Bericht „Iraq Security situation“ vom Oktober 2020, EASO-Bericht „Country Guidance Iraq – Guidance note and common analysis“ vom Jänner 2021, EASO-Informationsbericht über das Herkunftsland „Irak Gezielte Gewalt gegen Individuen“ vom März 2019, EASO-Bericht „Irak Interne Mobilität“ vom Februar 2019, EASO-Bericht „Irak Zentrale sozioökonomische Indikatoren“ vom Februar 2019, UNHCR-Bericht „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen (HCR/PC/IRQ/2019/05) vom Mai 2019, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation bezüglich der Versorgungs- und Sicherheitslage in Bagdad vom 07.09.2020 und 21.01.2021 und der Asylländerbericht der ÖB Amman vom Oktober 2020. Daraus ergeben sich folgende entscheidungswesentliche Feststellungen:
Politische Lage:
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).
Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).
Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).
Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).
Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).
Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker, https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 13.3.2020
- AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq, Zugriff 13.3.2020
- CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, Zugriff 13.3.2020
- DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912, Zugriff 13.3.2020
- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 13.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (24.5.2018): Breaking Down Iraq's Election Results, http://www.understandingwar.org/backgrounder/breaking-down-iraqs-election-results, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (5.10.2018): Politische Weichenstellungen in Bagdad und Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=e646d401-329d-97e0-6217-69f08dbc782a&groupId=252038, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020
- Kurdistan24 (17.6.2019): Iraq's electoral commission postpones local elections until April 2020, https://www.kurdistan24.net/en/news/80728bf3-eb95-4e76-a30f-345cf9a48d3c, Zugriff 13.3.2020
- NYT - The New York Times (24.12.2019): Iraq’s New Election Law Draws Much Criticism and Few Cheers, https://www.nytimes.com/2019/12/24/world/middleeast/iraq-election-law.html, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (17.3.2020): Little-known ex-governor Zurfi named as new Iraqi prime minister-designate, https://www.reuters.com/article/us-iraq-pm-designate/iraqi-president-salih-names-adnan-al-zurfi-as-new-prime-minister-designate-state-tv-says-idUSKBN21419J?il=0, Zugriff 17.3.2020
- Reuters (1.3.2020): Iraq's Allawi withdraws his candidacy for prime minister post: tweet, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics-primeminister/iraqs-allawi-withdraws-his-candidacy-for-prime-minister-post-tweet-idUSKBN20O2AD, Zugriff 13.3.2020
- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.2.2020): Iraqi Protesters Clash With Sadr Backers In Deadly Najaf Standoff, https://www.ecoi.net/en/document/2024704.html, Zugriff 13.3.2020
- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (24.12.2019): Iraqi Parliament Approves New Election Law, https://www.ecoi.net/de/dokument/2021836.html, Zugriff 13.3.2020
- RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 13.3.2020
- Standard, Der (2.3.2020): Designierter irakischer Premier Allawi bei Regierungsbildung gescheitert, https://www.derstandard.at/story/2000115222708/designierter-irakischer-premier-allawi-bei-regierungsbildung-gescheitert, Zugriff 13.3.2020
- ZO - Zeit Online (2.10.2018): Irak hat neuen Präsidenten gewählt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/barham-salih-irak-praesident-wahl, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020
- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).
(ACCORD 26.2.2020)
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).
(IBC 2.2020)
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).
(IBC 2.2020)
Quellen:
- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020
- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitslage Bagdad
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7. und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
Quellen:
- Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html, Zugriff 13.3.2020
- OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf, Zugriff 13.3.2020
Rechtsschutz/Justizwesen:
Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).
Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).
Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).
Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).
Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).
Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).
Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).
Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (12.4.2018): Will Iraq's new 'tribal court' undermine rule of law?, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/04/iraq-tribalism-sheikhs-justice-law.html, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
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