Entscheidungsdatum
03.05.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W105 1420109-3/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX (alias: XXXX ), geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU GmbH, gegen die Spruchpunkte I., II., III., V., VI. und VII. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.07.2020, Zl. 810197806-200199926, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.03.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und die Spruchpunkte I., II, V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird dahingehend abgeändert, dass XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für weitere zwei Jahre erteilt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 26.11.2011 nach schlepperunterstützter und illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des - damals zuständigen - Bundesasylamtes vom 27.06.2011 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG) idgF abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde dem BF jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 24.06.2012 erteilt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde hinsichtlich der Gewährung des subsidiären Schutzstatus im Wesentlichen ausgeführt, dass in Anbetracht der Ausführungen des BF sowie unter Berücksichtigung seiner individuellen Faktoren (Alter, Bildungsgrad, Berufsausübung, Volksgruppe, Anknüpfungspunkte etc.) und der derzeitigen Lage in Afghanistan - im Besonderen in der Heimatregion Nangarhar - dem BF als Angehörigem einer vulnerablen Personengruppe die Lebensgrundlage in seinem Herkunftsstaat entzogen sei.
3. Die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Beschwerde des BF wurde mit Erkenntnis des damals zuständigen Asylgerichtshofes, Zl. C9 420109-1/2011/2E, als unbegründet abgewiesen.
4. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF aufgrund entsprechender Anträge gemäß § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 24.06.2020 verlängert.
Begründend wurde jeweils ausgeführt, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat des BF in Verbindung mit dem Antrag des BF das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig gewertet werden könne.
5. Nach der erneuten Stellung eines Antrags auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung fand am 23.06.2020 vor dem BFA eine niederschriftliche Einvernahme des BF statt, in der der BF einen Miet- sowie Dienstvertrag, einen Abrechnungsbeleg und ein Deutschzertifikat in Vorlage brachte und im Wesentlichen Folgendes zu Protokoll gab:
Der BF sei gesund, er habe vor anderthalb Monaten Corona gehabt, aber es gehe ihm gut. Er wohne in einer privaten Wohnung in Wien mit einem Freund gemeinsam, auch sein Bruder lebe in Wien und es bestehe Kontakt. Er sei seit über drei Jahren in der Nachtschicht beim Unternehmen „ XXXX “ angestellt, er transportiere Paletten mit einer Maschine und verdiene monatlich zwischen 1.800 bis 1.900 Euro brutto. Aufgrund seiner Arbeit sei er finanziell unabhängig. Die Mutter des BF, seine Geschwister und seine Onkel würden in Jalalabad leben. Es bestehe regelmäßiger Kontakt und sie werden vom BF sowie dessen Bruder unterstützt. Der BF sei seit seiner Ankunft nicht mehr in Afghanistan gewesen, er habe seine Familie aber im Februar 2020 in Peschawar, Pakistan, getroffen und mit ihnen dort sechs Wochen verbracht. Er sei auch im Oktober 2018 in Pakistan gewesen und habe dort eine Afghanin geheiratet, sie lebe bei seiner Familie in Jalalabad. Er habe die Frau über seine Mutter kennengelernt und habe mit ihr viel telefoniert. Sie sei schwanger und sein Plan sei es, sie nach Österreich zu holen. Gegen eine Rückkehr nach Afghanistan spreche aus Sicht des BF, dass es dort unsicher sei und die Taliban hätten wieder begonnen, Dörfer und Städte zu attackieren, weswegen er Angst habe.
6. In der Folge wurde dem BF mit dem angefochtenen Bescheid vom 14.07.2020 der mit Bescheid vom 24.06.2011, Zl. 11 01.978-BAG, zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), die mit demselben Bescheid erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG entzogen (Spruchpunkt II.), der Antrag des BF auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 04.06.2020 abgewiesen (Spruchpunkt III.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt IV.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idgF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) idgF erlassen (Spruchpunkt V.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VII.)
Begründend wurde im angefochtenen Bescheid unter Darlegung näherer Erwägungen zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass dem BF der Schutzstatus einst zugesprochen worden sei, da er zum Zeitpunkt der damaligen Entscheidung als Minderjähriger einer vulnerablen Personengruppe angehört habe und er im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten würde. Mittlerweile habe sich die Situation sowohl subjektiv als auch objektiv geändert. Der BF sei erwerbsfähig und gesund, könne Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen und seine gesamte Familie lebe in Afghanistan. Eine Rückkehr in die Städte Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sei dem BF unter Verweis auf die EASO - Country Guidance zu Afghanistan zumutbar. Der BF habe zwar in Afghanistan nie eine Schule besucht, er sei aber in Österreich außerordentlicher Schüler bei einem polytechnischen Lehrgang gewesen und habe in beruflichen Beschäftigungen Erfahrungen gesammelt. Wie sich aus der Einvernahme des BF ergeben habe, bestehe guter und regelmäßiger Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan. In Gesamtbetrachtung aller Umstände sei festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht mehr vorliegen und somit eine Aberkennung des Schutzstatus des BF gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG auszusprechen sei.
7. Gegen die Spruchpunkte I.-III. sowie V.-VII. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde des BF vom 10.08.2020, in welcher im Wesentlichen geltend gemacht wird, dass das BFA pauschal auf das Länderinformationsblatt verwiesen aber nicht konkret festgestellt habe, inwiefern sich die Lage im Herkunftsstaat maßgeblich und nachhaltig verändert hätte. Ein Abgleich der aktuellen Länderberichte zur Sicherheitslage mit den Länderberichten vom 24.06.2011 bzw. mit jenen zum Zeitpunkt der letzten Verlängerung der letztmaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung sei nicht angestrengt worden. Auch stelle sich entgegen den Feststellungen des BFA die Sicherheitslage - auch in den Großstädten - weiterhin als prekär dar und stehe ebenso wie die aufgrund der Covid-19-Pandemie massiv verschlechterte Versorgungslage einer Rückführung des BF entgegen.
Die belangte Behörde habe keine umfassende vergleichende Darstellung des Sachverhalts im Zeitpunkt der Zuerkennung des Schutzstatus zur nunmehr vermeintlich veränderten Situation angestellt, es wurde lediglich vage festgestellt, dass sich die „maßgeblichen Umstände“ geändert hätten. Der BF verfüge über dieselben verwandtschaftlichen Beziehungen wie bei der Zuerkennung und habe weiterhin keine ausreichenden Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten, um sich in Afghanistan eine Lebensgrundlage aufzubauen. Auch sei nicht ersichtlich, inwiefern die in Österreich durch seine Lagerarbeit gewonnene Lebenserfahrung so massiv von Vorteil für den BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan sein solle, sodass von einer maßgeblichen Änderung der Umstände auszugehen sei. Zudem sei die mangelnde Berufserfahrung nicht maßgeblich für die Zuerkennung des Schutzstatus im Jahr 2011 gewesen. Auch sei hinzuzufügen, dass eine andere rechtliche Beurteilung oder Würdigung eines im Wesentlichen unveränderten Sachverhalts die Aberkennung eines rechtskräftig zuerkannten Schutzstatus nicht rechtfertige, weshalb der Bescheid des BFA ersatzlos zu beheben sei.
8. Am 05.03.2021 langte eine Stellungnahme des BF beim Bundesverwaltungsgericht ein, in welcher zur persönlichen Situation des BF Folgendes ausgeführt wurde:
Hinsichtlich der nunmehr vorliegenden Volljährigkeit des BF wird angemerkt, dass diese bereits seit 2014 vorliegt und die belangte Behörde bisher nicht davon ausgegangen ist, dass die Volljährigkeit des BF eine wesentliche Sachverhaltsänderung darstellen würde. Gemäß den gesetzlichen Bestimmungen muss eine Änderung seit letztmaliger Entscheidung über die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes ergangen sein, somit seit letzter rechtskräftiger Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung gem. § 8 Abs. 4 AsylG. So ist die Aberkennung gem. § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG nur möglich, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht oder nicht mehr vorliegen. Eine Verlängerung ist gem. § 8 Abs. 4 AsylG nur „im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen“ vorgesehen. Somit ist das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz von der Rechtskraftwirkung der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung umfasst und können nur nachträgliche Änderungen zu einer Aberkennung des Schutzes führen. […]
Der BF verfügt über keine Schulbildung und hat auch in Österreich lediglich Tätigkeiten als ungelernter Hilfsarbeiter ausgeführt. Darüber hinaus waren die Familienangehörigen des BF bereits im Zuerkennungszeitpunkt bzw. Zeitpunkt der letztmaligen Verlängerung des subsidiären Schutzes in Afghanistan aufhältig.
Zusammenfassend wird festgehalten, dass weder die subjektive Lage, noch die derzeitige Sicherheits- und Versorgungslage eine Aberkennung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde, dem BF keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht und ihm eine Niederlassung in einem anderen Landesteil jedenfalls nicht zumutbar ist.
9. Am 11.03.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, an welcher der BF mit seiner rechtlichen Vertretung teilnahmen und in welcher er unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu einvernommen wurde. Die belangte Behörde blieb der Beschwerdeverhandlung entschuldigt fern.
Das Beschwerderechtsgespräch gestaltete sich wie folgt:
R: Wie geht es Ihnen gesundheitlich (sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht [die Begriffe werden mit dem BF abgeklärt, sodass ihm diese geläufig sind]): Sind Sie insbesondere in ärztlicher Behandlung, befinden Sie sich in Therapie, nehmen Sie Medikamente ein?
BF: Mir geht es gut.
R: Sie haben schon am 26.02.2011 einen Asylantrag gestellt, eine Verfolgungssituation haben Sie nicht angegeben. Stimmt das so?
BF: Ja.
R: Können Sie jetzt noch einmal sagen, in einem Satz, wieso Sie als minderjähriger damals Afghanistan verlassen haben?
BF: Mein Leben war in Gefahr.
R referiert den Akteninhalt: Antrag auf Verlängerungen, mehrfacher Verlängerungen, Bescheid aus 2018, Kontrollmitteilung, Protokoll vom 23.06.2020, Unterlagen vom BF, A1 Zertifikat, Dienstvertrag vom BF, Meldeauskünfte, Bescheid von BA, Stellungnahme vom 04.03.2021 vom RV.
RV legt vor eine Arbeitsbestätigung vom 09.03.2021, welcher entnehmbar ist das der Antragsteller seit 01.11.2019 als Arbeiter beschäftigt ist. (Kopie zum Akt)
R: Sie wurden bereits beim BFA niederschriftlich einvernommen. Haben Sie dort die Wahrheit gesagt oder möchten Sie etwas richtigstellen?
BF: Ich habe die Wahrheit angegeben und halte alles aufrecht.
R: Wurde Ihnen die Niederschrift, des BFA die im Zuge Ihrer Einvernahme mit Ihnen aufgenommen wurde, rückübersetzt?
BF: Ja.
R: Haben Sie in Österreich schon einmal Probleme mit der Polizei oder Staatsanwaltschaft gehabt?
BF: Nein.
R: Sind Sie in Österreich bisher strafrechtlich verurteilt worden?
BF: Nein.
R: Leben Sie in Österreich alleine oder leben Sie mit jemandem zusammen? Wie ist Ihre aktuelle Wohnsituation?
BF: Die Wohnung gehört mir, ein Freund von mir lebt dort mit mir.
R: Sie sind etwa 10 Jahre im Lande, sprechen Sie auch schon Deutsch? Welches Sprachniveau haben Sie? Besuchen Sie Sprachkurse oder sonstige Kurse, Schule, Vereine oder Universität?
BF: Ich habe A1, ich sprechen nicht so gut Deutsch. Es geht ich kann meine Probleme lösen.
R (Frage auf Deutsch gestellt): Was machen Sie unter Tags so? Wie stellt sich ein typischer Tagesablauf dar?
BF (auf Deutsch): Ich habe das nicht verstanden.
R (auf Deutsch): erzählen Sie über Ihre Arbeit?
BF (auf Deutsch): Ich Waren arbeiten.
R (auf Deutsch): Können Sie einen grammatikalisch richtigen deutschen Satz sagen?
BF: Was soll ich sagen? Ich habe nächste Woche einen Termin genommen. Ich muss die Wohnung tauschen.
R: Sie verstehen also ein wenig und bruchstückhaft verständig machen, aber wirklich deutsch sprechen können Sie nicht?
BF: Ja das ist richtig. Aber ich habe mich sehr bemüht. Ich habe auch viele Deutschkurse und Schule gemacht.
R: Habe Sie in Österreich familiäre Bindungen?
BF: Ja mein Bruder ist da.
R: Wie sieht Ihr Kontakt zu Ihren Bruder aus?
BF: wir haben Kontakt miteinander und rufen uns gegenseitig an.
R: Wie sieht der Kontakt zu Ihrer Familie in Afghanistan aus?
BF: Gut ich habe Kontakt.
R: wie oft haben Sie kontakt?
BF: 3-mal wöchentlich
R. Wo lebt Ihre Familie?
BF: In Jalalabad, in einem Dorf namens XXXX , in der Provinz Nagarhar.
R: Wer von Ihrer Familie lebt dort?
BF: Dort leben meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder, meine Frau und mein Sohn der 4 Monate alt ist.
R: Wovon lebt Ihre Familie?
BF: Mein Bruder versorgt die Familie?
R: Was arbeite der Bruder?
BF: Er hat ein Lebensmittelgeschäft.
R: Wie sind die Wohnverhältnisse der Familie?
BF: Wir haben ein Haus in XXXX . Wenn sie in Jalalabad sind dann sind sie bei meine Onkeln ms. Ich habe dort mehrere Onkels.
R: Wie oft waren sie in der Zwischenzeit in Afghanistan?
BF: In Afghanistan war ich nicht.
R: Wie kommt es dass Sie verheiratet sind?
BF: Ich habe in Jahr 2018 in Pakistan geheiratet.
R: Wie oft waren Sie schon in Pakistan?
BF: 2018,2019 und im 2020 war ich in Pakistan, weil ich geheiratet habe?
R: Was ist den Ihnen wichtig im Leben?
BF: Meine Familie-
R: Gibt es sonst noch etwas was Ihnen wichtig ist?
BF: Mein Leben in Österreich fortzuführen. Nachgefragt: Ja um zu Arbeiten.
R: Ihr Familienleben spielt sich mehr oder wenig in Pakistan und Afghanistan ab?
BF: Ja mein Familienleben ist dort.
R: Wie viel verdienen Sie in Österreich?
BF: Ich verdiene 1.900 netto, weil ich Nachtschichten habe. Verdiene würde ich weniger aber mein Job ist hart und ständig im Kühlhaus.
R: Haben Sie abgesehen von ihrer beruflichen Tätigkeiten, irgendwelche Integrationsschritte unternommen?
BF: Versucht habe ich es, aber dadurch das ich abends arbeite. Ich habe es aber vor.
R: Welche Schritte haben Sie vor?
BF: Ich möchte die Sprache besser lernen und den Sprachkurs auf B1 abschließen, das ist mir sehr wichtig.
R: Wie lange arbeiten Sie in der Nacht?
BF: Seit 5 Jahren.
R: Wo waren Sie vorher?
BF: Ich war in der XXXX über eine Leihfirma und seit einem Jahr bin ich fix dort angestellt.
R: In den anderen 5 Jahren haben Sie keine Integrationsschritte unternommen? Erzählen Sie uns über diese Schule die Sie gemacht haben?
BF: Ein Polytechnikum habe ich gemacht und Deutschkurse vom AMS.
R: Sind Sie Mitglied von einem Verein?
BF: Nein. Manchmal spiele ich Fußball und manchmal schaue ich es mir im Fernsehen an.
R: Haben Sie österreichische Freunde?
BF: Ja habe ich.
R: Wer ist das?
BF: Ich habe dort eine Freund den XXXX und in XXXX war ich dort in einer Unterkunft, da habe ich noch mit meinem damaligen Chef Kontakt. Es waren Vorarbeiter in dieser Unterkunft mit denen habe ich auch Kontakt.
R: Warum gehen Sie nicht zurück nach Afghanistan zu Ihrer Frau und Ihrem Kind?
BF: In Afghanistan herrscht keine Sicherheit, es gibt tagtäglich dort Explosionen. Mein Leben ist dort in Gefahr. Wenn ich Afghanistan Sicherheit herrschen würde, würde ich zurückkehren.
R unterbricht die VH von 10:02 Uhr bis 10:14 Uhr.
R: In Afghanistan leben etwa 35 Millionen Menschen, was unterschiedet Ihre Position zu deren Position?
BF: Darüber kann ich nichts sagen. Jeder hat seine eigenen Probleme, ich habe meine gründe. Mein Leben war in Gefahr abgesehen davon sind auch viele andere geflüchtet.
R: Eine asylrechtliche Gefahrensituation für Sie persönlich wurde mit rechtskräftiger Entscheidung in der Vergangenheit bereits verneint. Heute geht es unter anderem darum, ob es zumutbar wäre zurückzukehren vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse und unter Berücksichtigung Ihrer höchst persönlich Situation. Was sagen Sie dazu?
BF: Mein persönliches Problem ist das in meiner Region Jalalabad extreme Unsicherheit herrscht und durch Explosionen dort tagtäglich Menschen ums Leben kommen. Das sind auch sehr viele Leute geflüchtet.
R: Aber Ihre Familie lebt dort normal und Ihr Bruder betreibt sogar ein offenes Geschäft. Also kann man dort ganz normal leben?
BF: Mein Bruder war nicht in Afghanistan, er war in Iran oder sonst wo. Er ist seit 2 Jahren wieder in Afghanistan, aber er lebt in Angst dort. Nachgefragt: In Indien herrscht Sicherheit und Frieden.
R: Sie sind mit Ihrer Kultur nach wie vor verbunden?
BF: Es geht. Normal, ich habe mich mit der österreichischen Kultur angepasst. Ich bin seit 10 Jahren hier.
R: Warum haben Sie eine Frau aus Afghanistan geheiratet, die in Pakistan lebt?
BF: Das ist jedem selbst überlassen. Nachgefragt: Jedem ist das selbst zu überlassen.
R: Glauben Sie könnten Sie sich in einem friedlichen Teil in Afghanistan niederlassen, etwa in Maszar-E-Scharif oder Herat?
BF: Diese Frage wurde mir schon mal gestellt. Damals habe ich geantwortet, dass man in keiner Provinz in Afghanistan leben kann. Dort leben alle in Angst und rechnen damit das jederzeit etwas passieren kann. Man kann in der Nacht nicht einmal das Haus verlassen.
R: In wie weit identifizieren Sie sich mit Österreich?
BF: Ich habe hier 10 Jahre verbracht. Hier herrscht Sicherheit und ich habe mich an die Gewohnheiten gewöhnt. Das Leben dort unterscheidet sich gänzlich mit dem Leben hier.
R: Möchten Sie mir Ihrer Frau und dem Kind zusammenleben?
BF: Warum nicht.
R: Stört es Sie das Ihre Familie unter den von Ihnen beschriebenen Umständen in Afghanistan lebt?
BF: Ja, aber sie leben dort.
R: Fühlen Sie sich nicht mit Ihnen verbunden so dass Sie vor Ort mit Ihnen sein möchten?
BF: Ich möchte, dass sie hierherkommen und hier leben.
R: Was bindet Sie an Österreich? Doch nur die Tatsache das Sie hier Geld verdiene können?
BF: Die Sicherheit, die guten Menschen hier und mein Leben ist glücklich und gefahrlos.
R: Über die guten Menschen können Sie nichts wissen, da Sie nach 10 Jahren kein gute Deutsch sprechen?
BF: Das kriegt man schon mit. Ich habe in Graz gelebt, da kann man einkaufen gehen. Wenn man einkaufen geht trifft man Leute. In der Arbeit hat man Kontakt.
R: Abgesehen von Arbeitsplatz haben Sie jedoch keine Schritte hin zu einer Integration in Österreich unternommen? Was haben Sie versucht?
BF: Kontakte geknüpft und gesprochen.
R: Nach 10 Jahren sprechen Sie wenig Deutsch und heiraten eine Frau aus Afghanistan. Sie sind orientiert in Ihrem Leben auf Afghanistan und haben eigentlich nichts mit Österreich zu tun?
BF: Sie haben grundsätzlich Recht aber ich habe versucht mit den Leuten Kontakt zu knüpfen, weil ich wusste das ich auf diesem Wege die Sprache schneller und besser lernen würden. Es ist mir aber nicht gelungen, weil ich zu schwach bin. Was meine Heirat anbelangt, ich habe diese Frau telefonisch kennengelernt. Wir sprachen ein paar Mal mit einander. Sie gefiel mir, aus diesem Grund habe ich sie geheiratet.
R: Könnten Sie bei Ihrer Familie Unterkunft nehmen?
BF: Wenn in Afghanistan Sicherheit herrscht dann ja
R: Wo ist der Unterschied, wenn Ihre Frau, Ihr Kind und Ihr Bruder, Ihre Schwester und Ihre Mutter dort wohnen und die können dort wohnen und Sie können oder nicht wohnen? Wo ist der Unterschied für mich?
BF: Das ist richtig. Meine Frau, meine Mutter, mein Kind sind aber stets zu Hause. Sie können das Haus nicht verlassen.
R: Aber Ihr Bruder betreibt ein offenes Geschäft? Stimmt das?
BF: Ja, das stimmt.
R: Also kann man als gesunder Mann sehr wohl am wirtschaftliche Leben teilnehmen oder?
BF: Wenn die Sicherheit herrscht dann ja
R gibt der RV, die Gelegenheit Fragen zu stellen.
RV: Wovon lebt Ihre Familie in Afghanistan?
BF: Grundsätzlich versorgt mein Bruder die Familie. Aber ich schicke manchmal Geld an meiner Frau.
RV: Keine weiteren Fragen
R: Ich verweise auf das aktuelle EASO von Dezember 2020 und führe das ins Verfahren ein.
RV: Der Bericht ist bekannt. Ich habe in meiner Stellungnahme auch darauf Stellung genommen.
R: Das Gericht kann sich auf Grund Ihrer Angaben nunmehr ein Bild über ihre privaten sowie familiären Bindungen in Österreich machen und erscheinen hierzu seitens des Gerichts keine weiteren Fragen offen. Wollen Sie sich noch weitergehend zu Ihren privaten und familiären Bindungen in Österreich bzw. ihrer Integration äußern?
BF: Ich war lediglich 3 Mal bis jetzt in Pakistan. Was die Sprache anbelangt, habe ich mich sehr bemüht, aber ich habe es nicht in diesem Ausmaß geschafft was man von mir erwarten würde. Darüber hinaus arbeite ich und verdiene mein eigenes Geld. Ich habe mir in diesen 10 Jahren nichts zu Schulden kommen lassen aus diesem Grund kann ich sagen das ich mich integriert und angepasst habe. Mein Leben habe ich 10 Jahr hier verbracht und in Pakistan habe ich nur Urlaub gemacht für wenige Wochen.
R: Die Dolmetscherin wird Ihnen jetzt die gesamte Verhandlungsschrift rückübersetzen. Bitte passen Sie gut auf, ob alle Ihre Angaben korrekt protokolliert wurden. Sollten Sie einen Fehler bemerken oder sonst einen Einwand haben, sagen Sie das bitte.
BF: Ich bitte um eine Rückübersetzung.
Die vorläufige Fassung der bisherigen Niederschrift wird durch die D dem BF rückübersetzt.
Keine Einwendungen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Festgestellt wird zunächst der oben dargelegte Verfahrensgang.
Der BF ist afghanischer Staatsangehöriger und volljährig, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Er stammt aus der Provinz Nangarhar und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er besuchte in Afghanistan keine Schule und ging keiner Erwerbstätigkeit nach. Er ist gesund.
Im Oktober 2018 heiratete der BF eine afghanische Frau in Pakistan, er traf seine Familie zwei weitere Male in Pakistan jeweils einmal 2019 und 2020. Es besteht regelmäßiger Kontakt mit seiner Familie. Im Jahr 2020 ist der BF Vater geworden.
Die Familienverhältnisse des BF in Bezug auf Afghanistan haben sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Bescheid des BFA vom 24.06.2011 nicht maßgeblich verändert. Die Mutter, seine Geschwister, seine Onkel sowie nunmehr seine Frau und sein Kind leben in der Provinz Nangarhar.
In Österreich ist der BF bei der XXXX seit November 2019 angestellt, bereits zuvor arbeitete er für sie über Leiharbeitsfirmen. Er tätigt dort Lager- und Transportarbeiten. Der BF hat lediglich rudimentäre Deutschkenntnisse auf dem Level A1. Er besuchte für einen kurzen Zeitraum einen Lehrgang an einer polytechnischen Schule, sonst ging er in Österreich nicht zur Schule.
Nicht festgestellt werden kann, dass sich die Sicherheitslage in Kabul, Herat-Stadt oder Mazar-e Sharif im Herkunftsstaat des BF seit der letztmaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung mit Bescheid vom 18.06.2018 wesentlich und nachhaltig verbessert hat.
Zur allgemeinen politischen, menschenrechtlichen Situation sowie zur Sicherheitslage im Herkunftsland des BF wird Folgendes festgestellt:
Politische Lage
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt. Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen (NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).
Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.1.2021).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die "innerhalb des Islam" vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Doch bisher (Stand 10.2020) hat es keine Fortschritte gegeben, da sich die kriegführenden Seiten in Prozessen und Verfahren verzettelt haben, so diplomatische Quellen (AJ 5.10.2020).
Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 sei in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft worden, sagte das Verteidigungsministerium in Kabul (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021).
Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner "schwierig", sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021).
Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b.; vgl. AP 23.2.2021).
Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).
Zivile Opfer
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).
Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten
Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).
Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).
Opiumproduktion und die Sicherheitslage
Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).
Nangarhar
Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul (NPS Nangarhar o.D.a; vgl. UNOCHA 16.4.2010, UNOCHA Nangarhar 4.2014). Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad (NPS Nangarhar o.D.; vgl. OPr Nangarhar 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala [auch bezeichnet als Haska Mena; vgl. TBIJ 13.11.2019, VoA 28.6.2019], Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar und Surkh Rud (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Nangarhar 2019, UNOCHA Nangarhar 4.2014, NPS Nangarhar o.D.) sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar (NSIA 1.6.2019 vgl. IEC Nangarhar 2019).
Nangarhar ist eine der am dichtest besiedelten Provinzen Afghanistans und das wirtschaftliche Zentrum der Ostregion des Landes (AREU 6.2020). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung von Nangarhar im Zeitraum 2020/21 auf 1.701.698 Personen; davon 271.867 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken (NPS Nangarhar o.D.). Viele Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft aus Jalalabad (EASO 5.8.2020) haben Afghanistan in den letzten Jahrzehnten verlassen (Wire 5.4.2020). Nach einem Angriff auf die Sikh-Gemeinschaft in Kabul im März 2020 kündigte die verbleibend Hindu- und Sikh-Gemeinschaft von Jalalabad an, vollständig in ein anderes Land zu übersiedeln (KP 4.4.2020).
Die Straße von Kabul nach Jalalabad und weiter zum Grenzübergang Torkham mit Pakistan (Dawn 14.12.2019; vgl. MoPW 16.10.2015, Zenger 10.10.2020) ist Teil der Asiatischen Fernstraße AH-1 Tokio-Edirne (ESCAP 8.8.2019) sowie des Autobahnprojektes Peschawar-Kabul-Duschanbe (Dawn 14.12.2019) und führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara (UNOCHA Nangarhar 4.2014). In Pakistan soll die Strecke von Peschawar über den Khyber-Pass zur Grenze in Torkham zur Autobahn ausgebaut werden. Auf afghanischer Seite gibt es Stand Dezember 2019 jedoch keine Aktivitäten eines Ausbaus der Strecke Torkham-Kabul (Dawn 14.12.2019).
Der Flughafen Jalalabad wird von der NATO militärisch (USDOD 1.7.2020; vgl. BW 12.7.2020); bei Bedarf auch zivil genutzt, vor allem während der Hadsch nach Mekka (BW 12.7.2020). Das United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS), ein Flugbetreiber vorwiegend für Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, der UN und Diplomaten, fliegt Jalalabad Stand Oktober 2020 zwei Mal wöchentlich von Kabul aus an (WFP/UNHAS 27.9.2020). Linienflüge durch zivile Fluggesellschaften finden Stand 13.11.2020 nicht statt (F24 13.11.2020). Ein neuer Flughafen für die zivile Nutzung soll im Gebiet von Kozkunar errichtet werden. Baubeginn für das 40 Millionen US-Dollar teure Projekt war im Juli 2020, es soll in zwei Jahren abgeschlossen sein (BW 12.7.2020).
An der Fernstraße Kabul-Jalalabad attackieren Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte (TN 7.7.2020). Im Laufe des Jahres 2019 wurden bei Verkehrsunfällen an dieser Strecke mindestens 45 Personen getötet und ca. 100 Personen verletzt (PAJ 30.12.2019). Die Grenzabfertigung in Torkham geht langsam vor sich (Zenger 10.10.2020). An den Straßen in der Provinz heben die Taliban Steuern ein (AREU 6.2020). Die gebirgige Landschaft ermöglicht auch Aufständischen unkontrollierte Grenzüberquerungen in die ehemaligen Stammesgebiete Pakistans (VOA 28.6.2019; vgl. UNSC 27.5.2020).
Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren
Nangarhar galt als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans (RAND 14.9.2020; vgl. UNSC 1.2.2019). Die Stärke des ISKP insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen wurde 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt (UNSC 13.6.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019). Anhaltender Druck der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 2.12.2019, SIGAR 30.1.2020, UNSC 27.5.2020, taz 14.5.2020) und der Taliban (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 2.12.2019, SIGAR 30.1.2020, RAND 14.9.2020, UNSC 27.5.2020, PM 23.12.2019, taz 14.5.2020) resultierten in Niederlagen des ISKP im November 2019 in Nangarhar und im März 2020 in Kunar (VoA 12.5.2020; vgl. NYT 2.12.2019; vgl. SIGAR 30.1.2020, UNSC 27.5.2020). Der ISKP musste die Kontrolle von Gebieten in Nangarhar aufgeben (USDOD 1.7.2020; vgl. UNSC 27.5.2020), verfügt aber nach wie vor über ein operatives Netzwerk in Kabul und eine Präsenz im Osten Afghanistans (VoA 12.5.2020; vgl. taz 14.5.2020). Zahlreiche hochrangige IS-Mitglieder sind nach der militärischen Niederlage nach Pakistan geflohen (AAN 1.3.2020).
Sowohl die Taliban als auch die Regierungstruppen haben Gebietsgewinne erzielt. Die Regierung kontrolliert nun den größten Teil der Niederungen. Die Taliban wiederum dehnten ihre Kontrolle auf die abgelegenen, gebirgigen Gebiete der Provinz aus. Regierungstruppen kontrollieren fast vollständig zehn der 22 Distrikte Nangarhars (Behsud, Kama, Dara-ye Nur, Batikot, Kot, Shinwar, Dur Baba, Pachir wa Agam, Achin und Momand Dara). In acht weiteren Distrikten (Gushta, Spinghar, Lalpur, Nazyan, Rodad, Kuz Kunar, Deh Bala und Chaparhar) ist sie stärker vertreten als die Taliban. Die Taliban kontrollieren große Teile von vier Distrikten (Sherzad, Khogyani, Hesarak und Surkhrod). Die übrigen Gebiete werden von den pakistanischen Gruppen Lashkar-e Islam, Tehrik-e Taleban Pakistan und Jabhat ul-Ahrar kontrolliert. Die zivilen Verwaltungen in den Distrikten Sherzad und Hesarak haben ihren Sitz in der Provinzhauptstadt Jalalabad und die Sicherheitskräfte in diesen Distrikten verbleiben weitgehend in den Distriktzentren und den nahe gelegenen Dörfern (AAN 1.3.2020). Während die afghanischen Streitkräfte zuvor nur für kurze Zeit Gebiete vom ISKP räumen konnten, ist es nach November 2019 gelungen, diese Gebiete zu halten und die Rückkehr von ISKP-Kämpfern zu verhindern (UNSC 27.5.2020).
Al Qaida ist in Nangarhar versteckt aktiv. Auch pakistanische Aufständischengruppierungen sind in Nangarhar unter der Schirmherrschaft der Taliban präsent (UNSC 27.5.2020).
In den Distrikten Achin, Khogyani und Sherzad betreiben lokale Gemeinschaften Bürgerwehren. Sie erhalten militärische und logistische Unterstützung von der NDS und den USA und spielten eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS (AAN 1.3.2020). In Nangarhar sind militärische Spezialeinheiten, auch als counter-terrorism pursuit teams bezeichnet, aktiv. Sie werden inoffiziell v