TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/3 W254 2238266-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.05.2021
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Entscheidungsdatum

03.05.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W254 2238266-1/12E

Schriftliche Ausfertigung des am 18.02.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr.in Tatjana CARDONA über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. staatenlos, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.12.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden kurz „BF“ genannt) stellte nach illegaler Einreise am XXXX 2020 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Am selben Tag erfolgte vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung der BF, bei der sie angab, am XXXX in XXXX geboren und syrische Staatsbürgerin zu sein. Ihre Muttersprache sei Kurmanji/Bhedini (Nordkurdisch), sie sei Muslimin und und gehöre der Volksgruppe der Kurden an. Zuletzt sei sie Schülerin gewesen und habe die Grundschule und die allgemeinbildende höhere Schule besucht. Ihre Mutter und zwei Geschwister seien in Serbien aufhältig und ein Bruder sowie eine Schwester würden in Österreich leben. Zu ihrem Fluchtgrund befragt, führte sie aus, dass viele bewaffnete Leute unterwegs gewesen wären, als sie noch in Syrien gewesen sei. Es sei gefährlich gewesen und sie habe sich beim Erblicken solcher Leute immer verstecken müssen. Sie habe Angst vor einer Entführung bzw. einem Missbrauch gehabt. Es sei in Syrien nicht mehr sicher gewesen, weshalb sie ihr Land verlassen habe.

2. Am XXXX 2018 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: „BFA“ oder „belangte Behörde“) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch niederschriftlich einvernommen. Dabei gab die BF an, dass sie aus XXXX stamme, sie sei zudem ledig und sunnitische Muslimin. In Syrien habe sie noch eine Tante und einen Onkel, eine weitere Tante würde sich in Deutschland befinden. Eine syrische Staatsbürgerschaft besitze sie nicht, nur ihre Mutter habe eine bekommen. Sie legte zudem eine Teilnahmebestätigung für einen Werte- und Orientierungskurs vor.

Zu ihren Ausreisegründen befragt, brachte sie zusammengefasst vor, dass 2014 bewaffnete Gruppierungen Mädchen von der Schule entführt hätten. Im Oktober/November 2014 sei sie von dieser Gruppierung belästigt worden. Dabei sei ein PKW – in welchem sich vier Personen befunden hätten - langsam hinter ihr hergefahren, als sie von der Schule nach Hause gelaufen sei. Als sie das Autofenster aufgemacht hätten, sei die BF nach Hause gerannt. Nach diesem Vorfall habe ihre Mutter sie vor dem Verlassen des Hauses gewarnt. Schließlich sei sie, nachdem das Haus verkauft worden sei, illegal aus Syrien ausgereist. Darüber hinaus wäre die BF im Fall einer Rückkehr persönlich bedroht, da ihr Bruder den Militärdienst nicht abgeleistet habe. Da jemand anderer aus der Familie zum Militär (Regierungsseite) gehen müsse, könne es insofern auch sie treffen.

3. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde der BF der Status einer subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 11.12.2021 erteilt (Spruchpunkt III.).

Nach Wiedergabe des Verfahrensgangs wurde begründend ausgeführt, dass feststehe, dass die BF keine Verfolgung durch den syrischen Staat zu befürchten habe. Fest stehe auch, dass sie keinerlei Bedrohung bzw. Verfolgung in Syrien ausgesetzt sei. Es sei ihr nicht möglich gewesen, eine persönliche Bedrohung bzw. Verfolgung aus ihrem Heimatland glaubhaft darzulegen. Sie habe ihr Heimatland aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage verlassen.

4. Gegen den Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides richtet sich die im Wege ihrer Rechtsvertretung erhobene Beschwerde, welche fristgerecht bei der belangten Behörde am 28.12.2020 einlangte. Darin wird zusammengefasst vorgebracht, dass die Anwesenheit eines männlichen Dolmetschers in der Einvernahme einen Verfahrensmangel darstelle, da ihr Vorbringen bezüglich dem sie verfolgenden Auto, in dem sich schwarz maskierte Personen befunden hätten, auf sexuelle Gewalt hindeute. Insofern habe sie sich nicht getraut, über die Unterdrückung der Frauen zu sprechen und was ihr in Syrien alles widerfahren sei. Bezüglich der Volksgruppenzugehörigkeit zu den Kurden der BF habe das BFA keine ausreichenden Ermittlungen durchgeführt. Zudem befürchte die BF Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Milizen. Sie habe auch vorgebracht, dass ihr Bruder – welcher in Österreich Asyl erhalten habe - von der Regierung gesucht würde, weil er seinen Militärdienst nicht abgeleistet habe. Für Rückkehrer bestehe das Risiko, inhaftiert zu werden, wenn Familienmitglieder von den Behörden gesucht werden. Das syrische Regime schreibe diesen Personen auch die oppositionellen Ansichten ihrer Familienangehörigen zu. Ebenso würde die Stellung eines Asylantrages in Österreich als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung angesehen. Dazu komme die Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen in Syrien allgemein.

5. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugnehmende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 04.01.2021 von der belangten Behörde vorgelegt.

6. In einer Stellungnahme vom 16.02.2021 führte die BF aus, dass ihr einerseits als junge unverheiratete Frau ohne echte familiäre Unterstützung auch in ihrer Heimatprovinz die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung drohe sowie die Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Milizen sehr hoch sei. Ebenso laufe sie Gefahr, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe bzw. „Nationalität“ als staatenlose Kurdin, Diskriminierungen welche die Schwelle asylrelevanter Verfolgung erreichen würden, ausgesetzt zu sein. Zudem könne nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Reflexverfolgung betreffend ihren Bruder ausgeschlossen werden. Auch würde der BF selbst eine oppositionelle Gesinnung wegen ihrer Herkunft aus einem Rebellengebiet, ihrer illegalen Ausreise und Asylantragstellung im Ausland unterstellt werden. Des Weiteren wurde auf diverse Länderberichte und Judikatur verwiesen.

7. Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde durch die erkennende Richterin am XXXX 2021 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch und im Beisein der Rechtsvertretung der BF eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt. Ein Vertreter der belangten Behörde ist nicht erschienen.

In der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde die BF ausführlich zu ihren Fluchtgründen, ihrer Identität, ihrer Herkunft und den persönlichen Lebensumständen befragt. Zudem legte die erkennende Richterin das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien mit Stand Dezember 2020 (Beilage I.) als Feststellungen zur Situation in Syrien der Entscheidung zugrunde. Des Weiteren wurden die UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 5. Fassung, November 2017 (Beilage II.), der BF genannt, deren Inhalt erörtert und der BF zur Stellungnahme vorgehalten sowie zum Akt genommen. Die Beschwerdeführervertreterin verwies auf die bereits eingebrachte Stellungnahme (siehe Pkt.6) und erläuterte, dass bei der BF eine Kumulation an asylrelevanten Gründen vorliegen würde. Es handle sich um eine junge, unverheiratete Frau, deren Bruder sich dem Wehrdienst entzogen habe und die illegal aus Syrien ausgereist sei. Bei einer Rückkehr drohe ihr zudem eine Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Milizen.

8. Nach Schluss der Verhandlung wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis die Beschwerde als unbegründet abgewiesen und die ordentliche Revision nicht zugelassen. Mit rechtzeitig eingelangtem Schriftsatz vom 23.02.2021 wurde seitens der BF die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens folgende Beweismittel der Beurteilung zugrunde gelegt:

-        der Akt der Behörde, insbesondere darin die Erstbefragung vor der Polizei, die niederschriftliche Einvernahme vor der belangten Behörde, der Bescheid und die dagegen erhobene Beschwerde,

-        die Länderinformation, auf welche in der mündlichen Verhandlung hingewiesen wurde, welche im Verfahrensgang beschrieben ist,

-        der Inhalt der mündlichen Verhandlung am XXXX 2021,

-        sämtliche vorgelegte Beweismittel,

-        Einsichten in den Datenbanken (Zentrales Melderegister, Grundversorgungs-Informationssystem, Strafregisterauskunft etc.).

1.1.    Zur Person und zu den Fluchtgründen der BF:

Die BF trägt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren.

Die BF ist staatenlos und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Sie bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Die BF hat eine elfjährige Schulausbildung, keine Berufsausbildung, ist ledig und hat keine Kinder.

Die BF stammt aus der Stadt XXXX , die weitestgehend unter Kontrolle der Kurden steht. Einzelne Stadtgebiete sowie der Flughafen stehen unter Kontrolle des syrischen Regimes.

Die BF ist im Jahr 2015 illegal aus Syrien ausgereist und stellte am XXXX 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die BF lebt in Österreich als subsidiär Schutzberechtigte und ist strafrechtlich unbescholten.

Der Onkel und die Tante der BF leben nach wie vor in Syrien. Die BF wäre bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht als alleinstehende Frau anzusehen.

Die BF war in Syrien weder Rekrutierungs- noch Entführungsversuchen von Seiten des syrischen Militärs ausgesetzt.

Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der BF bei einer Rückkehr eine Zwangsrekrutierung durch die YPG droht.

Der BF droht aufgrund ihrer illegalen Ausreise keine Verfolgung im Sinne der GFK.

Die BF läuft bei einer Rückkehr nach Syrien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, aufgrund einer Wehrdienstverweigerung ihres Familienmitglieds relevanten Repressalien ausgesetzt zu sein. Es droht der BF im Herkunftsstaat aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie keine Verfolgung im Sinne der GFK.

Der BF droht in Syrien keine Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe oder ihrer Staatenlosigkeit.

Es kann somit nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.

1.2 Zur maßgeblichen Situation in Syrien (nachfolgend Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, mit Stand Dezember 2020):

Politische Lage

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC 25.2.2019). Seit der Machtergreifung Assads haben weder Vater noch Sohn eine politische Opposition geduldet. Jegliche Versuche eine politische Alternative zu schaffen wurden sofort unterbunden, auch mit Gewalt (USCIRF 26.4.2017).

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weit verbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).

Es gibt jedoch weiterhin Landesteile, in denen das syrische Regime effektiv keine Kontrolle ausübt, wenngleich auch dies einer gewissen Dynamik unterworfen ist: Der Nordwesten wird teilweise durch bewaffnete Gruppen, teilweise durch das Regime kontrolliert. Gebiete im Norden und Nordosten werden durch die Türkei und mit ihr verbündete bewaffnete Gruppen sowie – außerhalb des türkischen Einflussbereiches – durch die Syrian Democratic Forces (SDF) sowie seit Mitte Oktober teilweise durch das syrische Regime kontrolliert (AA 20.11.2019).

Die syrische Verfassung sieht die Ba’ath-Partei als die regierende Partei vor und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat (USDOS 11.3.2020). Die Verfassungsreform von 2012 lockerte die Regelungen bezüglich der politischen Partizipation anderer Parteien. In der Praxis unterhält die Regierung jedoch noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat zur Überwachung von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten der Regierung Assads entwickeln könnten (FH 1.2018).

Wahlen in Syrien dienen nicht dazu, Entscheidungsträger zu finden, sondern dem Staat den Anschein eines demokratischen Verfahrens zu geben, Normalität zu demonstrieren und die Fassade von demokratischen Prozessen aufrechtzuerhalten (BS 29.4.2020).

2014 wurden Präsidentschaftswahlen abgehalten, welche zur Wiederwahl von Präsident Assad führten (USDOS 11.3.2020), wodurch dieser für weitere 7 Jahre im Amt bestätigt wurde (WKO 11.2018). Die Präsidentschaftswahl wurde nur in den von der Regierung kontrollierten Gebieten abgehalten. Sie wurde von der EU und den USA als undemokratisch kritisiert, die syrische Opposition sprach von einer „Farce“ (Ha’aretz 4.6.2014).

Mitte September 2018 wurden in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zum ersten Mal seit 2011 wieder Kommunalwahlen abgehalten (IFK 10.2018; vgl. WKO 11.2018). Der Sieg von Assads Ba´ath Partei galt als wenig überraschend. Geflohene und Binnenvertriebene waren von der Wahl ausgeschlossen (WKO 11.2018).

Im Juli 2020 fanden nach zweimaligem Verschieben des Wahltermins aufgrund der COVID- 19-Pandemie die dritten Parlamentswahlen seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs statt. Die herrschende Ba’ath-Partei von Präsident Bashar al-Assad gewann wie erwartet die Mehrheit. Die Ba’ath-Partei und deren Verbündete schlossen sich zum Bündnis der „Nationalen Einheit“ zusammen (DS 21.7.2020) und gewannen zumindest 177 der 250 Sitze (TWP 22.7.2020; vgl. AJ 22.7.2020), laut einer anderen Quelle 183 von 250 Sitzen (DS 21.7.2020). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords und Schmuggler, die das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (TWP 22.7.2020). Der Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist. Syrische Bürger können überall wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in Wahllokalen, somit gibt es keinen Mechanismus, um zu überprüfen, ob Personen an verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Jede Partei oder jeder Kandidat, der kandidieren möchte, muss die Namen seiner Mitglieder nach denen der Ba’ath-Partei auflisten, so dass jeder, der kandidiert, automatisch die Namen der Ba’ath- Mitglieder in den Vordergrund rückt. Druckereien dürfen auf Anordnung des Geheimdienstes keine Listen ohne die Namen der Ba’ath-Kandidaten drucken. Daher ist jeder, der kandidiert, standardmäßig nur ein Zusatz zu den Ba’ath-Kandidaten (AAN/MEI 24.7.2020).

In den vergangenen Jahren hat das syrische Regime mit militärischer Unterstützung Russlands und Irans die Kontrolle über große Teile des Landes zurückerlangt (AA 20.11.2019; vgl. AJ 22.7.2020). Das Assad-Regime hat wiederholt öffentlich erklärt, dass die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes weiterhin sein erklärtes Ziel sei. Trotz der großen Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, jedoch weiter fort. Dies gilt insbesondere für den Nordwesten und Nordosten des Landes (AA 20.11.2019). Die Präsenz ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Akteure vor Ort zu kontrollieren. Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach legitimen Positionen zu streben (BS 29.4.2020).

Durch die Eskalation des Syrien-Konfliktes verlagerte sich die Macht zu regieren in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zunehmend auf die Sicherheitskräfte. In Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung ist dies nicht anders. Extremistische Rebellengruppierungen, darunter vor allem Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), haben die Vorherrschaft in Idlib. Lokalräte werden von militärischen Einheiten beherrscht, die momentan unter der Kontrolle von HTS stehen. In den kurdischen Gebieten in Nordsyrien dominiert die Partei der Demokratischen Union (PYD). Obwohl es Lippenbekenntnisse zur Integration arabischer Vertreter in Raqqa und Deir ez-Zour gibt, ist die Dominanz der PYD bei der Entscheidungsfindung offensichtlich. Die PYD hat zwar eine Reihe von Verwaltungsorganen auf verschiedenen Ebenen eingerichtet, es ist jedoch ein kompliziertes System mit sich überschneidenden Zuständigkeiten, das es für die Bürger schwierig macht, sich an der Politik zu beteiligen, wenn sie nicht bereits in die Parteikader integriert sind (BS 29.4.2020). Die PYD [ihrerseits nicht von EU oder USA verboten, Anm.] gilt als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) (KAS 4.12.2018a).

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen Regierung und der PKK, deren Mitglieder die PYD gründeten, gekommen sein. Die PYD, ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen, Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrisch-kurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine „zweite Front“ in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba’ath-Regime Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, Ain al-Arab (Kobane) und die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg 8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen „Rojava“ bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018; vgl. KAS 4.12.2018a). Afrin im Nordwesten Syriens wird von der Türkei und alliierten syrischen oppositionellen Milizen kontrolliert (BBC 28.4.2020).

Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das nicht von islamistischen, sondern von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit, Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrisch-kurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 4.12.2018a). Das Ziel der PYD ist nicht die Gründung eines kurdischen Staates in Syrien, sondern die Autonomie der kurdischen Kantone als Bestandteil eines neuen, demokratischen und dezentralen Syriens (KAS 4.12.2018a; vgl. BS 29.4.2020). Die PYD hat sich in den kurdisch kontrollierten Gebieten als die mächtigste politische Partei im sogenannten Kurdischen Nationalrat etabliert, ähnlich der hegemonialen Rolle der Ba’ath-Partei in der Nationalen Front (BS 2018). Ihr militärischer Arm, die YPG sind zudem die dominierende Kraft innerhalb des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte zahlreiche Opfer und löste eine Flüchtlingswelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen (KAS 4.12.2018a).

Die syrische Regierung erkennt die kurdische Enklave oder Wahlen, die in diesem Gebiet durchgeführt werden, nicht an (USDOS 11.3.2020). Im Zuge einer türkischen Militäroffensive, die im Oktober 2019 gestartet wurde, kam es jedoch zu einer Einigung zwischen beiden Seiten, da die kurdischen Sicherheitskräfte die syrische Zentralregierung um Unterstützung in der Verteidigung der kurdisch kontrollierten Gebiete baten. Die syrische Regierung ist daraufhin in mehrere Grenzstädte eingerückt (DS 15.10.2019).

Sicherheitslage

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018b). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die syrische Regierung ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der „wichtigsten“ Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.4.2016). Das Regime hat mit russischer und iranischer Unterstützung mittlerweile alle Landesteile außer dem Nordwesten und Nordosten

von der bewaffneten Opposition zurückerobert (AA 20.11.2019).

Trotz weitreichender militärischer Erfolge des syrischen Regimes und seiner Unterstützer sind Teile Syriens noch immer von Kampfhandlungen betroffen, allen voran die Provinz Idlib. Die sogenannte De-Eskalationszone Idlib ist als letztes Gebiet unter Kontrolle der bewaffneten Opposition seit Mai 2019 wiederholt Ziel von Angriffen der syrischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten. Im Dezember 2019 intensivierten das Regime und seine Unterstützer die Militäroffensive deutlich. Im Norden/Nordwesten und im Nordosten des Landes kommt es weiterhin vereinzelt zu Kampfhandlungen und Anschlägen. Das Assad-Regime hat wiederholt öffentlich erklärt, dass die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes weiterhin sein erklärtes Ziel sei. Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden. Dies gilt auch für vermeintlich friedlichere Landesteile im äußersten Westen Syriens sowie die Hauptstadt Damaskus (AA 19.5.2020).

43% der besiedelten Gebiete Syriens gelten als mit Minen und Fundmunition kontaminiert. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zour sowie zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen (AA 20.11.2019). Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen mit derartigen Hinterlassenschaften des bewaffneten Konfliktes (DIS/DRC 2.2019). An Orten wie den Provinzen Aleppo, Dara’a, dem Umland von Damaskus, Idlib, Raqqa und Deir ez-Zour führt die Explosionsgefahr zu Verletzungen und Todesfällen, sie schränkt den sicheren Zugang zu Dienstleistungen ein und behindert die Bereitstellung humanitärer Hilfe. Mit Stand Juni 2020 leben 11,5 Millionen Menschen in den 2.562 Gemeinden, die in den letzten zwei Jahren von einer Kontamination durch Minen und explosive Hinterlassenschaften des Konflikts berichtet haben (UNMAS 6.2020).

Der sogenannte Islamische Staat (IS) kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen Syrian Democratic Forces (SDF) erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem U.S.-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich in den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZ 24.3.2019), und ist im Untergrund aktiv (AA 19.5.2020). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a. Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Schläferzellen des IS sind sowohl im Irak als auch in Syrien weiterhin aktiv (FAZ 10.3.2019), sowohl in syrischen Städten als auch in ländlichen Gebieten, besonders in den von der Regierung kontrollierten Gebieten (DIS 29.6.2020). Im Untergrund sollen mehr als 20.000 IS-Kämpfer auf eine Gelegenheit zur Rückkehr warten (FAZ 22.3.2019). Die Anzahl der durch den IS verübten Anschläge hat sich Berichten zufolge im Jahr 2019 gegenüber dem Jahr 2018 verdoppelt. Der Schwerpunkt der Anschläge lag zuerst in Nordost-Syrien, später auch in Regimegebieten im Süden/Südwesten des Landes (AA 19.5.2020). Nach einer Zunahme der IS-Aktivitäten Anfang 2020 ist die Zahl der Angriffe durch den IS seit April 2020 zurückgegangen. Gegenwärtig gehören zu den Zielpersonen des IS vor allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020).

Nachdem US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 erneut ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9. Oktober 2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens („Operation Friedensquelle“) (CNN 11.10.2019; vgl. AA 19.5.2020). Durch den Abzug der US-Streitkräfte aus Nordsyrien und die türkische Offensive und die damit einhergehende Schwächung der kurdischen Sicherheitskräfte wurde ein Wiedererstarken des IS befürchtet (DS 13.10.2019; vgl. DS 17.10.2019). Die USA patrouillieren seit dem 31. Oktober 2019 weiterhin in weiten Teilen des Nordostens (AA 19.5.2020).

Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer zu erfassen, für die einzelnen Monate des Jahres 2019 finden sich deren Daten in der unten befindlichen Grafik. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche Zivilisten und Kämpfer berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von „Massakern“, bei denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert,

abhängig (SNHR 1.1.2020).

[…]

Laut Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) wurden im ersten Quartal 2020 insgesamt 3.064 Todesopfer gezählt. Die meisten wurden durch Kämpfe (1.699) oder Explosionen/ Fernangriffe (1.109) getötet, vor allem in den Provinzen Idlib (1399) und Aleppo (692). Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen. Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu verwenden (ACLED/ACCORD 23.6.2020).

Versöhnungsabkommen

Die sogenannten Versöhnungsabkommen sind Vereinbarungen, die ein Gebiet, das zuvor unter der Kontrolle einer oppositionellen Gruppierung stand, offiziell wieder unter die Kontrolle des Regimes bringen (STDOK 8.2017). Der Abschluss der sogenannten „Reconciliation Agreements“ folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat (ÖB 29.9.2020). Die Regierung bietet, meist nach schwerem Beschuss oder Belagerung, ein Versöhnungsabkommen an, das an verschiedene Bedingungen geknüpft ist (STDOK 8.2017; vgl. ÖB 29.9.2020). Diese Bedingungen unterscheiden sich von Abkommen zu Abkommen (STDOK 8.2017). Sie beinhalteten oft die Evakuierung von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden. Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB 29.9.2020). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden, oder dass sich Personen verpflichten müssen, der Regierung z.B. für Spionage zur Verfügung zu stehen (STDOK 8.2017).

Im Rahmen von Versöhnungsvereinbarungen gemachte Garantien der Regierung gegenüber Individuen oder Gemeinschaften werden jedoch nicht eingehalten (EIP 6.2019; vgl. AA 20.11.2019, FIS 14.12.2018). In zuvor jahrelang von der bewaffneten Opposition kontrollierten Gebieten berichten syrische Menschenrechtsorganisationen weiterhin von einer Zunahme willkürlicher Befragungen und Verhaftungen durch das syrische Regime. Zuletzt wurde nach Ablauf einer in den sog. Versöhnungsabkommen ausgehandelten einjährigen Frist auch aus den ehemaligen Oppositionshochburgen Ost-Ghouta sowie Dara‘a und Quneitra im Süden Syriens ein erneuter Anstieg von Verhaftungen als oppositionell geltender Personen oder humanitärer Helfer sowie Zwangsrekrutierungen berichtet (AA 20.11.2019). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien zurückhaltend, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020).

Türkische Militäroperationen in Nordsyrien

Seit August 2016 ist die Türkei im Rahmen der Operation „Euphrates Shield“ in Syrien aktiv. Die Operation zielte auf zum damaligen Zeitpunkt vom sogenannten Islamischen Staat (IS) gehaltene Gebiete, sollte jedoch auch dazu dienen, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) davon abzuhalten, ein autonomes Gebiet entlang der syrisch-türkischen Grenze zu errichten. Die Türkei sieht die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und die YPG als Bedrohung der türkischen Sicherheit (CRS 2.1.2019).

Im März 2018 nahmen Einheiten der türkischen Armee und der mit ihnen verbündeten Freien Syrischen Armee (FSA) im Rahmen der Operation „Olive Branch“ die zuvor kurdisch kontrollierte Stadt Afrin ein (Bellingcat 1.3.2019). Bis März 2018 hatte die türkische Offensive Berichten zufolge den Tod Dutzender Zivilisten und laut den Vereinten Nationen (UN) die Vertreibung Zehntausender zur Folge. Von der Türkei unterstützte bewaffnete Gruppierungen, die mit der FSA in Zusammenhang stehen, beschlagnahmten, zerstörten und plünderten das Eigentum kurdischer Zivilisten in Afrin (HRW 17.1.2019). Seit der Offensive regiert in Afrin ein Mosaik von türkisch-unterstützten zivilen Institutionen und unterschiedlichsten Rebelleneinheiten, die anfällig für innere Machtkämpfe sind (Bellingcat 1.3.2019). Die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der UN warnte, dass die Menschenrechtssituation in Orten wie Afrin, Ra’s al-’Ain und Tel Abyad düster, und Gewalt und Kriminalität weit verbreitet seien (UN News 18.9.2020).

Nachdem US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion abzuziehen, startete die Türkei am 9.10.2019 eine Luft- und Bodenoffensive im Nordosten Syriens. Im Zuge dessen riefen die kurdischen Behörden eine Generalmobilisierung aus. Einerseits wollte die Türkei mit Hilfe der Offensive die YPG und die von der YPG geführten Syrian Democratic Forces (SDF) aus der Grenzregion zur Türkei vertreiben, andererseits war das Ziel der Offensive einen Gebietsstreifen entlang der Grenze auf syrischer Seite zu kontrollieren, in dem rund zwei der ungefähr 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, angesiedelt werden sollen (CNN 11.10.2019). Der UN zufolge wurden ebenfalls innerhalb einer Woche bis zu 160.000 Menschen durch die Offensive vertrieben und es kam zu vielen zivilen Todesopfern (UN News 14.10.2019). Es gab Befürchtungen, dass es aufgrund der Offensive zu einem Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staates (IS) kommt (TWP 15.10.2019). Medienberichten zufolge seien in dem Gefangenenlager ’Ain Issa 785 ausländische IS-Sympathisanten auf das Wachpersonal losgegangen und geflohen (DS 13.10.2019). Nach dem Beginn der Operation kam es außerdem zu einem Angriff durch IS-Schläferzellen auf die Stadt Raqqa. Die geplante Eroberung des Hauptquartiers der syrisch-kurdischen Sicherheitskräfte gelang den Islamisten jedoch nicht (DZ 10.10.2019).

Die syrische Armee von Präsident Bashar al-Assad ist nach einer Einigung mit den SDF am 14.10.2019 in mehrere Grenzstädte eingerückt, um sich der „türkischen Aggression“ entgegenzustellen, wie Staatsmedien berichten (DS 15.10.2019). Laut der Vereinbarung übernehmen die Einheiten der syrischen Regierung in einigen Grenzstädten die Sicherheitsfunktionen, die Administration soll aber weiterhin in kurdischer Hand sein (TWP 15.10.2019). Das Regime istjedenfalls in allen größeren Städten im Nordosten präsent (AA 19.5.2020).

Nach Vereinbarungen zwischen der Türkei, den USA und Russland richtete die Türkei eine „Sicherheitszone“ in dem Gebiet zwischen Tal Abyad und Ra’s al-’Ain ein (SWP 1.1.2020; vgl. AA 19.5.2020), die 120 Kilometer lang und bis zu 14 Kilometer breit ist (AA 19.5.2020).

Auch seit Ende der türkischen Militäroperation „Peace Spring“ im Oktober 2019 kommt es weiterhin vereinzelt zu Kampfhandlungen und Anschlägen (AA 19.5.2020). Im August 2020 wurde im Nordosten Syriens eine steigende Zahl von Übergriffen nichtstaatlicher bewaffneter Gruppen, syrischer Regierungskräfte und der SDF im Süden der Kontaktlinie des Gebiets zwischen Tal Abyad und Ra’s al-’Ain gemeldet. Sowohl die SDF als auch die pro-Regime-Kräfte erlebten einen Anstieg der Zahl der Angriffe des IS. Haftanstalten, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden, berichten von zunehmenden Unruhen mit immer wiederkehrenden Aufständen und versuchten Ausbrüchen (UN SC 20.8.2020).

Allgemeine Menschenrechtslage

In dem seit mehr als neun Jahren andauernden Bürgerkrieg gab es nach Schätzungen bereits rund eine halbe Million Tote (Welt 30.6.2020; vgl. BBC 12.7.2020). Das Regime wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich in der Abwesenheit freier und fairer Wahlen sowie in den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit. Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).

Es gibt krasse Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung zwischen Staat und Wirtschaftseliten und einen geschlossenen Kreis wirtschaftlicher Möglichkeiten. Die Bürger werden ungleich behandelt. Ihnen werden aufgrund konfessioneller Zugehörigkeit, des Herkunftsortes, ethnischer Zugehörigkeit und des familiären Hintergrundes grundlegende staatsbürgerliche Rechte vorenthalten bzw. Privilegien gewährt oder verweigert. Grundlegende Aspekte der Staatsbürgerschaft werden großen Teilen der Bevölkerung verwehrt. Diese ungerechte Behandlung hat sich im Laufe der Konfliktjahre vertieft (BS 29.4.2020).

Die Verfassung bestimmt die Ba’ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Ein Dekret von 2011 erlaubt die Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion, Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung erlaubt nur regierungsnahen Gruppen offizielle Parteien zu gründen und zeigt wenig Toleranz gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba’ath-Partei in der National Progressive Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement, die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Gesetze, welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet um Hunderte Mitglieder von Menschenrechts- und Studentenorganisationen zu verhaften. Es gibt auch zahlreiche Berichte zu anderen Formen der Drangsalierung von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen oder Personen, die als oppositionell wahrgenommen werden. Diese reichen von Reiseverboten, Enteignung und Überwachung bis hin zu willkürlichen Festnahmen, Verschwindenlassen und Folter (USDOS 11.3.2020).

Laut Human Rights Watch bekräftigen die Ereignisse im Jahr 2019 die Schlussfolgerung, dass die Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen, die für den Konflikt charakteristisch sind, weiterhin die Regel und nicht die Ausnahme sind (HRW 14.1.2020; vgl. AA 19.5.2020). Jedoch hat die Intensität dieser Übergriffe im Vergleich zu den Vorjahren aufgrund des Endes der aktiven Kampfhandlungen in den meisten Regionen des Landes 2019 abgenommen (SHRC 7.1.2020).

Weiterhin besteht in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile, insbesondere im äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (AA 19.5.2020).

In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (HRW 14.1.2020; vgl. SHRC 24.1.2019). Diejenigen, die sich mit der Regierung „versöhnt“ haben, werden weiterhin durch die Regierungstruppen misshandelt. Auch nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen begehen schwere Übergriffe. Das Schicksal von Tausenden, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) entführt wurden, bleibt unbekannt. Auch die kurdischen Behörden, die von den USA geführte Koalition oder die syrische Regierung unternehmen keine Schritte, deren Verbleib zu ermitteln. Trotz der internationalen Aufmerksamkeit, einschließlich durch den Sondergesandten und den Sicherheitsrat, die den Inhaftierten und Verschwundenen im Machtbereich der syrischen Regierung zuteil wird, wurden kaum Fortschritte erzielt (HRW 14.1.2020; vgl. SHRC 7.1.2020).

Es sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für als regierungsfeindlich angesehene Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert werden, darunter sollen auch Fälle sein, bei denen die gesuchten Personen ins Ausland geflüchtet sind (AA 20.11.2019; vgl. AA 19.5.2020). Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019). Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019; vgl. UNHCR 7.5.2020).

Tausende Menschen starben seit 2011 im Gewahrsam der syrischen Regierung an Folter und entsetzlichen Haftbedingungen (HRW 14.1.2020). Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten beschuldigt werden, sind willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen; Massaker und Vergewaltigungen als Kriegstaktik; Einsatz von Kindersoldaten sowie übermäßige Einschränkungen der Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, inklusive Zensur. Die Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internet- und Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke ein (USDOS 11.3.2020).

Orte, die im Laufe der vergangenen Jahre wieder unter die Kontrolle der Regierung gelangt sind, erlebten organisierte und systematische Plünderungen durch die bewaffneten Einheiten der Regierung (SHRC 24.1.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft zögerlich dabei, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020). Zwangsdeportationen von Hunderttausenden Bürgern haben ganze Städte und Dörfer entvölkert (BS 29.4.2020).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS), sind für weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen, wie Massaker, Beschuss, Entführung, unrechtmäßige Inhaftierung, extremen körperlichen Missbrauch, Tötung und Zwangsvertreibung auf Basis der Konfession Betroffener, verantwortlich (USDOS 11.3.2020). Sexuelle Versklavung und Zwangsverheiratung sind zentrale Elemente der Ideologie des sogenannten IS. Mädchen und Frauen wurden zur Heirat mit Kämpfern gezwungen. Frauen und Mädchen, die Minderheiten angehören, wurden sexuell versklavt, zwangsverheiratet und anderen Formen sexueller Gewalt ausgesetzt (USDOS 20.6.2019).

Elemente der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer Koalition aus syrischen Kurden,

Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen an Korruption, rechtswidriger Einschränkung des Personenverkehrs und willkürlicher Verhaftung von Zivilisten sowie an Angriffen beteiligt gewesen sein, die zu zivilen Opfern führten. Es gibt vereinzelte Berichte über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien und Personen, die sich weigerten mit den kurdischen Gruppen zu kooperieren (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 10.9.2018). Familienmitglieder von gesuchten Aktivisten, darunter auch Verwandte von Mitgliedern des IS, sollen von den SDF in den von ihnen kontrollierten Gebieten gefangen genommen worden sein, um Informationen zu erhalten oder um Druck auszuüben (USDOS 13.3.2019).

Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich insgesamt erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer bis jihadistischer Gruppen befinden (AA 20.11.2019).

Ein Charakteristikum des Bürgerkriegs in Syrien ist, dass in ganz Syrien bestimmte Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen politischen Meinung oder Zugehörigkeit direkt angegriffen werden oder ihnen auf andere Weise Schaden zugefügt wird. Diese Zuschreibung basiert oft nur auf den familiären Verbindungen der Person, ihrem religiösen oder ethnischen Hintergrund oder einfach auf ihrer Präsenz in oder Herkunft aus einem bestimmten Gebiet, das als „regierungsfreundlich“ oder „regierungsfeindlich“ gilt (UNHCR 11.2015).

Ethnische und religiöse Minderheiten

[…]

Kurden

Im Jahr 2011, kurz vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs, lebten in Syrien zwischen zwei und drei Millionen Kurden. Damit stellten sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Die Lebensumstände waren für die Kurden in Syrien lange Zeit noch kritischer als in der Türkei und im Iran. Ein Grund dafür war die brutale Repression aller oppositionellen Bestrebungen durch das Regime. Das Ergebnis waren sehr weitgehende Diskriminierungen. Im Nachgang einer Volkszählung im Jahr 1962 wurde rund 120.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt [Anm. Yeziden waren ebenso betroffen]. Sie und ihre Nachfahren galten den syrischen Behörden seither als geduldete Staatenlose. Die Zahl dieser Ausgebürgerten, die wiederum in registrierte (ajanib) und unregistrierte (maktumin) Staatenlose unterteilt wurden, dürfte 2011 bei über 300.000 gelegen haben (SWP 4.1.2019). Im Jahr 2011 verfügte Präsident Assad, dass staatenlose Kurden in Hassakah, die als „Ausländer“ registriert waren, die Staatsbürgerschaft beantragen können. Es ist jedoch unklar, wie viele Kurden von dem Dekret profitierten. Laut UNHCR konnten etwa 40.000 dieser Kurden nach wie vor nicht die Staatsbürgerschaft erhalten. Ebenso erstreckte sich der Erlass nicht auf die etwa 160.000 „nicht registrierten“ staatenlosen Kurden (USDOS 11.3.2020). Es gibt einige weitere Hindernisse für staatenlose Kurden, die die Staatsbürgerschaft erwerben wollen (DNIDC 16.1.2019).

Die kurdische Bevölkerung (mit oder ohne syrische Staatsbürgerschaft) sieht sich offizieller und gesellschaftlicher Diskriminierung, Repressionen sowie vom Regime gestützter Gewalt ausgesetzt. Das Regime schränkt den Gebrauch und den Unterricht der kurdischen Sprache weiterhin ein. Es beschränkt auch die Veröffentlichung von Büchern und anderen Materialien in kurdischer Sprache, kulturelle Ausdrucksformen und manchmal auch die Feier kurdischer Feste. Einheiten des Regimes und mit ihm verbündete Kräfte sowie der sogenannte IS und bewaffnete Oppositionskräfte, wie die von der Türkei unterstützte Freie Syrische Armee, haben während des Jahres 2019 zahlreiche kurdische Aktivisten und Einzelpersonen sowie Mitglieder der Syrian Democratic Forces (SDF) verhaftet, festgehalten, gefoltert, getötet und anderweitig missbraucht (USDOS 11.3.2020).

Die fehlende Präsenz der syrischen Regierung in den kurdischen Gebieten in den Anfangsjahren des Konfliktes verlieh den Kurden mehr Freiheiten, wodurch zum Beispiel die kurdische Sprache an Schulen unterrichtet werden konnte. Die syrische Regierung erkennt die Legitimität der föderalen kurdischen Gebiete jedoch nicht an (MRG 3.2018).

Anm.: Weiteres siehe Kapitel „Politische Lage“

Relevante Bevölkerungsgruppen: Frauen

Allgemeine Informationen

Frauen in Syrien haben eine relativ lange Historie der Emanzipation. Vor dem Konflikt war Syrien eines der vergleichsweise fortschrittlicheren Länder der Arabischen Welt in Bezug auf Frauenrechte (STDOK 8.2017). Dennoch werden Frauen – teilweise aufgrund der Interpretationen der religiösen Gesetze – von verschiedenen Teilen des Familien- und Strafrechts und der Gesetze zu Personenstand, Arbeit, Erbschaft, Pensionierung, sozialer Sicherheit und Staatsbürgerschaft diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Syrische Frauen übernehmen zunehmend Aufgaben, die über ihre traditionellen Rollen hinausgehen, während die vorherrschenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und die damit einhergehenden geschlechtsspezifischen Benachteiligungen ihre grundlegenden Menschenrechte weiterhin untergraben (UNHRC 15.8.2019).

Das syrische Familienbild und die Rolle der Frau sind tief in sozialen, religiösen und lokalen patriarchalischen Traditionen verwurzelt (ÖB 29.9.2020). Durch den anhaltenden Konflikt und die damit einhergehende Instabilität sowie sich verschlechternde wirtschaftliche Situation hat sich die Situation der Frauen zunehmend erschwert (ÖB 29.9.2020; vgl. SNHR 25.11.2019).

Da Frauen immer wieder Opfer unterschiedlicher Gewalthandlungen der verschiedenen Konfliktparteien werden, zögern Familien, Frauen und Mädchen das Verlassen des Hauses zu erlauben (STDOK 8.2017; vgl. UNFPA 10.3.2019). Sie nehmen diese aus der Schule, was zur Minderung der Rolle von Frauen und zu ihrer Isolation in der Gesellschaft führt (STDOK 8.2017). Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit aus Angst vor sexueller Gewalt kann auch selbstauferlegt sein (UNFPA 10.3.2019). Vor dem Konflikt nahmen 13% der Frauen am Arbeitsmarkt teil, verglichen mit 73% der Männer. Aufgrund von Unsicherheit und Gewalt können weiterhin Millionen nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen. Zuletzt ist in einigen Gebieten, wie in Damaskus, Raqqa und Dara‘a, die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt wieder gestiegen, da viele Männer ihre Familien derzeit nicht unterstützen können (USDOS 11.3.2020).

Außerhalb der Gebiete, die unter der Kontrolle des Regimes stehen, unterscheiden sich die Bedingungen für Frauen sehr stark voneinander. Sie reichen von sexueller Versklavung und erdrückenden Kleidungsvorschriften in Gebieten unter Kontrolle von Extremisten, bis hin zu formaler Gleichberechtigung in den Gebieten unter Kontrolle der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), wo Regierungssitze immer von einer Frau und einem Mann besetzt sind (FH 1.2018; vgl. EASO 2.2020).

Extremistische Gruppierungen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) oder Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) setzen Frauen in den von ihnen kontrollierten Gebieten diskriminierenden Beschränkungen aus. Solche Beschränkungen sind z.B. strikte Kleidervorschriften, Einschränkungen bei der Teilnahme am öffentlichen Leben, bei der Bewegungsfreiheit und beim Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt (USDOS 11.3.2020, MRG 5.2018b). Generell wird die Lage junger unverheirateter Frauen in Syrien allgemein, im Speziellen jedoch in den von radikal-islamistischen Gruppierungen kontrollierten Gebieten, als prekär bezeichnet (STDOK 8.2017).

Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Ehrenverbrechen

Mit keiner oder nur schwacher Rechtsdurchsetzung und begrenztem effektivem Schutz in diesem Bereich haben alle Arten von Gewalt gegen Frauen an Verbreitung und Intensität zugenommen, darunter Versklavung, Zwangsheirat mit Vertretern bewaffneter Gruppen, häusliche Gewalt und Vergewaltigung (WB 6.2.2019). Vergewaltigungen sind weit verbreitet, auch die Regierung und deren Verbündete setzten Vergewaltigung gegen Frauen, aber auch gegen Männer und Kinder, welche als der Opposition zugehörig wahrgenommen werden, ein, um diese zu terrorisieren oder zu bestrafen. Das tatsächliche Ausmaß von sexueller Gewalt in Syrien lässt sich nur schwer einschätzen, weil viele Vergehen nicht angezeigt werden (USDOS 11.3.2020).

Vergewaltigung außerhalb der Ehe ist zwar laut Gesetz strafbar, die Regierung setzt diese Bestimmungen jedoch nicht effektiv um. Außerdem kann der Täter eine Strafminderung erlangen, wenn er das Opfer heiratet, um so das soziale Stigma einer Vergewaltigung zu vermeiden (USDOS 11.3.2020). Die gesellschaftliche Tabuisierung von sexueller Gewalt führt zu einer Stigmatisierung von Frauen, die in Haft waren, zur Erniedrigung von Opfern, Familien und Gemeinschaften und zu einer hohen Dunkelziffer bezüglich der Fälle von sexueller Gewalt. Eltern oder Ehemänner verstoßen oftmals Frauen, die während der Haft vergewaltigt wurden oder wenn eine Vergewaltigung auch nur vermutet wird (STDOK 8.2017; vgl. SHRC 24.1.2019). Es gibt Fälle von Frauen, die nach einer Vergewaltigung Opfer von Ehrenmorden werden (USDOS 13.3.2019; vgl. SHRC 24.1.2019, MRG 5.2018b). Berichten zufolge kam es seit dem Ausbruch des Konfliktes zu einem Anstieg an Ehrenmorden infolge des Konfliktes (USDOS 11.3.2020). Bei sogenannten Ehrenverbrechen in der Familie, die in ländlichen Gebieten bei fast allen Glaubensgemeinschaften vorkommen, besteht kein effektiver staatlicher Schutz (AA 20.11.2019).

Alleinstehende Frauen

Alleinstehende Frauen sind in Syrien aufgrund des Konfliktes einem besonderen Risiko von Gewalt oder Schikane ausgesetzt, jedoch hängt dies von der sozialen Schicht und der Position der Frau bzw. ihrer Familie ab. Man kann die gesellschaftliche Akzeptanz von alleinstehenden Frauen aber in keinem Fall mit europäischen Standards vergleichen, und Frauen sind potentiell Belästigungen ausgesetzt (STDOK 8.2017). Vor dem Hintergrund der Geschlechterungleichheit versetzen Armut, Vertreibung, die Tatsache ein weiblicher Haushaltsvorstand oder jung und außerhalb der elterlichen Aufsicht zu sein, Frauen und Mädchen in eine „Position reduzierter Macht“ und erhöhen damit das Risiko von sexueller Ausbeutung. Unverheiratete Mädchen, Witwen und geschiedene Frauen sind diesbezüglich besonders vulnerabel (UNFPA 10.3.2019).

In Syrien ist es fast undenkbar als Frau alleine zu leben, da eine Frau ohne Familie keine gesellschaftlichen und sozialen Schutzmechanismen besitzt. Beispielsweise würde nach einer Scheidung eine Frau in den meisten Fällen wieder zurück zu ihrer Familie ziehen. Vor dem Konflikt war es für Frauen unter bestimmten Umständen möglich alleine zu leben, z.B. für berufstätige Frauen in urbanen Gebieten (STDOK 8.2017).

Der Zugang von alleinstehenden Frauen zu Dokumenten hängt von deren Bildungsgrad, individueller Situation und bisherigen Erfahrungen ab. Beispielsweise werden ältere Frauen, die immer zu Hause waren, mangels vorhandener Begleitperson und behördlicher Erfahrung nur schwer Zugang zu Dokumenten bekommen können (STDOK 8.2017). Die Wahrnehmung von alleinstehenden Frauen durch die Gesellschaft unterscheidet sich von Gebiet zu Gebiet. Damaskus- Stadt ist weniger konservativ als andere Gebiete und es wird von Frauen berichtet, die dort in der Vergangenheit alleine lebten. In konservativen Gegenden bekommen allein lebende Frauen jedoch „einen gewissen Ruf“ (SD 30.7.2018).

Der Wegfall des Ernährers im Zuge des Konflikts stellt viele Frauen vor das Problem ihre Familien versorgen zu müssen. So stieg die Anzahl der Haushalte mit weiblichen Vorständen im Zuge des Konflikts (WB 6.2.2019).

Frauen in kurdisch kontrollierten Gebieten

Die Situation von kurdischen Frauen in den kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens ist in Bezug auf Unabhängigkeit, Bewegungsfreiheit und die Vormundschaftsgesetze der selbsternannten Autonomieregierung besser. Frauen und Männer sind in der Regierung zu gleichen Teilen repräsentiert (STDOK 8.2017). Per Gesetz werden alle Regierungseinrichtugen von einem Mann und einer Frau gleichzeitig geleitet und die meisten staatlichen Behörden und Gremien müssen zwischen Männern und Frauen gleich besetzt sein, abgesehen von Einrichtungen, die nur für Frauen sind und von Frauen geleitet werden (TNYT 24.2.2018; vgl. AC 12.3.2019). Dabei soll es sich jedoch nur um eine oberflächliche Rolle ohne wirkliche Macht handeln (AC 12.3.2019).

Im November 2014 beschloss die Autonomieregierung ein Dekret, das die „Gleichheit zwischen Männern und Frauen in allen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens“ vorsieht. Demnach haben Frauen in den Augen des Gesetzes den gleichen Status wie Männer, auch zum Beispiel bezüglich Scheidung und Erbrecht. Polygamie, Ehrenmorde, Zwangsehen, Ehen von Minderjährigen und andere Formen von Gewalt gegen Frauen wurden verboten. Frauenkomitees, Frauenhäuser und Frauenzentren wurden eingerichtet, um Frauen zu schützen und zu vertreten, in den Themen Politik, Wirtschaft, Kultur und Recht weiterzubilden, und ihnen die Möglichkeit zu geben über familiäre und soziale Probleme zu sprechen und Lösungen zu finden. Auch arabische und christliche Frauen nutzen die Zentren (TF 27.8.2015; vgl. TNYT 24.2.2018).

In Gebieten mit arabischer Mehrheitsbevölkerung, die konservativer sind und in denen tribale Strukturen noch stark verwurzelt sind, ist es schwerer für die kurdischen Behörden Gleichberechtigungsmaßnahmen ohne Widerstand durchzusetzen. So wurde beispielsweise in Kobane Polygamie verboten, von der lokalen Bevölkerung in Manbij gab es jedoch Widerstand durch lokale Stammesführer, was zu einer Ausnahme für Manbij von dieser Regelung führte (TNYT 24.2.2018).

Die Situation von Frauen in Nordsyrien hängt großteils von der persönlichen und familiären Einstellung und dem Glauben ab, wobei die Befolgung traditioneller sozialer Normen in stärker religiös oder traditionell eingestellten Gemeinschaften üblicher ist (Allsopp&v. Wilgenburg 2019).

Die zivile Verwaltung der kurdisch kontrollierten Provinzen im Norden des Landes, der sogenannten „Demokratischen Föderation Nordsyrien“ (kurdisch Rojava) hat die Institution der Zivilehe eingeführt, die unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit der Brautleute vor den zuständigen Behörden geschlossen werden kann. Ob eine in den kurdischen Gebieten geschlossene zivile Ehe vom syrischen Staat anerkannt wird, ist jedoch schwer zu beurteilen. Das syrische Familienrecht erkennt eine solche Ehe insbesondere dann nicht an, wenn sie einen Verstoß gegen das Ehehindernis aufgrund von unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten der Ehepartner darstellt (MPG 2018).

Bewegungsfreiheit

Die Regierung, der sogenannte Islamische Staat (IS) und andere bewaffnete Gruppen beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 11.3.2020).

Die Bewegungsfreiheit der syrischen Bevölkerung wird auch durch aktive Kampfhandlungen eingeschränkt (UNSC 23.10.2018), etwa durch Belagerungen, die auch zur Einschränkung der Versorgung der betroffenen Gebiete und damit zu Mangelernährung, Hunger und Todesfällenführen (USDOS 11.3.2020). Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2018 befinden sich jedoch weit weniger Gebiete unter Belagerung, nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben (SHRC 24.1.2019).

Durch die Wiedereroberung vormals von Rebellen gehaltener Gebiete durch die Regierung konnten manche wichtige Verkehrswege wieder eröffnet werden. Dies verbessert den Personen- und Warenverkehr in von der Regierung gehaltenen Gebieten. Die Bedingungen sind immer noch schwierig (Reuters 27.9.2018). Die Infrastruktur im Land hat unter den Kriegswirren erheblich gelitten. In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig willkürliche Kontrollen durchführen, teils verbunden mit Forderungen nach Geldzahlungen. Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt (AA 19.8.2020).

Die Fortbewegung in der Stadt Damaskus hat sich Berichten zufolge seit Mai 2018 und der damaligen Wiedereroberung von oppositionellen Gebieten durch die Regierung verbessert, da z.B. seither weniger Checkpoints in der Stadt betrieben werden. Die Checkpoints werden von den unterschiedlichen Sicherheitsbehörden bemannt. Personen können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen (DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr unterschiedlich (DIS 9.2019) bzw. recht willkürlich sein. Die fehlende Rechtssicherheit und die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018).

Laut Human Rights Watch wird Personen, die aus vom IS gehaltenen Gebieten flüchten, der Zutritt in kurdisch kontrollierte Gebiete verweigert, wenn diese keinen kurdischen Fürsprecher (Sponsor) vorweisen können (HRW 1.8.2018).

Teilen der syrischen Bevölkerung, speziell Rückkehrern und Menschen in Gebieten, die vom Regime zurückerobert wurden, fehlt weiterhin der Zugang zu für den persönlichen Alltag,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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