TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/28 W259 2222012-1

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Veröffentlicht am 28.04.2021
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Entscheidungsdatum

28.04.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W259 2222012-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ulrike RUPRECHT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Syrien, vertreten durch XXXX gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine syrische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens und Angehörige der arabischen Volksgruppe, brachte am 28.02.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

2. Am selben Tag fand eine Erstbefragung durch die Sicherheitsbehörden statt. Bei dieser gab die Beschwerdeführerin zusammengefasst an, dass in Syrien die Situation für junge Frauen nicht gut sei. Sie habe Angst um ihr Leben gehabt und habe nicht mehr in die Schule gehen können. In ihrem Wohnort habe es viele Entführungen gegeben. Bei einer allfälligen Rückkehr habe sie Angst, dass sie entführt werde (AS 21).

3. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge kurz „BFA“ oder „belangte Behörde“) am 12.06.2019 gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass jeden zweiten Tag Männer vom Militär zu ihnen nach Hause gekommen seien, um nach ihren Brüdern zu suchen. Dabei hätten diese sie, die Frauen, jedes Mal belästigt. Eines Tages habe einer dieser Männer ihre Hand genommen und zu ihr vor ihrer Mutter gesagt „bald bist du dran, du Hübsche“. Dies bedeute, dass diese sie mitnehmen und vergewaltigen würden. Auch auf dem Schulweg sei sie bei den Checkpoints von Männern des syrischen Militärs belästigt worden. Zudem habe sie wegen des Bürgerkrieges immer in Angst gelebt (AS 123 f).

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum XXXX 2020 (Spruchpunkt III.).

5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die gegenständliche fristgerecht erhobene Beschwerde. In der Beschwerdebegründung wurde insbesondere ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin ein widerspruchsfreies und nachvollziehbares Vorbringen erstattet habe und ihr bei einer Rückkehr eine Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden jungen Frauen und aufgrund der Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung drohen würde (AS 277 ff).

6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 06.02.2020 in Anwesenheit einer beeideten Dolmetscherin für die Sprache Arabisch und im Beisein der rechtskundigen Vertreterin der Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung durch, in welcher die Beschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen befragt wurde.

7. Im Rahmen des Parteiengehörs vom 03.02.2021 wurden der Beschwerdeführerin die aktuellen Länderberichte zu Syrien zur Kenntnis gebracht und ihr die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben. Dabei hatte sie zusätzlich die Möglichkeit, zu allfälligen Änderungen seit der letzten mündlichen Verhandlung ein Vorbringen zu erstatten. Der rechtskundige Vertreter nahm mit Schreiben vom 16.02.2021 dazu Stellung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist syrische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie trägt den im Spruch angeführten Namen, ist am XXXX in der Stadt XXXX in der Provinz Hama geboren und dort aufgewachsen. Sie ist gesund und nimmt keine Medikamente.

Die Beschwerdeführerin reiste illegal aus Syrien aus und stellte am 28.02.2019 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführerin hat in Syrien mehrere Jahre die Schule besucht.

Sie ist nicht verheiratet und hat in Österreich ein Kind. Der Vater des Kindes ist ebenfalls syrischer Staatsangehöriger. Die Mutter und vier Schwestern der Beschwerdeführerin leben noch in der Herkunftsregion, XXXX . Davon sind zwei Schwestern verheiratet. Die Mutter und die beiden Schwestern, die mit der Mutter gemeinsam wohnen, werden von den Ehemännern der zwei verheirateten Schwestern finanziell unterstützt. Die Beschwerdeführerin hat zudem drei Brüder. Ein Bruder ist im Libanon und die anderen beiden sind in der Türkei aufhältig. Die Beschwerdeführerin pflegt regelmäßigen Kontakt zu ihrer Mutter.

Die Beschwerdeführerin hat in Österreich keine Familienangehörigen. Sie führt eine Beziehung zu einem Mann, der der Vater ihres Kindes ist.

Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sie ist in ihrem Herkunftsstaat nicht vorbestraft und hatte darüber hinaus keine Probleme mit den syrischen Behörden. Sie ist kein Mitglied von politischen Parteien und war bisher auch sonst politisch nicht aktiv.

1.2. Zum Fluchtgrund und zur Rückkehr:

Festgestellt wird, dass die Stadt XXXX derzeit unter Kontrolle der syrischen Regierung steht und auch vor der Ausreise der Beschwerdeführerin stand.

Die Beschwerdeführerin hat Syrien wegen des Krieges und der schlechten Sicherheitslage verlassen und aus diesem Grund subsidiären Schutz in Österreich erhalten.

Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin als unverheiratete Frau mit einem (unehelichen) Kind von ihren Familienangehörigen nicht ausgegrenzt wurde und ihr bei einer Rückkehr nach Syrien keine reale Gefahr droht, Opfer von Ehrendelikten zu werden. Im Falle einer Rückkehr wird sie von ihren in Syrien lebenden Familienangehörigen unterstützt werden.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin in Syrien nie einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war und auch nicht im Falle einer Rückkehr eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung zu befürchten hätte.

1.3. Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 18.12.2020:

Frauen

Frauen in Syrien haben eine relativ lange Historie der Emanzipation. Vor dem Konflikt war Syrien eines der vergleichsweise fortschrittlicheren Länder der Arabischen Welt in Bezug auf Frauenrechte (STDOK 8.2017). Dennoch werden Frauen – teilweise aufgrund der Interpretationen der religiösen Gesetze – von verschiedenen Teilen des Familien- und Strafrechts und der Gesetze zu Personenstand, Arbeit, Erbschaft, Pensionierung, sozialer Sicherheit und Staatsbürgerschaft diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Syrische Frauen übernehmen zunehmend Aufgaben, die über ihre traditionellen Rollen hinausgehen, während die vorherrschenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und die damit einhergehenden geschlechtsspezifischen Benachteiligungen ihre grundlegenden Menschenrechte weiterhin untergraben (UNHRC 15.8.2019). Das syrische Familienbild und die Rolle der Frau sind tief in sozialen, religiösen und lokalen patriarchalischen Traditionen verwurzelt (ÖB 29.9.2020). Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB 29.9.2020; vgl. SNHR 25.11.2019). Da Frauen immer wieder Opfer unterschiedlicher Gewalthandlungen der verschiedenen Konfliktparteien werden, zögern Familien, Frauen und Mädchen das Verlassen des Hauses zu erlauben (STDOK 8.2017; vgl. UNFPA 10.3.2019). Sie nehmen diese aus der Schule, was zur Minderung der Rolle von Frauen und zu ihrer Isolation in der Gesellschaft führt (STDOK 8.2017). Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit aus Angst vor sexueller Gewalt kann auch selbstauferlegt sein (UNFPA 10.3.2019). Vor dem Konflikt nahmen 13% der Frauen am Arbeitsmarkt teil, verglichen mit 73% der Männer. Aufgrund von Unsicherheit und Gewalt können weiterhin Millionen nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen. Zuletzt ist in einigen Gebieten, wie in Damaskus, Raqqa und Dara‘a, die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wieder gestiegen, da viele Männer ihre Familien derzeit nicht unterstützen können (USDOS 11.3.2020). Außerhalb der Gebiete, die unter der Kontrolle des Regimes stehen, unterscheiden sich die Bedingungen für Frauen sehr stark voneinander. Sie reichen von sexueller Versklavung und erdrückenden Kleidungsvorschriften in Gebieten unter Kontrolle von Extremisten, bis hin zu formaler Gleichberechtigung in den Gebieten unter Kontrolle der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), wo Regierungssitze immer von einer Frau und einem Mann besetzt sind (FH 1.2018; vgl. EASO 2.2020). Extremistische Gruppierungen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) oder Hay’at Tahrirash-Sham (HTS) setzen Frauen in den von ihnen kontrollierten Gebieten diskriminierenden Beschränkungen aus. Solche Beschränkungen sind z.B. strikte Kleidervorschriften, Einschränkungen bei der Teilnahme am öffentlichen Leben, bei der Bewegungsfreiheit und beim Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt (USDOS 11.3.2020, MRG 5.2018b). Generell wird die Lage junger unverheirateter Frauen in Syrien allgemein, im Speziellen jedoch in den von radikal-islamistischen Gruppierungen kontrollierten Gebieten, als prekär bezeichnet (STDOK 8.2017).

Sexuelle Gewalt und Ehrenverbrechen

Mit keiner oder nur schwacher Rechtsdurchsetzung und begrenztem effektivem Schutz in diesem Bereich haben alle Arten von Gewalt gegen Frauen an Verbreitung und Intensität zugenommen, darunter Versklavung, Zwangsheirat mit Vertretern bewaffneter Gruppen, häusliche Gewalt und Vergewaltigung (WB 6.2.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen. Das tatsächliche Ausmaß von sexueller Gewalt in Syrien lässt sich nur schwer einschätzen, weil viele Vergehen nicht angezeigt werden (USDOS 11.3.2020).

Vergewaltigung außerhalb der Ehe ist zwar laut Gesetz strafbar, die Regierung setzt diese Bestimmungen jedoch nicht effektiv um. Außerdem kann der Täter eine Strafminderung erlangen, wenn er das Opfer heiratet, um so das soziale Stigma einer Vergewaltigung zu vermeiden (USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Tabuisierung von sexueller Gewalt führt zu einer Stigmatisierung von Frauen, die in Haft waren, zur Erniedrigung von Opfern, Familien und Gemeinschaften und zu einer hohen Dunkelziffer bezüglich der Fälle von sexueller Gewalt. Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017; vgl. SHRC 24.1.2019). Es gibt Fälle von Frauen, die nach einer Vergewaltigung Opfer von Ehrenmorden werden (USDOS 13.3.2019; vgl. SHRC 24.1.2019, MRG 5.2018b). Berichten zufolge kam es seit dem Ausbruch des Konfliktes zu einem Anstieg an Ehrenmorden infolge des Konfliktes (USDOS 11.3.2020). Bei sogenannten Ehrenverbrechen in der Familie, die in ländlichen Gebieten bei fast allen Glaubensgemeinschaften vorkommen, besteht kein effektiver staatlicher Schutz (AA 20.11.2019).

Familienrecht, Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Obsorge

Im muslimisch dominierten multireligiösen und multiethnischen Syrien haben die unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften seit Langem das Recht, bestimmte Angelegenheiten des Familienrechts entsprechend ihren jeweiligen religiösen Vorschriften zu regeln (Eijk 2013; vgl. SLJ 3.10.2019). Familienrechtliche Angelegenheiten der Muslime, die etwa 90% der Gesamtbevölkerung stellen, sind im syrischen Personalstatutsgesetz von 1953 geregelt. Vom Anwendungsbereich dieses Gesetzes sind die Christen, die Juden und die Drusen, die ihren jeweiligen eigenen religiösen familien- und erbrechtlichen Bestimmungen unterliegen, ausgenommen. Auf alle Syrer anwendbar ist das Personenstandsgesetz, Gesetzesdekret Nr. 26/2007 über den Personenstand. Formell besteht die Gesetzeslage von vor 2011 fort. Auch die gesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet des syrischen Familienrechts sind weiterhin in Kraft. Der militärische und politische Zerfall Syriens hat allerdings auch Auswirkungen auf das Familienrecht, da die einzelnen politischen Gruppen in ihren Herrschaftszonen zum Teil eigene Normensysteme gebildet haben und anwenden (MPG 2018).

Das syrische Personenstandsgesetz basiert vorwiegend auf islamischen Rechtsquellen wie der Hanafitischen Rechtslehre. Es gilt für alle Syrer, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, sieht jedoch für die drusischen, jüdischen oder christlichen Gemeinden eine beschränkte juristische Autonomie in Personenstandsangelegenheiten wie Verlobung, Eheschließung, Anforderungen zur Gehorsamkeit der Ehefrau, Unterhalt für Ehefrauen und Kinder, Annullierung und Scheidung, Mitgift, Pflege und seit 2010 Erbe und Nachlass vor. Das Personenstandsrecht und die Scharia-Gerichte, die dieses Recht anwenden, haben jedoch klaren Vorrang gegenüber den nicht-muslimischen Gerichten. Nicht nur die verschiedenen Religionsgruppen, auch die unterschiedlichen Konfessionen haben eine eigene Gesetzgebung in bestimmten rechtlichen Angelegenheiten den Personenstand betreffend (Eijk 2013). So existiert kodifiziertes Familienrecht für Katholiken, Protestanten sowie für die Armenisch-, Griechisch- sowie Syrisch-Orthodoxe Kirche u.a. in verschiedenen Personenstandsgesetzen (MPG 2018).

Das syrische Eherecht kennt das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit. So ist die Ehe einer muslimischen Frau mit einem nichtmuslimischen Mann nichtig. Eine Ehe zwischen einem Muslim und einer nichtmuslimischen Frau, sofern diese dem Christentum oder Judentum angehört, ist gültig (MPG 2018; vgl. USDOS 10.6.2020). [Anm.: Details siehe Kapitel "Religionsfreiheit"]

Durch eine Gesetzesänderung im Februar 2019 wurde das Ehemündigkeitsalter für Männer und Frauen mit Vollendung des 18. Lebensjahres festgelegt (LoC 8.4.2019; vgl. SLJ 3.10.2019). Es ist möglich, vor Erreichen der Altersgrenze mit Genehmigung des Familiengerichts zu heiraten. Voraussetzungen dafür sind, dass ein Junge das 15. Lebensjahr und ein Mädchen das 13. Lebensjahr vollendet hat, sie die nötige körperliche Verfassung für einen Vollzug der Ehe aufweisen und der Vormund der Eheschließung zustimmt. Ein erwachsener Mann kann seine Ehe ohne einen Ehevormund schließen. In den unterschiedlichen Strömungen des islamischen Rechts ist es jedoch umstritten, ob eine erwachsene, voll geschäftsfähige Frau ihre Ehe ohne ihren Ehevormund schließen kann (MPG o.D.a).

Die Mitwirkung des Staates ist für die Wirksamkeit der Eheschließung nicht erforderlich. Vielmehr stellen die Eheschließung an sich und die Mitteilung bzw. Registrierung der Eheschließung bei Gericht oder einer anderen Behörde getrennte Vorgänge dar. Die Ehepartner sind grundsätzlich verpflichtet, dem Gericht die Eheschließung anzuzeigen. Dies kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschehen: Entweder wird dem Gericht vorab angezeigt, dass eine Eheschließung beabsichtigt ist, oder die Ehe wird nach der Trauung bei Gericht registriert oder es wird beantragt die Eheschließung bzw. ihren Bestand durch das Gericht festzustellen. Da eine Ehe grundsätzlich auch formlos zustande kommen kann, wird in der Praxis oftmals von einer vorherigen Anzeige der Eheabsicht bei Gericht abgesehen. Zudem können die Brautleute in vielen Fällen die erforderlichen Dokumente nicht beibringen. Ein Bedürfnis, die informell geschlossene Ehe zu registrieren, entsteht in der Praxis immer dann, wenn für ein Kind aus dieser Ehe Dokumente (z.B. eine Geburtsurkunde oder die Staatsangehörigkeitsurkunde) ausgestellt werden sollen. Das Gesetz bestimmt, dass eine Registrierung der bereits geschlossenen Ehe im Nachhinein erfolgen darf, wenn festgelegte Anforderungen erfüllt sind. Im Fall einer Schwangerschaft der Ehefrau oder des Vorhandenseins von Kindern aus dieser Ehe müssen jedoch für die Registrierung nicht alle Anforderungen erfüllt werden und die Ehe ist leichter nachweisbar. Können bestimmte Unterlagen zur Gültigkeit der außergerichtlichen Eheschließung nicht vorgelegt werden, besteht die Möglichkeit, eine einvernehmliche Feststellungsklage über das Bestehen der Ehe zu erheben. Bei der Feststellungsklage werden lediglich Tatsachen festgehalten, die von den Parteien selbst vorgebracht werden. Das Gericht überprüft die vorgebrachten Tatsachenbehauptungen nicht (MPG o.D.a).

Nicht registrierte Ehen werden oft als „traditionelle Ehen“ oder „'Urfi-Ehen“ bezeichnet. Gründe für eine traditionelle Ehe können sein, dass das Paar unterschiedlichen islamischen Konfessionen angehört, dass es gegen die Wünsche der Familie heiratet, oder es sich um eine polygame Ehe handelt (mit oder ohne Wissen der ersten Ehefrau), die grundsätzlich im syrischen Personenstandsrecht erlaubt, jedoch strukturell beschränkt ist. Ein weiterer Grund ist, dass Männer, die in der Armee dienen, eine Genehmigung der Armee für eine Eheschließung benötigen. Ein Mann kann einer solchen Ehe auch zustimmen, um dem unehelichen Kind seiner Frau einen Vater und somit einen Familiennamen zu geben (Eijk 2013). Neben Männern, die in der Armee dienen und eine Genehmigung der Armee zur Eheschließung benötigen, brauchen auch Paare, bei denen ein Partner ausländischer Staatsbürger ist, eine Genehmigung, in diesem Fall von den Sicherheitsbehörden (MPG o.D.a; vgl. SLJ 3.10.2019).

Das Datum der Eheschließung wird bei einer nachträglichen Registrierung vom Gericht bestimmt. Wenn das Gericht die traditionelle Eheschließung als gültig anerkennt, ist das Datum der traditionellen Eheschließung das Datum der Eheschließung, nicht das Datum der Registrierung. Da es auch möglich ist Kinder ex post facto zu registrieren (oftmals gleichzeitig mit der Registrierung der Ehe), und Kinder im Kontext einer Ehe geboren werden sollten, sollte das Hochzeitsdatum hierbei jedenfalls vor dem Geburtsdatum der Kinder liegen. Daher würde es laut der Einschätzung einer Expertin für syrisches Ehe- und Familienrecht Sinn machen, dass das Gericht das Datum der traditionellen Eheschließung als das „echte Hochzeitsdatum“ festlegt (Eijk 4.1.2018). Stellvertreterehen und die Registrierung einer Ehe durch einen Stellvertreter sind möglich, selbst wenn beide Ehepartner von einem Stellvertreter repräsentiert werden (Eijk 2.1.2018).

Das syrische Personenstandsrecht erkennt auf Basis des islamischen Rechts drei Arten der Scheidung an: einseitige Scheidung oder Verstoßung durch den Ehemann (talaq), Scheidung mit gegenseitigem Einverständnis (mukhala‘a) und gerichtliche Scheidung (tafriq) (Eijk 2013). Das Scheidungsrecht steht grundsätzlich dem Ehemann zu und dieser kann ohne Angabe von Gründen die Scheidung verlangen bzw. seine Frau verstoßen (MPG o.D.a).

Die einseitige Verstoßung der Ehefrau durch den Ehemann ist die gängige Version der Scheidung, wobei der Ehemann die Scheidung verbal oder schriftlich aussprechen kann. Die Scheidung kann vor einem Richter oder außerhalb des Gerichtes ausgesprochen und im Nachhinein beim Gericht registriert werden. Diese relativ verbreitete Art der Scheidung führt jedoch zu Fällen, in denen Frauen das Gericht aufsuchen müssen, um zu erfahren, ob sich ihre Ehemänner von ihnen scheiden haben lassen. In einer Wartezeit von etwa drei Monaten kann der Ehemann eine Frau noch zurücknehmen (Eijk 2013). Ist die Ehe zwischen denselben Personen dreimal durch Verstoßung aufgelöst worden, wie es bei talaq notwendig ist, dann entsteht ein Eheverbot zwischen den Geschiedenen. Eine Wiederheirat zwischen diesen Personen ist nur dann möglich, wenn die Ehefrau zuerst einen anderen Mann ehelicht und sich von diesem wieder scheiden lässt (MPG o.D.a)

Die Scheidung in gegenseitigem Einverständnis wird häufig von der Frau initiiert. Sie beinhaltet oftmals eine Vereinbarung, laut der der Ehemann sein Einverständnis für die Scheidung gibt und die Ehefrau im Gegenzug teilweise oder gänzlich auf Unterhalt verzichtet. Der entsprechende Vertrag kann im Gericht oder außerhalb des Gerichtes geschlossen und ex post facto registriert werden. Jedenfalls muss die Ehefrau bei Gericht erscheinen und ihren Verzicht auf Unterhalt bekannt geben (Eijk 2013). Frauen verzichten somit für die Einwilligung ihres Ehemannes in die Scheidung auf ihren Anspruch auf Unterhalt (USDOS 10.6.2020).

Eine Frau kann aus bestimmten, festgelegten Gründen auch eine gerichtliche Scheidung beantragen. So gibt es die Scheidung aufgrund von Krankheit oder Mangel („defect“) des Ehemannes, Abwesenheit oder Verschwinden des Ehemannes, Unterlassen der Unterhaltszahlungen des Ehemannes oder aufgrund von Eheproblemen. Bei dieser Art der Scheidung müssen jedoch bestimmte Beweise vorgelegt werden. Wenn beispielsweise eine Ehefrau aufgrund von Abwesenheit ihres Ehemannes die Scheidung einreichen will, muss sie diesbezüglich zweimal in drei verschiedenen nationalen Zeitungen eine Anzeige aufgeben (Eijk 2013; vgl. Emory o.D.). Es ist auch möglich ehevertragliche Vereinbarungen vor der Ehe zu treffen, aus deren Verletzung sich für die Frau ein Scheidungsrecht ergibt. Dabei kann der zukünftige Ehemann auch im Vertrag selbst der Frau eine Vollmacht zur Scheidung erteilen (MPG o.D.a).

Das in wirksamer Ehe geborene Kind gilt als vom Ehemann abstammend, wenn seit der Eheschließung die Mindestdauer einer Schwangerschaft verstrichen ist und der körperliche Kontakt der Ehegatten nicht unmöglich gewesen ist, also wenn nicht etwa einer der Ehepartner über die Dauer der Schwangerschaft hinaus abwesend war (z.B. Gefängnis). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so gilt das Kind dann als vom Ehemann abstammend, wenn er das Kind anerkennt oder seine Vaterschaft gerichtlich geltend macht (MPG o.D.b).

Das Islamische Recht sieht zwei Konzepte des Sorgerechtes für Kinder vor: Erstens die Vormundschaft (wilaya), welche immer der Vater bzw. dessen Seite der Familie innehat, und zweitens die physische Personenobsorge bzw. Obsorge (hadana), welche bei der Mutter bzw. bei ihrer Seite der Familie liegt. Für die Personenobsorge steht eine Vergütung durch den Vormund zu, abhängig von dessen finanziellen Verhältnissen. Mit Vollendung des 15. Lebensjahres erlischt bei Mädchen und bei Buben mit 13 Jahren das Recht auf Personenobsorge mütterlicherseits (MPG o.D.b; vgl. STDOK 8.2017). Im Falle einer Scheidung kann die Mutter die physische Obsorge über die Kinder bis zu dieser Altersgrenze erhalten (USDOS 10.6.2020), wobei die Altersgrenze hierbei von der Konfession abhängt (STDOK 8.2017). Die Gesetze bezüglich Vormundschaft (wilaya) sind laut syrischem Personenstandsrecht für alle Religionen/Konfessionen anzuwenden, zur Obsorge (hadana) haben jedoch die jüdischen und christlichen Gemeinden eigene Regelungen (Eijk 2013).

Frauen können das Obsorgerecht auch verlieren. Etwa wenn die Mutter Christin, der Vater aber Muslim ist, könnte der Vater im Falle einer Scheidung argumentieren, dass die Mutter die Kinder nicht richtig erziehen kann (STDOK 8.2017). Es gibt auch Fälle, in denen christliche Männer zum Islam konvertiert sind und vor Scharia-Gerichten das volle Sorgerecht, also Obsorge und Vormundschaft, für ihre Kinder eingefordert haben (Eijk 2013). Geht die Mutter eine neue Ehe ein, verliert sie ebenfalls das Recht auf Obsorge (MPG o.D.b).

Selbst wenn die Mutter die Obsorge innehat, besitzt der Vater stets die Vormundschaft über die Kinder und somit Entscheidungsgewalt über ihre Ausbildung oder Reisebewegungen der Kinder. Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden. Auch nach dem Tod des Vaters geht die Vormundschaft nicht auf die Mutter, sondern auf die Familie des Vaters über (STDOK 8.2017; vgl. MPG o.D.b). Kinder können so als Druckmittel benutzt werden, um die Frau dazu zu bringen, sich nicht scheiden zu lassen oder auf Unterhaltszahlungen zu verzichten. Im Falle einer Scheidung zeigen die Gerichtsdokumente der Scheidungsverhandlung, wem das Obsorgerecht zugesprochen wurde. Ein gesondertes Dokument über den Zuspruch der Obsorge ist nicht bekannt (STDOK 8.2017).

Das Gesetz erlaubt die Weitergabe der Staatsbürgerschaft durch die Mutter nur, wenn das Kind in Syrien geboren wurde und der Vater „unbekannt“ ist. In der Praxis wird betroffenen Kindern die Staatsbürgerschaft jedoch nicht immer zuerkannt. Wenn ein Kind im Ausland geboren wurde, kann es die syrische Staatsbürgerschaft nur erlangen, wenn der Vater syrischer Staatsbürger ist. Wenn eine Geburt nicht registriert wird, führt dies für das Kind zu bestimmten Einschränkungen im Zugang zu Leistungen, wie Abschlusszeugnissen, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formaler Beschäftigung oder Dokumenten (STDOK 8.2017).

In Bezug auf christliche Ehen werden vom Staat Ehen, die in einer Kirche geschlossen werden, als gültige Ehen anerkannt. Nach der Zeremonie sendet die Kirche die Unterlagen an das Zivilregisterbüro. Laut christlichem Familienrecht ist die Ehe ein Sakrament und es ist daher sehr schwierig sich scheiden zu lassen. Die katholische Kirche erkennt Scheidung nicht an, lediglich die Annullierung ist unter bestimmten Bedingungen möglich. Dies führt teilweise zu drastischen Maßnahmen wie einer Konversion zum Islam eines Ehepartners, um eine Scheidung zu erwirken (Eijk 2013; vgl. STDOK 8.2017).

Kinderehen gab es in Syrien bereits vor dem Konflikt. Seit Ausbruch des Konflikts steigt die Zahl an Frühehen jedoch an. Oft sind diese eine Strategie, um mit den Folgen des Konflikts umzugehen. Mädchen werden verheiratet, um ihre Versorgung sicherzustellen oder um sie vor sexueller Gewalt zu schützen (WB 6.2.2019; vgl. ÖB 29.9.2020, UNHRC 15.8.2019). Oft werden sie auch an Angehörige der bewaffneten Gruppen verheiratet, um ihre Familie vor Gewalt zu schützen. Frühehen erhöhen allerdings die Gefahr für Mädchen innerhalb einer Ehe Opfer von Gewalt oder sexuellen Missbrauchs zu werden (WB 6.2.2019).

Alleinstehende Frauen

Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konfliktes einem besonderen Risiko von Gewalt oder Schikane ausgesetzt, jedoch hängt dies von der sozialen Schicht und der Position der Frau bzw. ihrer Familie ab. Man kann die gesellschaftliche Akzeptanz von alleinstehenden Frauen aber in keinem Fall mit europäischen Standards vergleichen, und Frauen sind potentiell Belästigungen ausgesetzt (STDOK 8.2017). Vor dem Hintergrund der Geschlechterungleichheit versetzen Armut, Vertreibung, die Tatsache ein weiblicher Haushaltsvorstand oder jung und außerhalb der elterlichen Aufsicht zu sein, Frauen und Mädchen in eine „Position reduzierter Macht“ und erhöhen damit das Risiko von sexueller Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und geschiedene Frauen sind diesbezüglich besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019).

In Syrien ist es fast undenkbar als Frau alleine zu leben, da eine Frau ohne Familie keine gesellschaftlichen und sozialen Schutzmechanismen besitzt. Beispielsweise würde nach einer Scheidung eine Frau in den meisten Fällen wieder zurück zu ihrer Familie ziehen. Vor dem Konflikt war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich alleine zu leben, z.B. für berufstätige Frauen in urbanen Gebieten (STDOK 8.2017).

Der Zugang von alleinstehenden Frauen zu Dokumenten hängt von deren Bildungsgrad, individueller Situation und bisherigen Erfahrungen ab. Beispielsweise werden ältere Frauen, die immer zu Hause waren, mangels vorhandener Begleitperson und behördlicher Erfahrung nur schwer Zugang zu Dokumenten bekommen können (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung von alleinstehenden Frauen durch die Gesellschaft unterscheidet sich von Gebiet zu Gebiet. Damaskus-Stadt ist weniger konservativ als andere Gebiete und es wird von Frauen berichtet, die dort in der Vergangenheit alleine lebten. In konservativen Gegenden bekommen allein lebende Frauen jedoch „einen gewissen Ruf“ (SD 30.7.2018).

Der Wegfall des Ernährers im Zuge des Konflikts stellt viele Frauen vor das Problem ihre Familien versorgen zu müssen. So stieg die Anzahl der Haushalte mit weiblichen Vorständen im Zuge des Konflikts (WB 6.2.2019).

Grundversorgung und Wirtschaft

Der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung, die Sicherheitslage und die humanitäre Lage im Land. Die Regierung Syriens sieht sich mit internationalen Sanktionen, einer breiten Zerstörung der Infrastruktur, geringen Devisenreserven, der weiterhin nicht vollständigen territorialen Kontrolle aller Landesteile, einer hohen Anzahl an Binnenflüchtlingen sowie der Präsenz kleinerer terroristischer Gruppen konfrontiert. Die im November 2018 und März 2019 erfolgte Verschärfung der US-Sanktionen und das Auslaufen der iranischen Kredite für Ölimporte 2018 führten zu einem massiven Versorgungsengpass an Öl (WKO 17.10.2019).

Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa, Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 7.4.2020).

Vor dem Krieg betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Syriens 60 Milliarden US-Dollar (TE 28.6.2018). In Relation zum Vorkriegsniveau ist das BIP um etwa 65% zurückgegangen (CHH 26.9.2019). Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP 7.4.2020). Internationale Sanktionen, große strukturelle Schäden, der verringerte Konsum und die geminderte Produktion, reduzierte Subventionen und die hohe Inflation senken unter anderem den Wert des syrischen Pfunds und die Kaufkraft privater Haushalte (vgl. TS 22.1.2020). Im Jänner 2020 erließ Assad ein Dekret, wonach das syrische Pfund bei geschäftlichen Transaktionen als Währung zwingend vorgeschrieben ist. Geschäfte mit ausländischen Währungen werden mit bis zu sieben Jahren Zwangsarbeit bestraft (TS 22.1.2020).

Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, da die Situation unterschiedlich ist, je nachdem, wer welches Gebiet kontrolliert (BS 29.4.2020), oder weil das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken basiert, die regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019).

Mit dem Abflauen des Konflikts dominiert die katastrophale wirtschaftliche Lage und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB 29.9.2020). Wirtschaftliche Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Inzwischen gehen laut GIZ drei von vier Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche Auswärtige Amt berichtet hingegen, dass 50% der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos sind (AA 4.12.2020). Der Think Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in Damaskus immer schwieriger wird ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu finden (MEI 6.11.2018). Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis zu 200%, sodass für viele Menschen der Weg zur Arbeit inzwischen teurer ist als ihr Gehalt (AA 4.12.2020).

Die Covid-19 Krise verschärft die Wirtschaftslage weiter. Der anhaltende Währungsverfall des syrischen Pfunds – allein um zwei Drittel innerhalb eines Jahres und um 97% seit Konfliktbeginn – erodiert Haushaltseinkommen, während Lebensmittelpreise stark steigen: Selbst Preise von Grundnahrungsmitteln sind innerhalb des letzten halben Jahres um ca. 200% gestiegen. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine elektronische Karte zu beziehen, zuerst Benzin und Heizöl, dann Reis, Zucker, Tee und Speiseöl, zuletzt sogar Brot. Rücküberweisungen der syrischen Diaspora, die bisher eine wichtige Einnahmequelle darstellen, sinken. Die andauernde politische und wirtschaftliche Krise im benachbarten Libanon hemmt die Aussichten auf wirtschaftliche Erholung in Syrien zusätzlich, da auf umfangreiche syrische Vermögenswerte in libanesischen Banken nicht mehr zugegriffen werden kann und die Abwicklung von Importen nach Syrien über den Hafen und Finanzplatz Beirut auch weiterhin nur in begrenztem Maße möglich ist. Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020).

Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist landesweit verschwunden. Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020).

Die syrische Regierung kontrolliert den Zugang zu humanitärer Hilfe und die Sammlung von Daten. Die Organisationen können folglich weder ein eigenes Monitoring und Evaluierungen noch unabhängige Studien über die Bevölkerung oder deren Bedürfnisse durchführen. Davon ist auch UNHCR nicht ausgenommen. Dies führt dazu, dass in manchen Gebieten die Bedarfserhebungen unvollständig sind. In manchen Fällen ist UNHCR auch gezwungen die Untersuchungen durch andere NGOs durchführen zu lassen (EIP 6.2019). Im Juli 2020 setzte die Russische Föderation für ihren Verbündeten Syrien durch, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen humanitäre Hilfslieferungen in den hauptsächlich von Rebellen kontrollierten Nordwesten des Landes nur mehr über einen Grenzübergang von der Türkei aus zu liefern. Russland argumentiert, dass die Hilfslieferungen von innerhalb des Landes über die Konfliktlinien hinweg erfolgen sollten. So wird die humanitäre Hilfe für 1,3 Millionen Menschen in der Region Aleppo, darunter 800.000 IDPs und 500.000 Kinder, gefährdet (EN 12.7.2020).

Der Zugang zu Sozialleistungen wird häufig durch die geografische Lage und die politische Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die "Leistungsfähigkeit des Staates", vor allem der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot. Das Regime versucht jedoch auch, den Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe, selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder familiären Bindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS 29.4.2020).

Während sich die Versorgungslage innerhalb Syriens 2019 verbessert hatte, sind mit steigender Tendenz 11,1 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig, die jedoch nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann (AA 4.12.2020). Die Anzahl der akut Hilfsbedürftigen ist gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegen (von 5 auf 5,6 Mio.) (AA 19.5.2020). Acht von zehn syrischen Haushalten leben nach wie vor unterhalb der Armutsgrenze. Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Das syrische Regime gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten. Insgesamt wurden im Februar und März 2020 nur 44 % der humanitären Missionen, die einer Genehmigung des Regimes bedürfen, genehmigt (AA 19.5.2020).

Außerhalb von Damaskus übersteigt der durchschnittliche Lebensmittelpreis die Preise in der Hauptstadt um ein Vielfaches, aber auch in Damaskus und den Gouvernements Lattakia und Tartous hat sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder deutlich verschlechtert. Zur Versorgunglage der vier bis fünf Mio. nicht von humanitärer Hilfe abhängiger Menschen in Syrien liegen laut UN keine Daten vor. In Gebieten im Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener (z.B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und Tartous) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen werden. Nach wie vor verhindert das Regime Hilfslieferungen über die Konfliktlinien in Oppositionsgebiete. Die Zahl der akut hilfsbedürftigen Personen ist laut UNOCHA in Tartous, Lattakia und Teilen Hassakahs am niedrigsten. Der Zugang zu Wasser, Elektrizität, Bildung und gesundheitlicher Versorgung ist dort grundlegend gewährleistet. Doch auch dort sind Teile der Bevölkerung, vor allem Binnenvertriebene und vulnerable Aufnahmegemeinden in den ländlichen Gegenden, weiterhin von Lebensmittelhilfe abhängig (AA 4.12.2020).

Ein deutlicher Anstieg der Lebenshaltungskosten in Verbindung mit einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit führt dazu, dass die Bevölkerung zunehmend von internationaler Hilfe und Überweisungen abhängig ist (SWP 7.4.2020). In den letzten acht Monaten des Jahres 2020 ist die Zahl der Bedürftigen, welche auf Lebensmittelhilfen angewiesen sind, um fast 1,5 Mio. Menschen gestiegen (AA 4.12.2020).

In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020). Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vgl. ST 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (ST 21.6.2020).

Das umstrittene Gesetz Nr. 10, das im April 2018 in Kraft trat, sieht vor, dass örtliche Behörden die Kontrolle über ausgewiesene Gebiete für den Wiederaufbau übernehmen und auch Enteignungen vornehmen können. Die Eigentümer werden innerhalb einer einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die wegen der Angst vor politischer Verfolgung oder anderer Gründe, nicht nach Syrien zurückkehren können, um ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Informelle Siedler werden verdrängt und erhalten nur begrenzte Entschädigungen, während die ehemaligen formellen Grundeigentümer nur begrenzte Möglichkeiten haben, von der Wertsteigerung zu profitieren (Wind/Ibrahim 2.2020).

Besonders gravierende Langzeitfolgen hat der Konflikt unter anderem im Bildungsbereich. Durch Flucht und Vertreibung ist ein dramatischer Verlust an Lehrkräften entstanden (SWP 7.4.2020). In Gebieten, die zuvor unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) standen und von den Syrian Democratic Forces (SDF) wiedererobert wurden, konnten Schulen wiedereröffnet werden. Viele der Schulen benötigen jedoch noch umfangreiche Reparaturen und müssen von explosiven Kampfmittelrückständen gesäubert werden (USDOS 11.3.2020).

Die syrische Regierung bemüht sich den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten dient demnach eher der internen Propaganda bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein politisches Signal zu senden und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019). Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa, die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzu kommt die immense Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die Hafenstädte Tartous und Lattakia (AA 2.12.2020). Vor allem im westlichen Teil des Landes ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).

Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche und der Beschädigungsgrad variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen klare Spuren des Krieges auf und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018).

Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft. Im Jahresverlauf 2020 ist die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, dramatisch gestiegen. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehören Lattakia, Raqqa und Aleppo. Im Mai 2020 gab es laut UN schätzungsweise sechs Millionen Menschen mit unzureichender Nahrungsmittelversorgung, während 6,4 Millionen Menschen sogenannte "negative Bewältigungsmechanismen" nutzen, darunter Zurückgreifen auf weniger nahrhafte Lebensmittel, das Ausleihen von Lebensmitteln und die Einschränkung des Nahrungsmittelkonsums, um Kinder zu ernähren (UNFAO 13.8.2020). Im Juni 2020 warnte der Leiter des UN-Welternährungsprogramms vor einer Hungersnot; seinen Angaben zufolge waren sogar 9,3 Millionen Syrer von Ernährungsunsicherheit betroffen (gegenüber 6,5 Millionen im Jahr 2018) und weitere 2,2 Millionen waren dem Risiko von Ernährungsunsicherheit ausgesetzt; mehr als 80.000 Kinder waren chronisch unterernährt (SWP 11.7.2020). Vulnerable Bevölkerungsgruppen, darunter Vertriebene und Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand, sind einem größeren Risiko der Ernährungsunsicherheit ausgesetzt. Die Transportkosten sind im Allgemeinen um etwa 30% gestiegen, in abgelegenen Gebieten sogar noch stärker, was die Warenlieferungen an die Märkte beeinflusst (UNFAO 13.8.2020).

Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in umkämpften Gebieten eingeschränkt. 15,5 Millionen Menschen benötigten 2019 dringend Zugang zu (Trink-)Wasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen (2018: 12,1 Mio.). Insbesondere im Süden (Dara‘a, Quneitra) sowie im Norden (Idlib, Aleppo) ist die Bevölkerung in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 4.12.2020).

Ethnische und religiöse Minderheiten

Die anhaltende Vertreibung der syrischen Bevölkerung führt zu einem gewissen Grad an Unsicherheit in den demographischen Daten. Schätzungen der US-Regierung zufolge dürften die Sunniten 74% der Bevölkerung stellen, wobei diese sich unter anderem aus arabischen, kurdischen, tscherkessischen, tschetschenischen und turkmenischen Bevölkerungsanteilen zusammensetzen. Andere muslimische Gruppen, einschließlich Alawiten, Ismailiten und Zwölfer Schiiten machen zusammen 13% aus, die Drusen 3%. Verschiedene christliche Gruppen bilden die verbleibenden 10% (USDOS 10.6.2020; vgl. MRG 5.2018a, CIA 12.8.2020), wobei laut Medien- und anderen Berichten davon auszugehen ist, dass viele Christen aufgrund des Bürgerkrieges das Land verließen, und die Zahl nun bedeutend geringer ist, bei geschätzten 2.5%. Vor dem Bürgerkrieg gab es in Syrien ungefähr 80.000 Jeziden (USDOS 10.6.2020).

Die alawitische Gemeinde, zu der Bashar al-Assad gehört, genießt einen privilegierten Status in der Regierung und dominiert auch den staatlichen Sicherheitsapparat und das Militär (USDOS 11.3.2020).

In Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit besteht die syrische Bevölkerung zum Großteil aus Arabern (Syrer, Palästinenser, Iraker). Ethnische Minderheiten sind Kurden, Armenier, Turkmenen und Tscherkessen (MRG 5.2018a).

Religiöse bzw. interkonfessionelle Faktoren spielen auf allen Seiten des Konfliktes eine Rolle, doch fließen auch andere Faktoren im Kampf um die politische Vormachtstellung mit ein. Die Gewalt von Seiten der Regierung gegen Oppositionsgruppen aber auch Zivilisten weist sowohl konfessionelle Elemente als auch Elemente ohne konfessionellen Bezug auf. Beobachtern zufolge ist die Vorgehensweise der Regierung gegen Oppositionsgruppen, welche die Vormachtstellung der Regierung bedrohen, nicht in erster Linie konfessionell motiviert, doch zeige sie konfessionelle Auswirkungen. So versucht die syrische Regierung konfessionell motivierte Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich als Beschützerin der religiösen Minderheiten vor Angriffen von sunnitisch-extremistischen Gruppen darstellt. Die meisten Rebellengruppen bezeichnen sich in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Islamisten und haben Beobachtern zufolge eine fast ausschließlich sunnitische Unterstützerbasis. Dies gibt dem Vorgehen der Regierung gegen oppositionelle Gruppen auch ein konfessionelles Element. Der Einsatz von schiitischen Kämpfern, z.B. aus Afghanistan, um gegen die mehrheitlich sunnitische Opposition vorzugehen, verstärkt zusätzlich die konfessionellen Spannungen. Laut Experten stellt die Regierung die bewaffnete Opposition auch als religiös motiviert dar, indem sie diese mit extremistischen islamistischen Gruppen und Terroristen in Zusammenhang setzt, welche die religiösen Minderheiten sowie die säkulare Regierung eliminieren wollen (USDOS 10.6.2020).

Dies führt dazu, dass manche Führer religiöser Minderheitengruppen der Regierung Präsident Assads ihre Unterstützung aussprechen, da sie diese als ihren Beschützer gegen gewalttätige sunnitisch-arabische Extremisten sehen (USDOS 10.6.2020; vgl. USCIRF 4.2019, FA 27.7.2017). Die Minderheiten sind in ihrer Einstellung der syrischen Regierung gegenüber allerdings gespalten. Auch die Alawiten sind in ihrer Unterstützung bzw. Ablehnung der syrischen Regierung nicht geeint. Manche Mitglieder der Minderheiten sehen die Regierung als Beschützer, andere sehen einen Versuch der Regierung die Minderheiten auszunutzen, um die eigene Legitimität zu stärken, indem zum Beispiel konfessionell motivierte Propaganda verbreitet, und so die Ängste der Minderheiten geschürt und deren empfundene Vulnerabilität vertieft wird (MRG 5.2018b). So werden Berichten zufolge auch alawitische oppositionelle Aktivisten Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Folter und Mord durch die Regierung (USDOS 11.3.2020).

Alawiten und Schiiten werden aufgrund ihrer wahrgenommenen Unterstützung des Regimes außerdem zu Opfern von Angriffen durch aufständische extremistische Gruppen (MRG 5.2018b; vgl. USDOS 11.3.2020). Sunnitische Araber sehen viele der syrischen Christen, Alawiten und schiitischen Muslime aufgrund ihrer fehlenden Unterstützung oder Neutralität gegenüber der syrischen Revolution als mit der syrischen Regierung verbündet an (USCIRF 26.4.2017).

In den unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) oder der islamistischen Gruppierung Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) stehenden Gebieten wurden Schiiten, Alawiten, Christen und andere Minderheiten sowie auch Sunniten, die gegen deren strikte Auslegung des Islam verstießen, Ziele von Tötung, Entführung, Verhaftung oder Misshandlung. Christen wurden gezwungen eine Schutzsteuer zu zahlen, zu konvertieren oder liefen Gefahr getötet zu werden (USDOS 10.6.2020). In seit 2018 bzw. 2019 türkisch kontrollierten Gebieten im Norden Syriens ist es zu Vertreibungen und Drohungen gegen Minderheiten gekommen (JP 13.6.2020; vgl. Wilson Center 7.2020). Beobachter geben an, dass viele ethnische und religiöse Minderheiten nach ihrer Vertreibung aufgrund von Einschüchterungen durch der Türkei nahestehende syrische Gruppierungen zögern würden, zurückzukehren (USDOS 10.6.2020).

Der sogenannte IS entführte tausende großteils jezidische aber auch christliche und turkmenische Frauen und Mädchen im Irak und verschleppte sie nach Syrien, wo sie als Sexsklavinnen verkauft und als Kriegsbeute an IS-Kämpfer verteilt wurden. Durch die Zurückdrängung des IS wurde dessen Herrschaft über Teile der Bevölkerung beendet und seine Möglichkeit religiöse Minderheiten zu unterdrücken und Gewalt auszusetzen, eingedämmt (USDOS 21.6.2019). Allerdings agiert er weiter als aufständische Gruppe und greift als solche weiterhin Mitglieder religiöser Gruppen an (USDOS 21.6.2019; vgl. AA 19.5.2020). Einer Expertin zufolge verfügt der IS derzeit (Stand Mai 2020) nicht über die Kapazitäten, um Angriffe gegen ethnische Minderheiten auszuführen (DIS 29.6.2020). Der Trend zunehmender IS-Aktivitäten setzt sich jedoch auch 2020 fort (AA 4.12.2020).

Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens

Die Regierung, der sogenannte Islamische Staat (IS) und andere bewaffnete Gruppen beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 11.3.2020).

Die Bewegungsfreiheit der syrischen Bevölkerung wird auch durch aktive Kampfhandlungen eingeschränkt (UNSC 23.10.2018), etwa durch Belagerungen, die auch zur Einschränkung der Versorgung der betroffenen Gebiete und damit zu Mangelernährung, Hunger und Todesfällenführen (USDOS 11.3.2020). Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich jedoch weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019).

Durch die Wiedereroberung vormals von Rebellen gehaltener Gebiete durch die Regierung konnten manche wichtige Verkehrswege wieder eröffnet werden. Dies verbessert den Personen- und Warenverkehr in von der Regierung gehaltenen Gebieten. Die Bedingungen sind immer noch schwierig (Reuters 27.9.2018). Die Infrastruktur im Land hat unter den Kriegswirren erheblich gelitten. In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig willkürliche Kontrollen durchführen, teils verbunden mit Forderungen nach Geldzahlungen. Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt (AA 19.8.2020).

Die Fortbewegung in der Stadt Damaskus hat sich Berichten zufolge seit Mai 2018 und der damaligen Wiedereroberung von oppositionellen Gebieten durch die Regierung verbessert, da z.B. seither weniger Checkpoints in der Stadt betrieben werden. Die Checkpoints werden von den unterschiedlichen Sicherheitsbehörden bemannt. Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich (DIS 9.2019) bzw. recht willkürlich sein. Die fehlende Rechtssicherheit und die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018).
Laut Human Rights Watch wird Personen, die aus vom IS gehaltenen Gebieten flüchten, der Zutritt in kurdisch kontrollierte Gebiete verweigert, wenn diese keinen kurdischen Fürsprecher (Sponsor) vorweisen können (HRW 1.8.2018).

Teilen der syrischen Bevölkerung, speziell Rückkehrern und Menschen in Gebieten, die vom Regime zurückerobert wurden, fehlt weiterhin der Zugang zu für den persönlichen Alltag, Dienstleistungen und ihre Bewegungsfreiheit notwendigen Personal-und Personenstandsdokumenten (AA 19.5.2020).

Die vorherrschende Gewalt und der starke kulturelle Druck schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen in vielen Gebieten Syriens erheblich ein. In den vom IS oder die islamistische Miliz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierten Gebieten war es Frauen allgemein nicht erlaubt, ohne einen nahen männlichen Verwandten zu reisen (USDOS 11.3.2020).

Rückkehr

Im Juli 2020 zählte die syrische Bevölkerung geschätzte 19,4 Millionen Menschen (CIA 12.8.2020).

Mit Ende September 2020 waren 5.565.954 Personen in den Nachbarländern Syriens und in Nordafrika als syrische Flüchtlinge registriert. 2019 sind laut UNHCR insgesamt etwa 95.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt, im Zeitraum Jänner-Juli 2020 waren es rund 22.000 (UNHCR 23.9.2020). Weder IDPs noch Flüchtlinge sind notwendigerweise in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle, wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie durch die Region bestimmt, in welche die Rückkehr erfolgt, sondern entscheidend ist vielmehr, wie Rückkehrer von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen werden (AA 4.12.2020).

Eine Studie der Weltbank ergab, dass die Sicherheitslage in Syrien ein wesentlicher Bestimmungsfaktor bei Rückkehrentscheidungen ist. Flüchtlinge kehren mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Distrikte zurück, in welchen es zu intensiven Kämpfen kam. Auch die geringe Versorgung mit Bildung, Gesundheit und grundlegenden Dienstleistungen in Syrien hält Personen von einer Rückkehr ab. Die Bedingungen im Gastland haben komplexe Auswirkungen auf Rückkehrentscheidungen, wobei eine geringere Lebensqualität im Gastland die Rückkehrwahrscheinlichkeit nicht immer erhöht (WB 2020). Als wichtiger Grund für eine Rückkehr wurde auch der Wunsch nach Familienzusammenführung genannt (UNHCR 7.2018). Neben der allgemein volatilen Sicherheitslage bleibt mangelnde persönliche Sicherheit verbunden mit der Angst vor staatlicher Repression weiterhin das wichtigste Hindernis für eine Rückkehr (AA 19.5.2020; vgl. SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Rückkehrüberlegungen von syrischen Männern werden auch von ihrem Wehrdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019).

Über die Zustände, in welche die Flüchtlinge zurückkehren und die Mechanismen des Rückkehrprozesses ist wenig bekannt. Da Präsident Assad die Kontrolle über große Gebiete wiedererlangt, sind immer weniger Informationen verfügbar (EIP 6.2019). UNHCR erhielt vom Regime auch im Jahr 2020 nur stark eingeschränkten Zugang in Syrien und konnte daher weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren. Mittlerweile wurde ein Mechanismus zur Meldung solcher Fälle durch UNHCR beim Regime eingerichtet (AA 4.12.2020). Die Behandlung von Einreisenden ist stark vom Einzelfall abhängig und über den genauen Wissensstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer gibt es keine gesicherten Kenntnisse (ÖB 29.9.2020).

Bereits im Jahr 2017 haben die libanesischen Behörden trotz des Konfliktes und begründeter Furcht vor Verfolgung vermehrt die Rückkehr syrischer Flüchtlinge gefordert. Eine kleine Anzahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Abkommen nach Syrien zurückgekehrt. Diese Rückkehrbewegungen werden nicht von UNHCR überwacht. Einige Flüchtlinge kehren aufgrund der harschen Politik der Regierung ihnen gegenüber und sich verschlechternden Bedingungen im Libanon nach Syrien zurück, und nicht weil sie der Meinung sind, dass Syrien sicher sei. Gemeinden im Libanon haben Tausende von Flüchtlingen in Massenausweisungen/Massenvertreibungen ohne Rechtsgrundlage oder ordnungsgemäßes Verfahren vertrieben. Zehntausende sind weiterhin der Gefahr einer Vertreibung ausgesetzt (HRW 17.1.2019).

Obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 1.10.2019; SD 6.5.2020), sind aufgrund der Sicherheitslage und wirtschaftlichen Situation in Syrien bislang nur eine geringe Zahl Syrer wieder nach Syrien zurückgekehrt (SD 6.5.2020).

Im Juli 2019 änderte sich die Einstellung der türkischen Regierung den syrischen Flüchtlingen gegenüber. Nach maßgeblichen Verlusten bei lokalen Wahlen und mit dem Wunsch die Kontrolle der Regierung über die Situation zu demonstrieren, begannen türkische Sicherheitskräfte syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben und sie in die türkischen Provinzen, in denen sie registriert waren, zurückzuschicken, bzw. einige von ihnen abzuschieben und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). Laut NGO-Berichten haben die türkischen Behörden Flüchtlinge immer wieder festgenommen und sie gezwungen, "freiwillige" Rückkehrdokumente zu unterzeichnen, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020).

Es liegen widersprüchliche Informationen vor, ob Personen, die nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen müssen, oder nicht. Laut deutschem Auswärtigen Amt müssen syrische Flüchtlinge, unabhängig von politischer Ausrichtung, vor ihrer Rückkehr weiterhin eine Überprüfung durch die syrischen Sicherheitsdienste durchlaufen (AA 19.5.2020). Auch laut International Crisis Group (ICG) stellt unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein rückkehrwilliger Flüchtling wählt, die Sicherheitsfreigabe durch den zentralen Geheimdienstapparat in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) das endgültige Urteil dar, ob es einem Flüchtling möglich ist sicher nach Hause zurückzukehren (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtet der Danish Immigration Service (DIS) auf Basis von Interviews, dass Syrer, die außerhalb Syriens wohnen und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsfreigabe benötigen, um nach Syrien zurückzukehren. Weiters berichtete Syria Direct gegenüber DIS, dass lediglich Syrer im Libanon, die über "organisierte Gruppenrückkehr" nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsfreigabe benötigen (DIS 12.2020).

Ein Punkt, der nach wie vor schwer zu ermitteln ist, ist der Anteil der Antragsteller, denen die Rückkehr nicht genehmigt wurde (ICG 13.2.2020). Er wird von den verschiedenen Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018) angegeben. In vielen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgebiete nicht erlaubt (USDOS 11.3.2020).

Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Erfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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