TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/7 W203 2225402-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.05.2021
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Entscheidungsdatum

07.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W203 2225402-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.10.2019, Zl. 821279610/190972335, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird ersatzlos behoben.

II. XXXX wird aufgrund seines Antrages vom 25.07.2019 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 07.05.2023 erteilt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, stellte am 16.09.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) vom 14.10.2014 wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und diesem eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.10.2015 erteilt.

Begründet wurde die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten damit, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr in seine Heimat zum damaligen Zeitpunkt nicht zumutbar gewesen sei. Die Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers habe sich aus dem angeführten Länderinformationsblatt ergeben. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan vor „mehreren Jahren“ verlassen und verfüge dort über kein unterstützendes soziales und familiäres Netzwerk. Der Beschwerdeführer habe glaubwürdig angegeben, dass dessen Mutter und die beiden unmündigen Geschwister bei der verheirateten Schwester des Beschwerdeführers in Jalalabad leben würden. Der Onkel väterlicherseits sei psychisch krank und wohne – wie auch die beiden verheirateten Tanten des Beschwerdeführers väterlicherseits, der verheiratete Onkel mütterlicherseits sowie die drei verheirateten Tanten mütterlicherseits – im Distrikt XXXX , ca. ein bis eineinhalb Stunden Fußmarsch vom Heimatdorf des Beschwerdeführers entfernt. Gelegentlicher telefonischer Kontakt des Beschwerdeführers bestehe lediglich zu dessen Mutter und zu den Geschwistern. Amtsbekannt sei, dass es verheirateten Frauen in vielen Fällen faktisch unmöglich sei, den Verwandten ihrer „Stammfamilie“ zu helfen, da diese nunmehr der Familie deren Mannes angehören würden und diese sich vielfach weigern würde - so nicht auch andere verwandtschaftliche Beziehungen bestehen - Menschen aus der Stammfamilie der Frau zu helfen. Nicht ausgeschlossen habe daher werden können, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen wäre, allenfalls in Kabul nach einem – wenn auch nur vorläufigen – Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten der Hauptstadt Kabul zu verfügen. Wie aus dem Länderinformationsblatt ersichtlich sei, stelle sich die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne familiären Rückhalt meist als nur unzureichend dar. Angesichts der in Afghanistan herrschenden politischen Lage sei zudem ausreichende staatliche Unterstützung sehr unwahrscheinlich. Vor allem jüngere Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, würden auf größere Schwierigkeiten stoßen als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet seien oder in einen solchen zurückkehren. Darüber hinaus sei dem Länderinformationsblatt eine Verschlechterung der Sicherheitslage in der Provinz Nangahar zu entnehmen. Es bestehe für den Beschwerdeführer demnach im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan ein reales Risiko, dort in eine hoffnungslose Lage zu geraten.

3.       Am 17.09.2015 brachte der Beschwerdeführer fristgerecht einen „Antrag auf Verlängerung § 8“ bei der belangten Behörde ein, welchem mit Bescheid der belangten Behörde vom 29.09.2015 entsprochen wurde. Dem Beschwerdeführer wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.10.2017 erteilt.

Festgehalten wurde in diesem Bescheid, dass aufgrund der Ermittlungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in Verbindung mit dessen Vorbringen bzw. dessen Antrag das Vorliegen der Voraussetzungen für die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung als glaubwürdig gewertet werden habe können.

4.       Am 02.08.2017 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren „Antrag auf Verlängerung § 8“. Diesem Antrag wurde mit Bescheid vom 21.09.2017 entsprochen und dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.10.2019 erteilt.

Die Begründung war gleichlautend wie im ersten Bescheid betreffend die Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.

5.       Am 25.07.2019 brachte der Beschwerdeführer erneut einen „Antrag auf Verlängerung des subsidiären Schutzes gemäß § 8 Abs. 4 AsylG“ bei der belangten Behörde ein.

6.       Am 24.09.2019 wurde der Beschwerdeführer niederschriftlich vor der belangten Behörde einvernommen.

Im Rahmen dieser Einvernahme gab er an, dass er gesund sei und keine Medikamente einnehme. Eine Deutschprüfung habe er bis zum Niveau A2 abgelegt. Er habe gearbeitet, zum Zeitpunkt der Befragung ging er keiner Tätigkeit nach. Er sei gekündigt worden, da er nicht mehr „gebraucht“ worden sei. Er sei 1996 in der Provinz Nangahar geboren worden und habe vier Jahre lang die Schule besucht. Der Beschwerdeführer habe nach der Schule in der Landwirtschaft und als Automechaniker gearbeitet. Er sei noch nie in Mazar-e Sharif oder Herat gewesen. Seine Familie, bestehend aus seiner Mutter und seinen drei Schwestern, würde in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers leben, sein Vater und sein Bruder seien verstorben. Er habe nur dann Kontakt zur Familie, wenn die „Telefonmasten funktionieren“ würden. Zuletzt habe er ein Monat vor der Befragung Kontakt zu seiner Mutter gehabt. Seine Mutter habe Herzprobleme und nehme Medikamente. Der Schwager - der Mann der Schwester des Beschwerdeführers - versorge die Familie. Die Heimatprovinz des Beschwerdeführers sei „die unsicherste im ganzen Land“. Der Vater des Beschwerdeführers habe drei Schwestern und einen Bruder, die alle in Nangahar leben würden. Die Mutter habe eine Schwester und einen Bruder, der in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers lebe. Die Schwester der Mutter lebe in Kabul. Dort sei der Beschwerdeführer noch nie gewesen. Bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz fürchte sich der Beschwerdeführer vor dem Krieg und der Sicherheitslage. Auch in Mazar-e Sharif, Kabul und Herat gebe es Anschläge. Er habe - „egal wo“ - Angst.

Auf Vorhalt, dass sich die subjektive Lage des Beschwerdeführers im Vergleich zum „seinerzeitigen Entscheidungszeitpunkt“ geändert habe und dass nichts festzustellen sei, was eine reale Gefahr für dessen Leben oder die Gesundheit bedeuten würde und dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan zumutbar sei, da er insbesondere in Kabul, wo er auch über private Anknüpfungspunkte verfüge, Herat oder Mazar-e Sharif Sicherheit erlangen sowie eine zumutbare Lebenssituation vorfinden werde und er auf die Unterstützung seiner Familie zurückgreifen könne, gab der Beschwerdeführer an, dass man ihm gesagt hätte, dass er „arbeiten und seine Deutschkurse machen“ solle und er dann für immer in Österreich bleiben könne.

7.       Aus einem mit 25.09.2019 datierten „Aktenvermerk“ der belangten Behörde geht hervor, dass sich Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht mehr vorlägen, da eine taugliche IFA bestünde.

8.       Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 25.10.2019 wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und sein Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt VI.).

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und zur Situation des Beschwerdeführers im Fall seiner Rückkehr traf die belangte Behörde folgende Feststellungen:

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten längen „aktuell“ nicht vor. Die im Bescheid angeführten positiven Eigenschaften des Beschwerdeführers seien zum Zeitpunkt der Schutzgewährung vorgelegen, seien der Behörde aber nicht bekannt gewesen. Es läge im Falle des Beschwerdeführers eine Gefährdungslage in Bezug auf dessen unmittelbare Heimatprovinz vor, aber nicht auf Afghanistan allgemein bezogen. Der Beschwerdeführer könne eine IFA (innerstaatliche Fluchtalternative) „mit den Städten Mazar-e Sharif und Herat“ in Anspruch nehmen und würde dort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden.

Begründet wurde dies damit, dass laut den „aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation vom 29.06.2018 (letzte Kurzinformation eingefügt am 04.06.2019)“ eine Neuansiedlung des Beschwerdeführers zwar nicht in seiner Herkunftsprovinz (Nangahar), sehr wohl aber in den Städten Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar sei. Er sei ein gesunder Mann und befinde sich im erwerbsfähigen Alter. Er habe eine vierjährige Schulbildung genossen und habe Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und als Automechaniker gesammelt und arbeite darüber hinaus in Österreich in einem Schnellrestaurant. Er könne im Falle einer Rückkehr für seine Existenzsicherung aufkommen. Auch ein fehlender sozialer oder familiärer Background bzw. fehlende Unterstützung in den genannten Städten führe nicht zur Unzumutbarkeit einer Neuansiedlung in diesen Städten, da der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt in eigener Regie organisieren und bewerkstelligen und im Bedarfsfall auf Unterstützungsnetzwerke zurückgreifen könne. Hingewiesen wurde auf die „jüngste Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes“. Da es dem Beschwerdeführer gelungen sei, in Österreich seinen Lebensunterhalt zu bestreiten sowie auftretende Schwierigkeiten zu bewältigen, sei es ihm nunmehr sehr wohl zuzumuten, mit seiner (neu gewonnenen) Lebens- und Arbeitserfahrung in Afghanistan „zumutbar leben“ zu können. Der Beschwerdeführer habe in Österreich gezeigt, dass er über eine rasche Auffassungsgabe verfüge und anpassungsfähig sei.

9.       Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht am 07.11.2019 Beschwerde und begründete diese im Wesentlichen wie folgt:

Die objektive Lage in Afghanistan habe sich seit der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie seit der zweimaligen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nicht verändert. Der Beschwerdeführer habe 2014 den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt bekommen, da die Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz für ihn unzumutbar gewesen sei und auch weil ihm im ganzen Staatsgebiet Afghanistans keine innerstaatliche Fluchtalternative offen gestanden sei. Die Behörde übersehe, dass sich an den familiären Anknüpfungspunkten des Beschwerdeführers nur geändert habe, dass sein Bruder getötet worden sei und der Beschwerdeführer daher über (nahezu) dieselben Familienangehörigen verfüge wie bei der Zuerkennung des Schutzstatus und zum jetzigen Aberkennungszeitpunkt. Die belangte Behörde argumentiere auch, dass der Beschwerdeführer nunmehr im Vergleich zum Zuerkennungszeitpunkt als Mensch große Flexibilität und Aufgeschlossenheit dargetan habe. Jedoch sei die belangte Behörde der Frage nicht nachgegangen, ob es sich hierbei um neue Fähigkeiten bzw. Eigenschaften des Beschwerdeführers handle. Bei genauer Betrachtung der Beweiswürdigung der belangten Behörde zeige sich, dass diese keinen genauen Abgleich zwischen den Länderberichten zum Zeitpunkt der damaligen Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten im Jahr 2014 und den nunmehrigen Länderberichten vorgenommen habe. Wie sich bei Durchsicht der Beweiswürdigung zeige, berufe sich die belangte Behörde bei der Aberkennung wegen vermeintlich geänderter Sicherheitslage bzw. vermeintlich verbesserten Feststellungen zur Lage des Beschwerdeführers eigentlich und ausschließlich auf eine geänderte Rechtsprechung seitens des BVwG bzw. des VwGH. Die belangte Behörde habe es nicht vermocht, abseits dieser Ausführungen hinreichend darzulegen, auf welcher Basis sie zu dem Schluss gelangt sei, dass eine nachhaltige Verbesserung der Sicherheitslage bzw. der subjektiven Lage des Beschwerdeführers eingetreten sei, sodass nunmehr eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan im Hinblick auf eine vermeintliche IFA zulässig sei. Der Begründung sei kein wie auch immer gearteter Vergleich der Länderberichte zu entnehmen.

Die belangte Behörde beziehe sich im belangten Bescheid ausdrücklich auf den Aberkennungstatbestand nach § 9 Abs. 1 Z 1 Asylg 2005. Es werde im Bescheid nicht weiter konkretisiert bzw. sei aufgrund der unterschiedlichen Formulierungen unklar, ob die Aberkennung des Schutzstatus auf den ersten Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, demzufolge die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten „nicht vorliegen“, oder auf den zweiten Fall des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, dem zufolge die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten „nicht mehr vorliegen“, gestützt worden sei. Beides werde im Bescheid an unterschiedlichen Stellen ausgeführt. In der Rechtssache BILALI (EuGH) sei es im Anlassfall um einen Sachverhalt gegangen, in welchem die Voraussetzungen für die Zuerkennung niemals vorgelegen hätten und die belangte Behörde einem Irrtum unterlegen sei. Betrachte man jedoch die Formulierungen der belangten Behörde, gehe diese zumindest teilweise gegenteilig davon aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten sehr wohl bestanden hätten. Dies sei aus den Formulierungen eindeutig erkennbar. Dementsprechend käme eine Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 erster Fall entgegen den Ausführungen der belangten Behörde im Rahmen der rechtlichen Beurteilung jedenfalls nicht in Betracht. Die belangte Behörde hätte anscheinend die beiden Tatbestände des § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 verwechselt. Auch reiche die Argumentation der Behörde, sie habe „spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten“ des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Zuerkennung nicht berücksichtigen können, nicht dafür aus, eine Anwendung des ersten Falles des § 9 Abs. 1 Z 1 Asylg2005 zu begründen, da es höchst zweifelhaft erscheine, dass der Beschwerdeführer spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten - genauer eine „rasche Auffassungsgabe“ und eine „Anpassungsfähigkeit“ - bereits im Zuerkennungszeitpunkt gehabt habe, bzw. wären solche „Kenntnisse und Fähigkeiten“ auch nicht geeignet gewesen, eine Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu rechtfertigen. Es wäre daher allenfalls eine Aberkennung gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 zweiter Fall in Frage gekommen und hätte eine solche geprüft werden müssen. Die belangte Behörde habe keine konkreten Feststellungen zu den maßgeblichen Änderungen auf Sachverhaltsebene getroffen und es würde eine vergleichende Darstellung des Sachverhaltes fehlen bzw. sei eine solche widersprüchlich und mangelhaft. Die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich nicht maßgeblich und dauerhaft geändert. Auch die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers hätten sich nicht auf eine solche Art geändert. Auch die familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers hätten sich – bis auf den Tod des Bruders – nicht geändert.

Ein im Wesentlichen unveränderter, rechtskräftig entschiedener Sachverhalt dürfe nicht neuerlich untersucht und anders entschieden werden.

Es lägen insgesamt keine Aberkennungsgründe vor, da die Voraussetzungen des AsylG 2005 iVm der Status-RL und der einschlägigen Rechtsprechung nicht erfüllt seien.

10.      Einlangend am 14.11.2019 wurde die Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht auf Grundlage der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch ein Organ der belangten Behörde und der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem fest. Aus den diesbezüglichen Angaben und Informationen werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und dessen Fluchtgründen:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den im Spruch angeführten Namen und ist an dem dort angegebenen Datum geboren. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem.

Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Nangahar geboren und hat vier Jahre lang die Schule besucht. Nachfolgend hat er in der Landwirtschaft und als Automechaniker gearbeitet. Die Familie des Beschwerdeführers, d.h. die Mutter und seine drei Schwestern, leben noch in der Heimatprovinz.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zum Verfahren vor der belangten Behörde:

Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 14.10.2014 gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 13.10.2015 erteilt.

Mit Bescheiden vom 29.09.2015 und 21.09.2017 wurde dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Anträge die befristete Aufenthaltsberechtigung – zuletzt - bis zum 13.10.2019 verlängert.

Mit Bescheid vom 25.10.2019 erkannte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten nach § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.) und wies den von diesem gestellten Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ab (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.) und eine Rückkehrentscheidung gegen diesen erlassen (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde festgestellt, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und dem Beschwerdeführer eine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt (Spruchpunkt VI.).

Die belangte Behörde unterlag zum Zeitpunkt der Zuerkennung bzw. der zweimalig erfolgten Verlängerung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten keinem Tatsachenirrtum.

An den maßgeblichen subjektiven Umständen des Beschwerdeführers, die zur Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geführt haben, hat sich seit Erlassung des diesbezüglichen Bescheides der belangten Behörde bzw. seit der zweimalig erfolgten bescheidmäßigen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nichts Maßgebliches dauerhaft geändert.

Auch an der objektiven Situation in Afghanistan, besonders auch der Sicherheitslage in Nangahar, der Herkunftsstadt des Beschwerdeführers, hat sich zwischenzeitig ebenfalls nichts Maßgebliches geändert.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.3.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (USDOS 11.3.2020; vgl. Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zugleich werden aber verfassungsmäßige Rechte genutzt um die Regierungsarbeit gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch finanzieller Art an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

1.3.2. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020) . Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen - blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020)

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 6.2020).

1.3.3. Kabul

Letzte Änderung: 14.12.2020

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf

Kabul-Stadt - Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1) welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Kontrollen durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als "eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Berichten zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand November 2020 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 19.11.2020).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (USDOD 1.7.2020; vgl. NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020) , wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 7.2020; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).

Das USDOD beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).

Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Villages liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. GN 15.7.2020) und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.7.2020).

Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßen-Kriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 11.1.2020, AAN 11.2.2020, AAN 21.2.2020, TN 4.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 11.1.2020; vgl. TN 24.7.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung "Security Charter" an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 1.7.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.9.2020; vgl. GW 14.7.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 3.2.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018; vgl. TN 27.9.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.9.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.7.2020).

Es wird berichtet, dass der Islamische Staat in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.5.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staates zu stören (LI 22.1.2020; vgl. UNGASC 4.2.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.1.2020, WP 9.2.2020; EASO 9.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2020).

Im letzten Quartal des Jahres 2019 (LI 22.1.2020) sowie in den ersten Monaten des Jahres 2020 (UNGASC 3.2020) wurden in der Hauptstadt weniger Anschläge verübt. Seit dem zweiten Quartal 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen (NYTM 25.6.2020; vgl. UNGASC 17.6.2020, RY 30.6.2020, EASO 9.2020).

Selbstmordanschläge (NYTM 29.10.2020a, NYTM 29.10.2020c, HRW 26.10.2020, RFE/RL 29.4.2020, REU 29.4.2020) und IEDs (WP 26.2.2020, AJ 22.8.2020, NYTM 29.10.2020c, TN 4.10.2020, KP 4.6.2020) finden statt und es wurde von gezielten Tötungen (NYTM 26.3.2020, AT 22.8.2020, TN 21.10.2020, NYTM 5.11.2020) und Angriff auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte (NYTM 29.10.2020b, GN 11.2.2020, TN 22.6.2020, TN 8.7.2020, TN 6.7.2020, UNAMA 6.2020, TN 6.6.2020) sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen (UNOCHA 29.1.2020, NYTM 27.2.2020)

Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020, USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020, KP 6.5.2020, RFE/RL 11.5.2020, TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020, KP 12.2.2020, BBC 11.5.2020, TN 11.5.2020, PAJ 26.6.2020), sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (TN 7.7.2020b).

1.3.4. Nangahar (Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers)

Letzte Änderung: 11.03.2021

Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul (NPS Nangarhar o.D.a; vgl. UNOCHA 16.4.2010, UNOCHA Nangarhar 4.2014). Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad (NPS Nangarhar o.D.; vgl. OPr Nangarhar 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala [auch bezeichnet als Haska Mena; vgl. TBIJ 13.11.2019, VoA 28.6.2019], Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar und Surkh Rud (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Nangarhar 2019, UNOCHA Nangarhar 4.2014, NPS Nangarhar o.D.) sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar (NSIA 1.6.2019 vgl. IEC Nangarhar 2019).

Nangarhar ist eine der am dichtest besiedelten Provinzen Afghanistans und das wirtschaftliche Zentrum der Ostregion des Landes (AREU 6.2020). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung von Nangarhar im Zeitraum 2020/21 auf 1.701.698 Personen; davon 271.867 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken (NPS Nangarhar o.D.). Viele Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft aus Jalalabad (EASO 5.8.2020) haben Afghanistan in den letzten Jahrzehnten verlassen (Wire 5.4.2020). Nach einem Angriff auf die Sikh-Gemeinschaft in Kabul im März 2020 kündigte die verbleibend Hindu- und Sikh-Gemeinschaft von Jalalabad an, vollständig in ein anderes Land zu übersiedeln (KP 4.4.2020).

Die Straße von Kabul nach Jalalabad und weiter zum Grenzübergang Torkham mit Pakistan (Dawn 14.12.2019; vgl. MoPW 16.10.2015, Zenger 10.10.2020) ist Teil der Asiatischen Fernstraße AH-1 Tokio-Edirne (ESCAP 8.8.2019) sowie des Autobahnprojektes Peschawar-Kabul-Duschanbe (Dawn 14.12.2019) und führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara (UNOCHA Nangarhar 4.2014). In Pakistan soll die Strecke von Peschawar über den Khyber-Pass zur Grenze in Torkham zur Autobahn ausgebaut werden. Auf afghanischer Seite gibt es Stand Dezember 2019 jedoch keine Aktivitäten eines Ausbaus der Strecke Torkham-Kabul (Dawn 14.12.2019).

Der Flughafen Jalalabad wird von der NATO militärisch (USDOD 1.7.2020; vgl. BW 12.7.2020); bei Bedarf auch zivil genutzt, vor allem während der Hadsch nach Mekka (BW 12.7.2020). Das United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS), ein Flugbetreiber vorwiegend für Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, der UN und Diplomaten, fliegt Jalalabad Stand Oktober 2020 zwei Mal wöchentlich von Kabul aus an (WFP/UNHAS 27.9.2020). Linienflüge durch zivile Fluggesellschaften finden Stand 13.11.2020 nicht statt (F24 13.11.2020). Ein neuer Flughafen für die zivile Nutzung soll im Gebiet von Kozkunar errichtet werden. Baubeginn für das 40 Millionen US-Dollar teure Projekt war im Juli 2020, es soll in zwei Jahren abgeschlossen sein (BW 12.7.2020).

An der Fernstraße Kabul-Jalalabad attackieren Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte (TN 7.7.2020). Im Laufe des Jahres 2019 wurden bei Verkehrsunfällen an dieser Strecke mindestens 45 Personen getötet und ca. 100 Personen verletzt (PAJ 30.12.2019). Die Grenzabfertigung in Torkham geht langsam vor sich (Zenger 10.10.2020). An den Straßen in der Provinz heben die Taliban Steuern ein (AREU 6.2020). Die gebirgige Landschaft ermöglicht auch Aufständischen unkontrollierte Grenzüberquerungen in die ehemaligen Stammesgebiete Pakistans (VOA 28.6.2019; vgl. UNSC 27.5.2020).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Nangarhar galt als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans (RAND 14.9.2020; vgl. UNSC 1.2.2019). Die Stärke des ISKP insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen wurde 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt (UNSC 13.6.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019). Anhaltender Druck der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 2.12.2019, SIGAR 30.1.2020, UNSC 27.5.2020, taz 14.5.2020) und der Taliban (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 2.12.2019, SIGAR 30.1.2020, RAND 14.9.2020, UNSC 27.5.2020, PM 23.12.2019, taz 14.5.2020) resultierten in Niederlagen des ISKP im November 2019 in Nangarhar und im März 2020 in Kunar (VoA 12.5.2020; vgl. NYT 2.12.2019; vgl. SIGAR 30.1.2020, UNSC 27.5.2020). Der ISKP musste die Kontrolle von Gebieten in Nangarhar aufgeben (USDOD 1.7.2020; vgl. UNSC 27.5.2020), verfügt aber nach wie vor über ein operatives Netzwerk in Kabul und eine Präsenz im Osten Afghanistans (VoA 12.5.2020; vgl. taz 14.5.2020). Zahlreiche hochrangige IS-Mitglieder sind nach der militärischen Niederlage nach Pakistan geflohen (AAN 1.3.2020).

Sowohl die Taliban als auch die Regierungstruppen haben Gebietsgewinne erzielt. Die Regierung kontrolliert nun den größten Teil der Niederungen. Die Taliban wiederum dehnten ihre Kontrolle auf die abgelegenen, gebirgigen Gebiete der Provinz aus. Regierungstruppen kontrollieren fast vollständig zehn der 22 Distrikte Nangarhars (Behsud, Kama, Dara-ye Nur, Batikot, Kot, Shinwar, Dur Baba, Pachir wa Agam, Achin und Momand Dara). In acht weiteren Distrikten (Gushta, Spinghar, Lalpur, Nazyan, Rodad, Kuz Kunar, Deh Bala und Chaparhar) ist sie stärker vertreten als die Taliban. Die Taliban kontrollieren große Teile von vier Distrikten (Sherzad, Khogyani, Hesarak und Surkhrod). Die übrigen Gebiete werden von den pakistanischen Gruppen Lashkar-e Islam, Tehrik-e Taleban Pakistan und Jabhat ul-Ahrar kontrolliert. Die zivilen Verwaltungen in den Distrikten Sherzad und Hesarak haben ihren Sitz in der Provinzhauptstadt Jalalabad und die Sicherheitskräfte in diesen Distrikten verbleiben weitgehend in den Distriktzentren und den nahe gelegenen Dörfern (AAN 1.3.2020). Während die afghanischen Streitkräfte zuvor nur für kurze Zeit Gebiete vom ISKP räumen konnten, ist es nach November 2019 gelungen, diese Gebiete zu halten und die Rückkehr von ISKP-Kämpfern zu verhindern (UNSC 27.5.2020).

Al Qaida ist in Nangarhar versteckt aktiv. Auch pakistanische Aufständischengruppierungen sind in Nangarhar unter der Schirmherrschaft der Taliban präsent (UNSC 27.5.2020).

In den Distrikten Achin, Khogyani und Sherzad betreiben lokale Gemeinschaften Bürgerwehren. Sie erhalten militärische und logistische Unterstützung von der NDS und den USA und spielten eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS (AAN 1.3.2020). In Nangarhar sind militärische Spezialeinheiten, auch als counter-terrorism pursuit teams bezeichnet, aktiv. Sie werden inoffiziell von der US Central Intelligence Agency (CIA) ausgebildet und beaufsichtigt. Ihnen werden außergerichtliche Tötungen, Massenexekutionen und Folter vorgeworfen, die straflos bleiben. Die in Nangarhar aktive Einheit wird als NDS-02 bezeichnet (HRW 31.10.2019; vgl. WIIPA 21.8.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Nangarhar im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020). Internationale Kräfte haben sich aus Teilen Nangarhars im Mai 2020 zurückgezogen und die Verantwortung der ANA übergeben (ST 5.10.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 576 zivile Opfer (190 Tote und 386 Verletzte) in der Provinz Nangarhar. Dies entspricht einem Rückgang von 46% gegenüber 2019. Die Hauptursache dafür waren Selbstmordanschläge, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Bodenkämpfe (UNAMA 2.2021).

Nachdem im November 2019 von der Regierung die Zerschlagung des ISKP erklärt wurde, hat die Nationalarmee die Kontrolle über die Distrikte Spin Ghar, Achin, Haska Mina und Shinwari übernommen. Gemäß Angaben von Bewohnern hat sich die Sicherheitslage in diesen Distrikten deutlich verbessert (ST 5.10.2020; vgl. NAT 21.11.2019, Obs 3.12.2019). Berichte aus dem Distrikt Achin besagen, dass nach der Räumung vom ISKP die Infrastruktur weitgehend zerstört war und Gefahr durch Minen und Kampfmittelrückstände bestand (NAT 21.11.2019; vgl. Obs 3.12.2019). Nach der Räumung des Distriktes Khogyani vom ISKP durch die Taliban wurden die Gesundheitseinrichtungen wieder geöffnet (PM 23.12.2019).

Im Jahr 2020 wird die Sicherheitslage in Nangarhar weiterhin als volatil bezeichnet (UNOCHA 4.11.2020; vgl. UNOCHA 2.9.2020, UNOCHA 24.6.2020, KN 10.6.2020). In Jalalabad führen die Sicherheitskräfte Operationen gegen Schläferzellen des IS durch (UNSC 27.5.2020). Angriffe u.A. in der Stadt Jalalabad, die oftmals dem IS zugeschrieben werden (ACLED 18.8.2020; vgl. RTL 5.8.2020, UNSC 5.8.2020), zeigen, dass die Gruppe immer noch in der Lage ist, komplexe Angriffe durchzuführen (ACLED 18.8.2020; vgl. UNSC 27.5.2020).

Im Oktober 2020 wird von Kämpfen in den Distrikten Sherzad und Khogyani berichtet (UNOCHA 4.11.2020; UNOCHA 22.10.2020). Es kommt staatlicherseits zu Luftangriffen gegen die Taliban (ANI 6.2.2021; PAJ 20.1.2021; ACLED 28.10.2020; PI 15.2.2020) und zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Taliban (PAJ 6.10.2020; AJ 3.10.2020; MENAFN 18.9.2020; AT 7.7.2020). Aufständische führen Angriffe auf zivile Ziele (BW 3.9.2020; TN 14.6.2020; NDTV 12.5.2020; RSF 10.12.2020) und Sicherheitskräfte durch (BAMF 1.2.2021; AJ 30.1.2021).

1.3.5. Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 16.12.2020

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten (AA 16.7.2020; vgl. CoA 26.1.2004; EASO 7.2020). Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) (UNAMA 4.2019). Die Regierung erzielt Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumt es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen (HRW 14.1.2020).

Die Verfassung und das Gesetz verbieten solche Praktiken, dennoch gibt es zahlreiche Berichte über Misshandlung durch Regierungsbeamte, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Haftanstalten und Polizisten. Berichten von NGOs zufolge wenden die Sicherheitskräfte auch weiterhin übermäßige Gewalt an; dazu zählen unter anderem auch Folter und Misshandlung von Zivilisten (USDOS 11.3.2020). Obwohl es Fortschritte gab, ist Folter in afghanischen Haftanstalten weiterhin verbreitet (AA 16.7.2020; vgl. UNAMA 4.2019). Rund ein Drittel der Personen, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Afghanistan festgenommen wurden, sind gemäß einem Bericht der UNAMA von Folter betroffen (UNAMA 4.2019). Es gibt dagegen keine Berichte über Folter in Haftanstalten, die der Kontrolle des General Directorate for Prison and Detention Centres des afghanischen Innenministeriums unterliegen. Trotz gesetzlicher Regelung erhalten Inhaftierte nur selten rechtlichen Beistand durch einen Strafverteidiger (AA 16.7.2020).

Der Anteil der Personen, die über Folter berichteten, ist in den vergangenen Jahren leicht gesunken (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Auch existieren große Unterschiede abhängig von der geografischen Lage der Haftanstalt: Während bei einer Befragung durch UNAMA durchschnittlich von rund 31% der Befragten (45 Häftlinge) in ANP-Anstalten von Folter oder schlechter Behandlung berichtet wurde (wenngleich dies ein Rückgang zum Vorjahreswert

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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