TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/18 W213 2234173-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.05.2021
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Entscheidungsdatum

18.05.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W213 2234173-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Albert SLAMANIG über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Syrien, vertreten durch RA Dr. Gregor KLAMMER, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 14.07.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (in Folge: BF), ein syrischer Staatsangehöriger, reiste illegal ins Bundesgebiet ein und stellte am 08.01.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Zuge der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, es herrsche in seiner Heimat Krieg und er habe Angst um seine Familie.

In seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) gab der BF zu seinen Fluchtgründen befragt an, es gebe in seinem Gebiet Angriffe von der syrischen Armee sowie von russischen und iranischen Streitkräften, es regiere dort die Opposition, deshalb habe er nicht in die Städte gehen können, in denen die syrische Regierung regiert, wenn man im Dorf geboren sei aus dem er stamme, stehe man bei der syrischen Regierung auf der roten Liste. Er sei von der Hayat Tahrir al-Sham persönlich angesprochen worden, dass er mitkämpfen wolle, habe dies jedoch abgelehnt.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag auf internationalen Schutz des BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.). Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.)

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die am 07.08.2020 fristgerecht erhobene Beschwerde. Die gegenständliche Beschwerde wurde gemeinsam mit dem bezugshabenden Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht (in Folge: BVwG) mit 19.08.2020 vorgelegt.

Im Zuge der Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wurde das ergänzende und aktualisierte Länderberichtsmaterial zur aktuellen Lage in Syrien übermittelt.

An der am 04.05.2021 durchgeführten öffentlichen und mündlichen Verhandlung nahmen der BF im Beisein seines Rechtsvertreters teil. Der BF wurde unter Zuhilfenahme einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des BF:

Der BF führt den im Spruch genannten nahmen und das dort angeführte Geburtsdatum. Er ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Araber an, und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Arabisch.

Der BF stammt aus dem Dorf XXXX in der Provinz Idlib. In seiner Heimat besuchte er neun Jahre lang die Schule und arbeitete in der Landwirtschaft sowie auf Baustellen.

Seine Familie, bestehend aus seinen Eltern seiner Ehefrau und seinen sieben Kindern ist weiterhin in Syrien aufhältig, zu diesen besteht regelmäßig Kontakt. Darüber hinaus hat er auch noch Onkeln und Tanten im Herkunftsland.

Dem BF kommt der Status des subsidiär Schutzberechtigten zu.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF verließ seine Heimat im Oktober 2019 aufgrund der Bürgerkriegssituation in Syrien.

Dem BF droht in seinem Herkunftsgebiet, allein aufgrund seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit oder Herkunft aus einer oppositionellen Gegend keine reale Gefahr der Verfolgung.

Das Vorbringen des BF, er habe an mehreren regierungskritischen Demonstrationen teilgenommen ist nicht glaubhaft. Ebenso nicht glaubhaft ist, dass er oder sein Vater humanitäre Hilfeleistungen verteilt habe.

Der BF musste als einziger Sohn seiner Familie keinen Wehrdienst ablegen. Es gab keine Versuche der FSA oder der Hayat Tahrir al-Sham den BF zwangszurekrutieren. Dem BF droht im Falle seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Zwangsrekrutierung durch das Regime, die Freie Syrische Arme oder die Hayat Tahrir al-Sham.

1.3.    Zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Syrien wird festgestellt (entnommen aus: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation 3.3.2014 und 5.1.2017, 28.01.2018 sowie 25.03.2021; UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung; UNHCR-Berichte: Relevante Herkunftslandinformation zur Unterstützung bei der Anwendung der UNHCR Richtlinien für Syrien, Februar 2017, sowie Syrien: Militärdienst, November 2016):

1.3.1.  Die Lage in Nordwestsyrien:

Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens ist seit den Anfängen des Konfliktes eine Oppositionshochburg. Im März 2015 übernahmen oppositionelle Gruppierungen die Kontrolle über die Provinz (CRS 2.1.2019).

Anfang Januar 2019 drängte die Jihadistenallianz Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) die pro-türkische National Liberation Front (NLF) zurück (DZ 8.3.2019) und übernahm die Kontrolle über die Provinz Idlib und die Randgebiete angrenzender Provinzen (DP 10.1.2019). Laut Schätzungen befinden sich mit Stand April 2020 insgesamt etwa 70.000 oppositionelle Kämpfer in Idlib. Auch al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat (IS) sollen dort Netzwerke unterhalten (KAS 4.2020).

Im Mai 2017 wurde durch eine Vereinbarung zwischen Russland und Iran (als Verbündete des syrischen Regimes) einerseits, und der Türkei (als Unterstützer der Rebellen) andererseits, eine Deeskalationszone eingerichtet, die ganz Idlib sowie auch Teile der Provinzen Lattakia, Aleppo und Hama umfasste. Einheiten der syrischen Regierung führen jedoch trotz dieser Vereinbarung militärische Operationen in diesem Gebiet durch und eroberten bis Mitte 2018 etwa die Hälfte dieser Deeskalationszone zurück (CRS 2.1.2019). Mitte September 2018 einigten sich die Türkei und Russland auf die Schaffung einer entmilitarisierten Zone in Idlib (Reuters 26.10.2018; vgl. UNHRC 31.1.2019).

Im Februar 2019 kam es zu erneuten Luftangriffen der syrischen Regierung im Großraum Idlib (ISW 7.3.2019) und im März 2019 erstmals seit September 2018 wieder zu russischen Luftangriffen auf die Provinz (DS 14.3.2019). Im Mai 2019 weiteten die russische Luftwaffe und syrische Regierungstruppen ihre Boden- und Luftangriffe auf Idlib und Nord-Hama massiv aus (DS 8.5.2019).

Im Dezember 2019 intensivierten das Regime und seine Unterstützer die Militäroffensive deutlich. Luftangriffe auf zivile Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser, Märkte und Flüchtlingslager führten laut den Vereinten Nationen (UN) zur größten humanitären Katastrophe im Verlauf des Syrien-Konflikts (AA 4.12.2020).

Im Februar 2020 begann die Türkei die sogenannte Militäroperation „Spring Shield“ mit Vergeltungsschlägen gegen das syrische Regime. Anfang März vereinbarten Russland und die Türkei dann ein zeitlich unbegrenztes Zusatzprotokoll zu dem in Kraft bleibenden Abkommen über die Deeskalationszone Idlib von 2018, das unter anderem eine Waffenruhe in Idlib, die Einrichtung eines Sicherheitskorridors nördlich und südlich der Fernstraße M4 sowie russisch-türkische Patrouillen vorsieht (AA 19.5.2020). Auch wenn die Waffenruhe bisher weitgehend eingehalten wird, kommt es immer wieder zu einzelnen Gefechten, inklusive schwerer Artillerieangriffe, v. a. im Süden der Deeskalationszone sowie in unregelmäßigen Abständen auch zu russischen Luftangriffen. Die im März 2020 vereinbarten gemeinsamen russisch-türkischen Patrouillen entlang der Schnellstraße M4 konnten zunächst aufgrund von Protesten und Straßenblockaden durch die Zivilbevölkerung nicht in vollem Umfang durchgeführt werden. Nachdem diese zwischenzeitlich in regelmäßigen Abständen auf voller Länge entlang der M4 erfolgten, sind sie seit dem 21.9.2020 aufgrund von russischen Sicherheitsbedenken temporär ausgesetzt. Die Waffenruhe gilt insgesamt weiterhin als fragil (AA 4.12.2020).

Laut Angaben der UN vom Februar 2020 flohen seit Dezember 2019 beinahe 900.000 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, vor den Kampfhandlungen in Idlib (UN News 21.2.2020; vgl. KAS 4.2020). Die syrische Armee konnte im Verlauf der Offensive weite Teile der Provinz zurückerobern, darunter die M5 Fernstraße (KÄS 4.2020). Im September 2020 kam es erneut zu schweren Angriffen russischer Kampfflugzeuge in Idlib, den schwersten seit der russischtürkischen Zusatzvereinbarung von März 2020 (Reuters 20.9.2020).

1.3.2.  Folter und unmenschliche Behandlung

Seit Beginn des Aufstands setzten die Sicherheitskräfte zehntausende Menschen willkürlichen Verhaftungen, ungesetzlicher Haft, dem Verschwindenlassen, Misshandlungen und Folter in einem breiten Netzwerk von Haftanstalten aus. Viele der Häftlinge sind junge Männer im Alter von 20 bis 30 Jahren, jedoch sind auch Kinder, Frauen und ältere Menschen unter den Inhaftierten (HRW 27.1.2016). Berichten zufolge wurden Familienmitglieder durch die Sicherheitskräfte der syrischen Regierung festgenommen, darunter auch Kinder, um gesuchte Personen dazu zu bewegen, sich den Sicherheitskräften zu stellen (HRW 27.1.2016; vgl. USDOS 13.4.2016). Schätzungen zufolge sind seit 2011 in Gefängnissen der syrischen Regierung 17.723 Menschen durch Folter, Misshandlungen und katastrophale Haftbedingungen ums Leben gekommen (AI 18.8.2016).

Freigelassene Gefangene und Mitarbeiterinnen der Sicherheitskräfte, die sich abgesetzt haben („defectors“), berichten von einer Anzahl von Foltermethoden, die von den syrischen Sicherheitskräften verwendet werden. Dazu zählen langes Schlagen - oft mit Schlagstöcken und Drähten - schmerzhafte Stresspositionen, Elektroschocks, sexuelle Angriffe, das Ziehen von Fingernägeln und Scheinhinrichtungen. (HRW 21.1.2014)

Bewaffnete Oppositionsgruppen begehen in wachsendem Ausmaß schwere Menschenrechtsverletzungen, darunter auch Folter. Ausländische Kämpfer und jihadistische Gruppen sind unter den schlimmsten Tätern. (HRW 21.1.2014) Aber auch die Freie Syrische Armee foltert einem Überläufer zufolge - manchmal mit tödlichem Ausgang. (UK 11.09.2013)

Von den Aufständischen gefangengenommene syrische Sicherheitskräfte oder ihre angeblichen Unterstützerlnnen machen unter Folter Geständnisse. Dazu gibt es viele Videoaufzeichnungen, welche Gefangene mit Zeichen physischer Misshandlungen zeigen. (UK 11.09.2013)

Vergewaltigungen, meist von Frauen, aber auch von Männern und Buben, sind zu einer Kriegswaffe geworden. Laut Menschenrechtsgruppen werden die meisten Vergewaltigungen von Gruppen begangen, die den Regimekräften zuzuordnen sind. (FH 23.1.2014)

Regierungskräfte verhafteten, folterten und töteten Hunderte von Angestellten des Gesundheitsbereichs und Patientinnen. Sie griffen absichtlich Fahrzeuge an, die Patientinnen und Vorräte transportierten. (HRW 21.1.2014) Ambulanzfahrer, Krankenschwestern, Ärztinnen und Helfer würden attackiert, verhaftet oder verschwinden. Auch Schwerverwundete wurden aus Krankenhäusern entführt, weil ihre Verletzungen als Beweise für oppositionelle Unterstützung gewertet wurden. Die extremsten Beispiele lieferte ein Militärkrankenhaus in Homs. Dort wurden Verletzte gefoltert und Ärztinnen befohlen, die Opfer am Leben zu erhalten, um sie weiter verhören zu können. (ARD 16.9.2013)

1.3.3.  Risikoprofile

Werden Asylanträge von Asylsuchenden aus Syrien auf Einzelfallbasis gemäß bestehenden Asylverfahren oder Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft geprüft, so ist UNHCR der Ansicht, dass Personen mit einem oder mehreren der unten beschriebenen Risikoprofilen wahrscheinlich internationalen Schutz im Sinne der GFK benötigen, sofern keine Ausschlussklauseln anwendbar sind (siehe Absatz 39). Bei Familienangehörigen und Personen, die auf sonstige Weise Menschen mit den nachfolgend aufgeführten Risikoprofilen nahestehen, ist es je nach den Umständen des Einzelfalls ebenfalls wahrscheinlich, dass sie internationalen Flüchtlingsschutz benötigen. Sofern relevant, sollte besonderes Augenmerk auf jegliche Verfolgung gelegt werden, der Asylsuchende in der Vergangenheit möglicherweise ausgesetzt waren.

Personen, die eine oppositionelle Einstellung haben oder denen eine solche unterstellt wird: Die Regierung wendet für die Definition von oppositioneller Einstellung sehr breite Kriterien an: So kann jede Form von Kritik, Opposition oder mangelnde Loyalität der Regierung gegenüber, in welcher Art auch immer ausgedrückt, zu ernsthaften Konsequenzen für die Person führen. Viele Protestierende, Aktivisten/Aktivistinnen, Wehrdienstverweigerer, Deserteure, partizipative (Bürger-)Journalisten/Journalistinnen („citizen journalists“), Ärzte/Ärztinnen und Personen, die humanitäre Hilfe leisten, und denen eine oppositionelle Haltung unterstellt wurde, wurden willkürlich verhaftet, gefoltert, misshandelt und standrechtlich hingerichtet. Viele wurden unter Anti-Terrorismusgesetzen verurteilt, die schwere Strafen vorsehen, wobei „Terrorismus“ in diesem Gesetz sehr vage und breit definiert wird. Die meisten Gefangenen werden nie angeklagt. Tausende Zivilisten/Zivilistinnen wurden vor Strafgerichten, dem Anti-Terrorismus-Gericht in Damaskus und Militärgerichten in Verfahren verurteilt, die keine internationalen Fairness-Standards einhalten; häufig nach mehrmonatiger Haft in Untersuchungshafteinrichtungen, die von Sicherheitsbehörden geführt werden, und auf Basis von erzwungenen Geständnissen. Strafen sind Berichten zufolge hart. Die Regierung überwacht politische Treffen, die Post und Onlineaktivitäten. Unzählige Personen wurden verhaftet, weil sie auf social media Fotos oder Videos „geliked“ oder geteilt haben, die oppositionelle Meinungen vertreten oder unterstützen. Die sog. Syrische Elektronische Armee hackt Websites und social media Seiten von oppositionellen Gruppen, westlichen Medien und Menschenrechtsorganisationen.

Syrer_innen, die im Ausland in regierungsgegnerische Proteste verwickelt waren, wurden systematisch überwacht, eingeschüchtert und teilweise physisch durch Botschaftsangestellte und andere angegriffen. Familienangehörige von Syrer_innen, die sich im Ausland an Protesten oder ähnlichen Aktivitäten beteiligen, wurden in Syrien befragt, bedroht, verhaftet, körperlich misshandelt oder sogar getötet.

Die echte oder unterstellte regierungsgegnerische Einstellung einer Person wird häufig auch Personen in ihrem Umfeld zugeordnet, wie Familienangehörigen, Nachbarn oder Kollegen/Kolleginnen. Familienangehörige von Aktivisten/Aktivistinnen, Mitgliedern von Oppositionsparteien, Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern wurden Ziel von willkürlichen Verhaftungen, Folter, Misshandlungen, auch sexueller Gewalt und standrechtlicher Exekution. In Fällen, in denen eine gesuchte Person, der eine oppositionelle Haltung unterstellt wird, nicht gefunden werden kann, werden Familienangehörige verhaftet und misshandelt, um zu erfahren, wo die Person ist, damit sie sich stellt, oder um ihre Handlungen zu bestrafen. Weibliche Familienangehörige werden Berichten zu Folge auch zum Tausch bei Gefangenenaustauschen mit regierungsgegnerischen bewaffneten Gruppen verwendet. Nachbarn, Freunde und Kollegen waren ebenfalls Ziele solcher Praktiken.

Aus Angst wird häufig Abstand genommen, sich über eine Verhaftung zu beschweren; stattdessen werden Bestechungsgelder bezahlt, um einen Verhafteten verlegen zu lassen oder freizubekommen. Präsidentielle Amnestien ermöglichten auch Bestechungen von Richtern/Richterinnen. In besonders schweren Fällen wurden ganze Familien von Oppositionellen oder Deserteuren verhaftet oder ermordet, zB während einer Hausdurchsuchung.

Personen, die leicht von den syrischen Behörden als regierungskritisch wahrgenommen werden, oder die Sympathisanten sind oder Verbindungen zur Opposition haben, werden wahrscheinlich internationalen Schutz wegen ihrer auch nur unterstellten politischen Gesinnung benötigen. Der reine Verdacht einer solchen Haltung reicht aus, um eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung auszulösen.

Die nachstehend aufgeführten Risikoprofile sind nicht unbedingt abschließend und können sich überschneiden. Die Reihenfolge der aufgeführten Profile impliziert keine Hierarchie. Die Profile basieren auf Informationen, die UNHCR zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Dokuments vorlagen. Ein Antrag sollte daher nicht automatisch als unbegründet erachtet werden, weil er keinem hier aufgeführten Profil entspricht.

–        Personen, die tatsächlich oder vermeintlich in Opposition zur Regierung stehen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder politischer Oppositionsparteien; Aufständische, Aktivisten und sonstige Personen, die als Sympathisanten der Opposition angesehen werden; Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen bzw. Personen, die als Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen angesehen werden; Wehrdienstverweigerer und Deserteure der Streitkräfte; Mitglieder der Regierung und der Baath-Partei, die ihre Ämter niedergelegt haben; Familienangehörige von tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegnern sowie andere Personen, die mit tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegnern in Verbindung gebracht werden; Zivilisten, die in vermeintlich regierungsfeindlichen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben.

–        Personen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung unterstützen, einschließlich, jedoch nicht beschränkt auf Mitglieder von Parteien, die der Regierung verbunden sind; tatsächliche und vermeintliche Mitglieder von Streitkräften der Regierung sowie Zivilbürger, von denen angenommen wird, dass sie mit Streitkräften der Regierung zusammenarbeiten; Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung unterstützen; Zivilisten, die in vermeintlich regierungsnahen städtischen Nachbarschaften, Städten und Dörfern leben.

–        Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von ISIS sind, und sich in Gebieten aufhalten, in denen ISIS de facto die Kontrolle oder Einfluss ausübt.

–        Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner bewaffneter oppositioneller Gruppen sind, und sich in Gebieten aufhalten, in denen diese Gruppen de facto die Kontrolle ausüben.

–        Personen, die tatsächliche oder vermeintliche Gegner von PYD/YPG sind und sich in Gebieten aufhalten, in denen PYD/YPG de facto die Kontrolle ausüben.

–        Angehörige bestimmter Berufsgruppen, insbesondere Journalisten und andere in der Medienbranche tätige Personen, Laienjournalisten; Ärzte und andere im Gesundheitswesen tätige Personen;

–        Menschenrechtsaktivisten; humanitäre Helfer; Künstler; Unternehmer und andere Personen, die tatsächlich oder vermeintlich vermögend oder einflussreich sind.

–        Mitglieder religiöser Gruppen, einschließlich Sunniten, Alawiten, Ismailis, Zwölfer-Schiiten, Drusen, Christen und Jesiden.

–        Personen, die vermeintlich gegen die Scharia verstoßen und in Gebieten leben, die unter der Kontrolle oder dem Einfluss extremistischer islamistischer Gruppen stehen.

–        Angehörige ethnischer Minderheiten, einschließlich Kurden, Turkmenen, Assyrer, Tscherkessen und Armenier.

–        Frauen, insbesondere Frauen ohne Schutz durch Männer, Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt, von Kinder- und Zwangsheirat, häuslicher Gewalt, Verbrechen zur Verteidigung der Familienehre („Ehrendelikt“) und Menschenhandel wurden, oder einem entsprechenden Risiko ausgesetzt sind.

–        Kinder, insbesondere Kinder, die in der Vergangenheit festgenommen wurden, oder die einem entsprechenden Risiko ausgesetzt sind; sowie Kinder, die Opfer von Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten, sexueller und häuslicher Gewalt, Kinderarbeit, Menschenhandel und systematischer Verweigerung des Zugangs zu Bildungsangeboten wurden, oder die einem entsprechenden Risiko ausgesetzt sind.

–        Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung und/oder geschlechtlicher Identität.

–        Palästinensische Flüchtlinge.

Prinzipiell können Syrer_innen unter Verwendung ihrer Pässe (oder ID-Karten für den Libanon) das Land über jeden Grenzposten, der in Betrieb ist, verlassen. Personen, die ohne gültige Ausweise, nicht über offizielle Grenzübergänge oder ohne Genehmigung ein- oder ausreisen, können mit Haft oder einer Geldstrafe belegt werden.

Eine Ausreisegenehmigung benötigen Beamte/Beamtinnen (von ihrem Ministerium/ihrer Dienststelle); Berufssoldaten (die, die ohne Genehmigung das Land verlassen, werden wie Deserteure behandelt); Kinder (benötigen die schriftliche Zustimmung des Vaters); Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 42 (benötigen die Zustimmung der Einrichtung, die Einberufungen vornimmt. Nach Informationen des UNHCR betrifft diese Genehmigungspflicht auch Personen, die eine Ausnahmegenehmigung haben; nach Ablauf der Ausnahmegenehmigung wird erwartet, dass sie zum Militärdienst antreten, andernfalls werden sie als Wehrdienstverweigerer angesehen).

1.3.4.  Religionsfreiheit

In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass der syrische Präsident Muslim sein muss, und dass die islamische Rechtsprechung eine Hauptquelle des Gesetzes darstellt (USDOS 15.8.2017). Die Behandlung von Angelegenheiten des Personenstandsrechtes erfordert die Zugehörigkeit jedes Bürgers zum Christentum, Islam oder Judentum, und die Personen falten unter die jeweilige Gesetzgebung ihrer religiösen Gruppe in Fällen von Eheschließungen oder Scheidung (USDOS 15.8.2017; vgl. Eijk 2013). Die Religionszugehörigkeit einer Person wird nicht auf der Identitätskarte vermerkt, muss jedoch beim Zivilregister registriert werden. Es ist nicht möglich, „keine Religion“ zu haben. Atheisten existieren in Syrien nicht, zumindest nicht laut dem Zvilregister (Eijk 2013). Das Gesetz schränkt Missionierung und Konversionen ein. Es verbietet die Konversion vom Islam zu anderen Religionen, erkennt die Konversion zum Islam jedoch an. Das Strafgesetz verbietet auch „das Verursachen von Spannungen zwischen religiösen Gemeinschaften“ (SWP 5.2014; vgl. USDOS 15.8.2017). Ein zum Islam konvertierter Erwachsener kann außerdem nicht zu seinem ursprünglichen Glauben zurück konvertieren (Eijk 2013).

Am Beginn des Konfliktes waren Angriffe auf Minderheiten kein zentraler Bestandteil des Krieges, wobei manche Minderheiten der Gewalt mehr ausgesetzt waren als andere. Die Handlungen von Seiten des Regimes haben jedoch dazu beigetragen, dass die konfessionelle Dimension des Konfliktes eskalierte, was zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, auf Basis ihrer Identität und wahrgenommenen Verbindung mit der Regierung oder der Opposition, führte (MRG 12.7.2016; vgl. Welt 4.4.2016). Auch die vermehrte Beteiligung von internationalen Akteuren verstärkte die konfessionellen Spannungen (MRG 12.7.2016).

Die syrische Regierung und die mit ihr verbündeten schiitischen Milizen töten, verhaften und misshandeln Sunniten und Mitglieder von bestimmten Minderheiten physisch, als Teil der Bemühungen den bewaffneten Aufstand von oppositionellen Gruppierungen niederzuschlagen. Laut mehreren Beobachtern des Konfliktes wandte das Regime Taktiken an, die darauf abzielten die extremsten Elemente der sunnitisch-islamistischen Opposition zu stärken, um den Konflikt dahingehend zu formen, dass dieser als ein Konflikt gesehen wird, in dem eine religiös moderate Regierung einer religiös extremistischen Opposition gegenübersteht. Die Revolution wurde somit mit der sunnitischen Bevölkerung assoziiert, die Regierung zielte Berichten zufolge auf Städte und Nachbarschaften mit Belagerung, Beschuss und Luftangriffen auf Basis der Religionszugehörigkeit der Bewohner ab. Während sich Rebellen in Statements und Veröffentlichungen explizit als sunnitische Araber oder sunnitische Islamisten identifizierten und eine Unterstützerbasis haben, die fast ausschließlich aus Sunniten besteht, und dadurch das Abzielen der Regierung konfessionell motiviert erscheint, merkten Beobachter jedoch an, dass zweifellos auch andere Motivationen für die Gewalt existierten. Experten argumentierten, dass Gewalt auf beiden Seiten oft religiös motiviert sei (USDOS 15.8.2017). Auch der IS ist für Menschenrechtsverletzungen Sunniten gegenüber verantwortlich (USDOS 2.6.2016; vgl. USDOS 3.3.2017).

1.3.5.  Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Für männliche Syrer und Palästinenser, welche in Syrien leben, ist ein Wehrdienst von 18 oder 21 Monaten ab dem Alter von 18 Jahren verpflichtend, außerdem gibt es einen freiwilligen Militärdienst. Frauen können ebenfalls freiwillig einen Militärdienst ableisten (CIA 19.10.2016; vgl. FIS 23.8.2016). Seit Jahren versuchen immer mehr Männer die Rekrutierung zu vermeiden, indem sie beispielsweise das Land verlassen oder bewaffneten Gruppen beitreten, die das Regime unterstützen. Jenen, die den Wehrdienst verweigern, oder auch ihren Familienangehörigen, können Konsequenzen drohen (FIS 23.8.2016).

Es ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß die Rekrutierung durch die syrische Armee in verschiedenen Gebieten Syriens, die unter der Kontrolle verschiedener Akteure stehen, tatsächlich durchgesetzt wird, und wie dies geschieht (FIS 23.8.2016).

In der syrischen Armee herrscht zunehmende Willkür und die Situation kann sich von einer Person zur anderen unterscheiden (FIS 23.8.2016).

Oppositionsgruppen haben ihre eigenen Vorgangsweisen bei der Rekrutierung, und die Situation kann von der jeweils verantwortlichen Person abhängen (FIS 23.8.2016).

Regierungseinheiten, Pro-Regime-Milizen, bewaffnete oppositionelle Gruppen und terroristische Organisationen rekrutieren Kinder und nutzen sie als Soldaten, menschliche Schutzschilde, Selbstmordattentäter, Henker und auch in unterstützenden Funktionen. Kinder werden als Zwangsarbeiter oder Informanten benutzt, wodurch sie dem Risiko von Vergeltungsakten oder extremen Bestrafungen ausgesetzt sind. Manche bewaffneten Gruppierungen, die auf der Seite der Regierung kämpfen, zwangsrekrutieren Kinder - manche nicht älter als 6 Jahre (USDOS 30.6.2016).

Der IS setzt aktiv Kinder - manche lediglich 8 Jahre alt - in Kampfhandlungen ein, teils auch bei der Enthauptung von Soldaten des syrischen Regimes. Der IS zielt bewusst auf Kinder ab, um diese zu indoktrinieren und nutzt Schulen für militärische Zwecke, wodurch Kinder gefährdet werden und ihr Zugang zu Bildung eingeschränkt wird (USDOS 30.6.2016).

Auch die Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) rekrutieren Burschen und Mädchen, indoktrinieren sie und bringen sie in Trainings-Camps (USDOS 30.6.2016).

Die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen geschieht im Allgemeinen auf freiwilliger Basis. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS 14.12.2018; vgl. DRC/DIS 8.2017). Der soziale Druck sich diesen Gruppierungen anzuschließen, ist jedoch stark. In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen. Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in die Strukturen der syrischen Armee zu integrieren (FIS 14.12.2018), indem sie Mitglieder der Milizen, welche im wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die syrische Armee zwingt (MEI 18.7.2019). Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr möglich, durch den Dienst in einer lokalen Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der deutlich höheren Bezahlung der Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen, Milizen in die syrische Armee zu integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.7.2019). Regierungstreue Milizen haben sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt (FIS 14.12.2018).

Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Die Frage ist, ob man sich dem Druck seitens der Milizen und der Gesellschaft entziehen kann. Zwangsrekrutierung per se durch Milizen ist nicht dokumentiert, aber Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen, sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten ein Problem. So herrscht Z.B. in Idlib, wo es zahlreiche Gruppierungen gibt, großer Druck sich einer bewaffneten Gruppierung anzuschließen, wobei auch die Bezahlung eine Motivation darstellen kann (STDOK 8.2017).

1.3.5.1. Die syrischen Streitkräfte-Wehr- und Reservedienst

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (OB 29.9.2020). Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom l. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR 12.5.2007). Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 12.8.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA 13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Nach dem Ausbruch des Konfliktes stellte die syrische Regierung die Abrüstung von Rekruten, welche den verpflichtenden Wehrdienst geleistet hatten, ein (DIS 5.2020; vgl. OB 7.2019). 2018 wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen, welche seit 2011 im Dienst waren. Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch auch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020).

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt Z.B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen, andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird (STDOK 8.2017).

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (TIMEP 6.12.2018). Die syrische Regierung hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Der Personalbedarf des syrischen Militärs bleibt unverändert hoch, und seit Dezember 2018 haben sich die Rekrutierungsbemühungen aufgrund dessen sogar noch verstärkt (AA 4.12.2020).

Während ein Abkommen zwischen den überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) und der syrischen Regierung vom November 2019 die Stationierung von Truppen der syrischen Streitkräfte in vormals kurdisch kontrollierten Gebieten vorsieht, hat die syrische Regierung aufgrund von mangelnder Verwaltungskompetenz bislang keinen verpflichtenden Wehrdienst in diesen Gebieten wiedereingeführt (DIS 5.2020) [Anm.: zum Wehrdienst bei Einheiten der SDF siehe Kapitel „Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)“.]

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020).

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen. Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS 5.2020).

Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018). So errichtet die Militärpolizei beispielsweise in Homs stichprobenartig und nicht vorhersehbar Straßenkontrollen. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020).

Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara'a und Homs) immer noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB 3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht, um erneute Aufstände zu vermeiden. Weiters rekrutieren die syrischen Streitkräfte in Lagern für Binnenvertriebene (DIS 5.2020).

Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen, bzw. konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (OB 29.9.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als von allgemeinen Einberufungsregelungen.

Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über 42-jährigen Rückkehrern aus dem Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).

Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden. Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu ermitteln (ICG 13.2.2020).

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74 und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet. Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert werden (SANA 8.11.2017; vgl. SU 10.11.2017, PAR 15.11.2017).

1.3.5.2. Die Kräfte der Nationalen Verteidigung (National Defence Forces - NDF)

Die Kräfte der Nationalen Verteidigung (National Defence Forces - NDF), sind das größte Netzwerk von Milizen in Syrien (CMEC 2.3.2015; vgl. DIS 26.2.2015). Das Netzwerk verfügt über eine 2013 gegründete Dachorganisation für verschiedene, mit dem Regime alliierte Milizen und paramilitärische Gruppierungen. Die genaue Mannstärke der NDF ist nicht bekannt, Schätzungen reichen jedoch von 60.000 bis 100.000 Mitgliedern. Kämpfer der NDF gelten als dem Regime loyaler als die Wehrdienstleistenden in der Armee. Die Vorgehensweise der NDF variiert stark zwischen den einzelnen Gebieten. In manchen Gebieten sind Gruppierungen der NDF disziplinierter und in anderen agieren sie eher wie bewaffnete und gewalttätige Banden (FIS 23.8.2016).

In den NDF sind auch Gruppen organisiert, die auf religiöser Zugehörigkeit basieren. So gibt es zum Beispiel eigene Gruppen für Alawiten oder Christen. Manchmal findet die Rekrutierung zu den NDF auf Stammesbasis statt. Rekrutierung durch den Stamm ist vor allem in ländlichen Gegenden wichtig (FIS 23.8.2016). Die NDF sind unter Provinzkommandeuren organisiert (CMEC 2.3.2015). Indem man den NDF beitritt, kann man den Wehrdienst bei der syrischen Armee vermeiden und den eigenen Einsatzort besser beeinflussen und entscheiden, um in der Nähe der eigenen Familie stationiert zu werden. Dies macht den Dienst bei den NDF für jene attraktiver, die sich weigern, zur Armee zu gehen, weil sie dann von zu Hause weggeschickt würden (FIS 23.8.2016).

Der Beitritt zu den NDF ist grundsätzlich freiwillig und anders als in der Armee kann man einen Vertrag unterschreiben, um eine begrenzte Zeit bei den NDF zu dienen. Junge Menschen treten den NDF bei, um in der Nähe ihrer Familien bleiben zu können, um Geld zu verdienen oder eine Waffe zu bekommen. Die Bevölkerung traut diesen Gruppen mehr als der Armee, ihr Fundament sind regionale und lokale Netzwerke. Obwohl generell der Beitritt zu den NDF freiwillig geschieht, kann auch sozialer Druck herrschen, den NDF beizutreten (FIS 23.8.2016).

Milizen der NDF sollen auch Kinder zwangsrekrutiert haben (USDOS 30.6.2016). Es gab Fälle in denen junge Männer von 16 oder 17 Jahren rekrutiert wurden, da die NDF nicht dem Gesetz unterstehen. Rekruten der NDF bekommen einen Identitätsausweis. Als dezidiert Freiwillige sind Angehörige der NDF bei Rebellen verhasster, als reguläre Soldaten - die unter Umständen zwangsrekrutiert worden sind, weshalb diese in noch größere Gefahr laufen, bei Gefangennahme getötet zu werden (FIS 23.8.2016).

1.3.5.3. Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) sind der bewaffnete Flügel der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) (FIS 23.8.2016). Bis 2014 war der Militärdienst bei der YPG freiwillig. Seit 2014 gibt es jedoch in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung zum verpflichtenden Wehrdienst. Jede Familie ist dazu verpflichtet, ein Familienmitglied im Alter von 18 bis 30 Jahren als „Freiwilligen“ für einen sechsmonatigen Wehrdienst bei der YPG aufzubieten. Wird dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, kommt es zu Zwangsrekrutierungen, sowohl von Erwachsenen als auch von Minderjährigen, oder zu rechtlichen Konsequenzen (KurdWatch 30.6.2016; vgl. SEM 21.12.2015). Das Grundproblem dieses Gesetzes besteht zum einen darin, dass es nicht von einer dazu legitimierten staatlichen Instanz beschlossen wurde, sondern von einem von der PYD eingesetzten Gremium. Beim bewaffneten Arm der PYD, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), handelt es sich nicht um eine quasistaatliche Armee, sondern um eine Parteimiliz. Zum anderen sieht das Gesetz keine Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen vor (KurdWatch 5.2015).

1.3.5.4. Wehrdienstverweigerung / Desertion

Es gab Amnestien der syrischen Regierung, um Deserteure und Wehrdienstverweigerer zu ermutigen, sich zum Dienst zu melden (FIS 23.8.2016; vgl. Reuters 20.7.2016). Es ist jedoch nicht bekannt, ob Männer, die dieses Angebot in Anspruch nehmen, Konsequenzen erfahren oder nicht (FIS 23.8.2016). Besonders aus dem Jahr 2012 gibt es Berichte von desertierten syrischen Soldaten, welche gezwungen wurden, auf unbewaffnete Zivilisten und Protestierende, darunter Frauen und Kinder, zu schießen. Falls sie sich weigerten, wären sie Gefahr gelaufen, erschossen zu werden (AI 6.2012).

Auf Desertion steht die Todesstrafe. Es ist jedoch nicht bekannt, wieweit die Todesstrafe wirklich angewendet wird. Ein Deserteur würde jedoch zumindest inhaftiert werden. Wenn ein Deserteur an einem Checkpoint rekrutiert wird, kann er direkt zum Dienst - auch an die Front - oder ins Gefängnis geschickt werden. Die Konsequenzen für Desertion hängen vom Bedarf an der Front und von der Position und dem Rang des Deserteurs ab. Für ,desertierte‘, vormals bei der Armee arbeitende Zivilisten gelten dieselben Konsequenzen wie für einen Deserteur. Solche Personen werden als Verräter angesehen, weil sie über Informationen über die Armee verfügen (FIS 23.8.2016).

Auch Familien von Deserteuren oder Wehrdienstverweigerern haben mit Konsequenzen zu rechnen. Eine Familie könnte von der Regierung unter Druck gesetzt werden, wenn der Deserteur dadurch vielleicht gefunden werden kann. Familienmitglieder (auch weibliche) können festgenommen werden, um den Deserteur dazu zu bringen, sich zu stellen. Manchmal wird ein Bruder oder der Vater eines Deserteurs ersatzweise zur Armee rekrutiert (FIS 23.8.2016).

Wenn ein Wehrdienstverweigerer von den Behörden aufgegriffen würde, würde er verhaftet und überprüft werden. Anschließend könnte die Person zum Dienst in der Armee geschickt werden. Die Konsequenzen hängen jedoch vom Profil und den Beziehungen der Person ab. Wenn es eine Verbindung zu einer oppositionellen Gruppe gibt, wären die Konsequenzen ernster (DIS 26.02.2015).

1.3.6.  Behandlung nach Rückkehr

Im Juli 2020 zählte die syrische Bevölkerung geschätzte 19,4 Millionen Menschen (CIA 12.8.2020). Im Jahr 2020 registrierte UNOCHA in Syrien rund 1,8 Millionen Binnenvertriebene. Ca. 450.000 Binnenvertriebene kehrten in diesem Jahr dagegen zurück (UNOCHA 8.2.2021). Mit Ende September 2020 waren 5.565.954 Personen in den Nachbarländern Syriens und in Nordafrika als syrische Flüchtlinge registriert. 2019 sind laut UNHCR insgesamt etwa 95.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt, im Zeitraum Jänner-Juli 2020 waren es rund 22.000 (UNHCR 96 23.9.2020). Weder IDPs noch Flüchtlinge sind notwendigerweise in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle, wie Fragen des Wiederaufbaus und die Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind (FIS 14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie durch die Region bestimmt, in welche die Rückkehr erfolgt, sondern entscheidend ist vielmehr, wie Rückkehrer von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen werden (AA 4.12.2020).

Eine Studie der Weltbank ergab, dass die Sicherheitslage in Syrien ein wesentlicher Bestimmungsfaktor bei Rückkehrentscheidungen ist. Flüchtlinge kehren mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Distrikte zurück, in welchen es zu intensiven Kämpfen kam. Auch die geringe Versorgung mit Bildung, Gesundheit und grundlegenden Dienstleistungen in Syrien hält Personen von einer Rückkehr ab. Die Bedingungen im Gastland haben komplexe Auswirkungen auf Rückkehrentscheidungen, wobei eine geringere Lebensqualität im Gastland die Rückkehrwahrscheinlichkeit nicht immer erhöht (WB 2020).

Als wichtiger Grund für eine Rückkehr wurde auch der Wunsch nach Familienzusammenführung genannt (UNHCR 7.2018). Neben der allgemein volatilen Sicherheitslage bleibt mangelnde persönliche Sicherheit verbunden mit der Angst vor staatlicher Repression weiterhin das wichtigste Hindernis für eine Rückkehr (AA 19.5.2020; vgl. SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Rückkehrüberlegungen von syrischen Männern werden auch von ihrem Wehrdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019).

Über die Zustände, in welche die Flüchtlinge zurückkehren und die Mechanismen des Rückkehrprozesses ist wenig bekannt. Da Präsident Assad die Kontrolle über große Gebiete wiedererlangt, sind immer weniger Informationen verfügbar (EIP 6.2019). UNHCR erhielt vom Regime auch im Jahr 2020 nur stark eingeschränkten Zugang in Syrien und konnte daher weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren. Mittlerweile wurde ein Mechanismus zur Meldung solcher Fälle durch UNHCR beim Regime eingerichtet (AA 4.12.2020). Die Behandlung von Einreisenden ist stark vom Einzelfall abhängig und über den genauen Wissensstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer gibt es keine gesicherten Kenntnisse (OB 29.9.2020).

Bereits im Jahr 2017 haben die libanesischen Behörden trotz des Konfliktes und begründeter Furcht vor Verfolgung vermehrt die Rückkehr syrischer Flüchtlinge gefordert. Eine kleine Anzahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Abkommen nach Syrien zurückgekehrt. Diese

Rückkehrbewegungen werden nicht von UNHCR überwacht. Einige Flüchtlinge kehren aufgrund der harschen Politik der Regierung ihnen gegenüber und sich verschlechternden Bedingungen im Libanon nach Syrien zurück, und nicht, weil sie der Meinung sind, dass Syrien sicher sei. Gemeinden im Libanon haben Tausende von Flüchtlingen in Massenausweisungen/Massenvertreibungen ohne Rechtsgrundlage oder ordnungsgemäßes Verfahren vertrieben. Zehntausende sind weiterhin der Gefahr einer Vertreibung ausgesetzt (HRW 17.1.2019).

Obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN 1.10.2019; SD 6.5.2020), sind aufgrund der Sicherheitslage und wirtschaftlichen Situation in Syrien bislang nur eine geringe Zahl Syrer wieder nach Syrien zurückgekehrt (SD 6.5.2020).

Die Türkei beherbergt etwa 3,65 Millionen syrische Flüchtlinge (DGMM 3.2.2021). Im Juli 2019 änderte sich die Einstellung der türkischen Regierung ihnen gegenüber. Nach maßgeblichen Verlusten bei lokalen Wahlen und mit dem Wunsch die Kontrolle der Regierung über die Situation zu demonstrieren, begannen türkische Sicherheitskräfte syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben und sie in die türkischen Provinzen, in denen sie registriert waren, zurückzuschicken, bzw. einige von ihnen abzuschieben und andere zu ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). Laut NGO-Berichten haben die türkischen Behörden Flüchtlinge immer wieder festgenommen und sie gezwungen, „freiwillige“ Rückkehrdokumente zu unterzeichnen, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC 8.10.2020).

Es liegen widersprüchliche Informationen vor, ob Personen, die nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen müssen, oder nicht. Laut Deutschem Auswärtigem Amt müssen syrische Flüchtlinge, unabhängig von politischer Ausrichtung, vor ihrer Rückkehr weiterhin eine Überprüfung durch die syrischen Sicherheitsdienste durchlaufen (AA 19.5.2020).

Auch laut International Crisis Group (ICG) stellt unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein rückkehrwilliger Flüchtling wählt, die Sicherheitsfreigabe durch den zentralen Geheimdienstapparat in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) das endgültige Urteil dar, ob es einem Flüchtling möglich ist sicher nach Hause zurückzukehren (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtet der Danish Immigration Service (DIS) auf Basis von Interviews, dass Syrer, die außerhalb Syriens wohnen und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsfreigabe benötigen, um nach Syrien zurückzukehren. Weiters berichtete Syria Direct gegenüber DIS, dass lediglich Syrer im Libanon, die über „organisierte Gruppenrückkehr“ nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsfreigabe benötigen (DIS 12.2020).

Ein Punkt, der nach wie vor schwer zu ermitteln ist, ist der Anteil der Antragsteller, denen die Rückkehr nicht genehmigt wurde (ICG 13.2.2020). Er wird von den verschiedenen Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018) angegeben. In vielen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgebiete nicht erlaubt (USDOS 11.3.2020). Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Erfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019). Einige Beobachter und humanitäre Helfer behaupten, dass die Bewilligungsrate für Antragsteller aus Gebieten, die als regimefeindliche Hochburgen identifiziert wurden, nahezu Null ist (ICG 13.2.2020). Kriterien und Anforderungen, um ein positives Ergebnis zu erhalten, sind nicht bekannt. Es gibt Berichte, denen zufolge Rückkehrer trotz positiver Sicherheitsüberprüfung Opfer willkürlicher Verhaftung, Folter oder Verschwindenlassens geworden und vereinzelt in Haft ums Leben gekommen sein sollen (AA 19.5.2020).

Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden, und darum die Genehmigung zur Rückkehr nicht erhalten, sind aufgefordert ihren „Status zu klären“, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). Einem syrischen General zufolge müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren möchten, in der entsprechenden syrischen Auslandsvertretung „Versöhnung“ beantragen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben und Angaben über Tätigkeiten in der Zeit des Auslandsaufenthaltes etc. machen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen dem General zufolge dort ein „Versöhnungsformular“ ausfüllen (DIS 6.2019). Um im Falle der Rückkehr einer Verhaftung zu entgehen, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu bereinigen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gängigsten Mittel und Wege zu diesem Zweck, doch aufgrund ihrer Informalität und der Undurchsichtigkeit des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Sicherheitsfreigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020).

Zwar schützt der Genehmigungsprozess potenzielle Rückkehrer nicht vor Misshandlung durch die Milizen oder zukünftiger Verfolgung, trägt jedoch dazu bei, die Unsicherheit zu verringern, mit der sie konfrontiert sind, und nimmt ihnen damit ein Element der Abschreckung (ICG 13.2.2020). Der Sicherheitssektor kontrolliert den Rückkehrprozess in Syrien. Die Sicherheitsdienste institutionalisieren ein System der Selbstbeschuldigung und Informationsweitergabe über Dritte, um große Datenbanken mit Informationen über reale und wahrgenommene Bedrohungen aus der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Um intern oder aus dem Ausland zurückzukehren, müssen Geflüchtete umfangreiche Formulare ausfüllen (EIP 6.2019).

Gesetz Nr. 18 von 2014 sieht eine Strafverfolgung für illegale Ausreise in der Form von Bußgeldern oder Haftstrafen vor. Entsprechend einem Rundschreiben wurde die Bestrafung für illegale Ausreise jedoch aufgehoben und Grenzbeamte sind angehalten, Personen, die illegal ausgereist sind, „bei der Einreise gut zu behandeln“ (DIS 6.2019).

Syrer benötigen in unterschiedlichen Lebensbereichen eine Sicherheitsfreigabe von den Behörden, so z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäftes, eine Eheschließung und Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnsitz zu wechseln, für Wiederaufbautätigkeiten oder auch, um eine Immobilie zu kaufen (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsfreigabe kann auch Informationen enthalten, Z.B. wo eine Person seit dem Verlassen des konkreten Gebietes aufhältig war. Der Genehmigungsprozess könnte sich einfacher gestalten für eine Person, die in Damaskus aufhältig war, wohingegen der Aufenthalt einer Person in Orten wie Deir ez-Zour zusätzliche Überprüfungen nach sich ziehen kann. Eine Person wird für die Sicherheitserklärung nach Familienmitgliedern, die von der Regierung gesucht werden, befragt, wobei nicht nur Mitglieder der Kern- sondern auch der Großfamilie eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018).

Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens erlaubt die Regierung die Wohnsitzänderung aktuell nicht. Wenn es darum geht, wer in seinen Heimatort zurückkehren kann, können einem Experten zufolge ethnisch-konfessionelle aber auch praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Ehemalige Bewohner von Homs müssen auch Jahre nach der Wiedereroberung durch die Regierung noch immer eine Sicherheitsüberprüfung bestehen, um in ihre Wohngebiete zurückkehren und ihre Häuser wieder aufbauen zu können (TE 28.6.2018; vgl. CMEC 15.5.2020). Syrer, die nach Syrien zurückkehren, können sich nicht an jedem Ort, der unter Regierungskontrolle steht, niederlassen. Die Begründung eines Wohnsitzes ist nur mit Bewilligung der Behörden möglich (OB 21.8.2019). Das syrische Innenministerium kündigte Anfang 2019 an, keine Sicherheitserklärung mehr als Voraussetzung für die Registrierung eines Mietvertrages bei Gemeinden zu verlangen (SU 29.1.2019; vgl. OB 10.5.2019), sondern Mietverträge werden dort registriert und die Daten an die Sicherheitsbehörden weitergeleitet (OB 10.5.2019), sodass die Sicherheitsbehörden nur im Nachhinein Einspruch erheben können. Abgesehen von Damaskus wurde dies bisher nicht umgesetzt (OB 21.8.2019). Außerhalb von Damaskus muss die Genehmigung nach wie vor eingeholt werden. Auch hinsichtlich Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend - für alle Gebiete unter Regierungskontrolle - von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (OB 29.9.2020).

Einige zuvor von der Opposition besetzte Gebiete sind für Personen, die in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren möchten, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um ein (Wieder-)Entstehen des sozialen Umfelds, das den Aufstand verursachte, zu verhindern. Einige Gebiete, die nominell vom Regime kontrolliert werden, wie Dara'a, die Stadt Deir ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs, sind für Rückkehrer unwirtlich, nämlich aufgrund der schweren Zerstörungen, der Herrschaft übergriffiger regimefreundlicher Milizen und der die Sicherheitslage betreffenden Aspekte, wie Angriffe durch den sogenannten Islamischen Staat (IS), oder infolge einer Kombination aus allen drei Aspekten (ICG 13.2.2020).

Eine Reihe von Vierteln in Damaskus bleibt teilweise oder vollständig geschlossen, selbst für Zivilisten, welche die Wohnviertel nur kurz aufsuchen wollen, um nach ihren ehemaligen Häusern zu sehen (SD 19.11.2018). Beispielsweise durften Bewohnerinnen und Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch zwei Jahre, nachdem das Regime die Kontrolle wiedererlangt hat, weitgehend noch nicht zurückkehren (EB 8.7.2020), bzw. erhielten nach Angaben von Aktivisten bislang nur wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsfreundlichen Milizen und ältere Bewohner die Erlaubnis, zurückzukehren (MEI 6.5.2020).

Sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch die Vereinten Nationen prangern umstrittene Wohn- und Eigentumsgesetze des Regimes an, die, wie beispielsweise das Dekret Nr. 42/2018 oder das Gesetz Nr. 10, zur Enteignung von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen führen können. Der Wiederaufbau schreitet nur langsam voran. Insbesondere große Teile der syrischen Städte sind im Konfliktverlauf zerstört worden. Auch mittel- bis langfristig werden sie nicht bewohnbar sein. Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge reißt das Regime beschädigte Häuser und Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten ab (AA 19.5.2020; BS 29.4.2020).

Es ist wichtig, dass Rückkehrer in ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann auf ein soziales Netzwerk und/oder ihren Stamm zurückgreifen können. Jenen, die aus dem Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, fehlt ein solches Sicherheitsnetz (MOFANL 7.2019).

Es ist schwierig, Informationen über die Lage von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer (TN 10.12.2018), oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen der Regierung nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder sogar mit Verwandten sprechen, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt sind (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es, wohl auch aufgrund deren geringen Zahl, keine Angaben (OB 29.9.2020).

Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle, wie einem Checkpoint, von unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Personals am Kontrollpunkt oder praktische Probleme, wie die Namensgleichheit mit einer von der Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite zu gewärtigen haben, wie Festnahme und im Zuge dessen auch Folter. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet gearbeitet hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien, wie Angriffe der Regierung, verbreitet haben sowie allgemein Personen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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