TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/19 W203 2134964-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.05.2021
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Entscheidungsdatum

19.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W203 2134964-3/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.10.2019, Zl. 1099549402/180628446 zu Recht:

A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird behoben.

II. XXXX wird eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 19.05.2023 erteilt.

B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), idgF, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 18.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.08.2016 (im Folgenden: belangte Behörde) wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollinhaltlich abgewiesen und gegen diesen eine Rückkehrentscheidung erlassen.

3.       Mit am 12.06.2017 mündlich verkündetem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und diesem eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 12.06.2018 erteilt.

Durch das Bundesverwaltungsgericht wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines lebenslangen Aufenthaltes im Iran Farsi spreche. Der Beschwerdeführer sei in Afghanistan geboren worden und habe seinen Herkunftsstaat im Alter von einem Jahr mit seiner Familie verlassen. Dessen Eltern würden aus Pol-e Chomri stammen, würden im Iran leben und seien auf Grund ihres fortgeschrittenen Lebensalters nicht mehr erwerbstätig. Die Schwester des Beschwerdeführers und deren Ehemann würden in Afghanistan leben. Der Beschwerdeführer habe zu seinen Angehörigen in Afghanistan keinen Kontakt mehr, ein Kontakt zur in Afghanistan lebenden Schwester sei auf Grund der familiären Auseinandersetzungen nicht möglich. Sonst habe der Beschwerdeführer keine Verwandten, Bekannte oder Freunde in Afghanistan. Auf Grund des fehlenden familiären bzw. sozialen Netzes könne der Beschwerdeführer in Afghanistan in eine existenzbedrohende Notlage geraten. Der Beschwerdeführer habe als Einjähriger Afghanistan verlassen und habe somit nahezu sein gesamtes Leben im Iran verbracht. Der Beschwerdeführer habe außer seiner Abstammung keinen Bezug zum Herkunftsstaat Afghanistan. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers würde einer Neuansiedelung gleichkommen. Eigenen Angaben zufolge sei der Beschwerdeführer im Iran drei Jahre lang zur Schule gegangen und habe ebendort ein Jahr als Tischler (Hilfsarbeiter) und als Kuhhirte gearbeitet.

Begründet wurde die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten damit, dass es sich bei dem Beschwerdeführer zwar um einen arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann handle, bei dem die Teilnahme am Erwerbsleben grundsätzlich vorausgesetzt werden könne. Einer Rückkehr bzw. vielmehr einer Neuansiedelung des Beschwerdeführers in Afghanistan bzw. in Kabul stehe allerdings neben seiner familiären Situation auch seine fehlende Kenntnis der dortigen örtlichen Gegebenheiten entgegen. In Afghanistan wäre der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr auf sich alleine gestellt und gezwungen – wenn auch nur vorläufig – Wohnraum zu suchen, ohne jedoch über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Die Neuansiedelung des Beschwerdeführers in Afghanistan erscheine daher unter den dargelegten Umständen zurzeit als unzumutbar, da der Beschwerdeführer außer seiner Herkunft keinerlei Bezug zum Herkunftsstaat habe. Die belangte Behörde habe zu Unrecht den Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Ständige Judikatur des Bundesverwaltungsgerichtes sei, dass eine Rückkehr nach Afghanistan allenfalls dann zumutbar sei, wenn der Betroffene vor Ort über ein ausreichendes soziales und wirtschaftliches Netz verfügt, welches die vertretbare Annahme zulasse, dass dem Rückkehrer notwendige Unterstützung zuteilwerden würde. Da sich im Verfahren ergeben habe, dass Derartiges in keiner Weise vorhanden sei, könne schon aus diesem Grund nicht mit erforderlicher Gewissheit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die einer unmenschlichen Behandlung im Sinne Artikel 3 EMRK gleichzuhalten wäre.

4.       Am 22.05.2018 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf „Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs 4 AsylG 2005“.

5.       Am 04.07.2018 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen und gab zusammengefasst wie folgt an:

Er sei gesund und nehme keine Medikamente ein. Er habe einen A1 und einen A2 Deutschkurs absolviert und beginne am 23.07. seinen „Durchschulungskurs“. Der Beschwerdeführer habe ehrenamtlich in der Gemeinde Gartenarbeiten erledigt. Er würde gerne als Installateur arbeiten, ein Praktikum habe er noch nicht gemacht, auch habe er noch nicht „geschnuppert“. Sobald er den „B2 Kurs habe“, wolle er den Hauptschulabschluss und eine Lehre machen. Seine Schwester lebe in Afghanistan, mit ihr habe er „vor 1,5 Jahren gesprochen“. Seine Eltern würden ebenso im Iran leben wie auch seine zwei Schwestern und zwei Brüder. Onkel und Tanten würden ebenfalls im Iran leben. Die Schwester des Beschwerdeführers lebe nunmehr ebenfalls im Iran, früher habe diese in Kabul gelebt. Der Beschwerdeführer habe keine Bekannten in Afghanistan. Er könne nicht nach Afghanistan zurückkehren, da es dort unsicher sei und Krieg herrsche. Der Beschwerdeführer hätte „Angst, aus dem Flugzeug zu steigen“, es gebe für ihn dort keine Zukunft. Er habe trotz Verwandtschaft in Kabul Angst, von den Taliban getötet zu werden. Es gäbe dort Anschläge, er würde nicht einmal dem Mann seiner Schwester vertrauen, dieser könnte den Beschwerdeführer an die Taliban „verkaufen“. Dies sei nur ein Beispiel, in Afghanistan würden viele Kinder „verkauft“ werden. Der Beschwerdeführer sei zwar kein Kind mehr, aber noch jung. Die Taliban würden die Schiiten nicht mögen. Es gebe in Afghanistan auch keine Gesetze.

Auf Vorhalt, dass sich die subjektive Lage des Beschwerdeführers geändert habe, da er - insbesondere in Kabul - private Anknüpfungspunkte habe, gab dieser an, dass es in Kabul viele Anschläge gebe und er nicht zu seiner Schwester gehen könne, da diese verheiratet sei. Kabul sei groß, das stimme, aber er habe Angst, dort zu sterben. Er habe kein Geld und keine Freunde, er habe nie in Afghanistan gelebt. Er trinke gerne Alkohol und gehe mit Freunden raus, in Kabul könne er nicht „mit einem Mädchen rausgehen“.

Festgehalten wurde, dass der Dolmetscher angab, dass der Beschwerdeführer „iranischen Dialekt“ spreche.

6.       Mit Bescheid der belangten Behörde vom 06.07.2018 wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und der gestellte Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.) Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde dem Beschwerdeführer eine Frist für die freiwillige Ausreise in der Dauer von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt VI.).

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und zur Situation des Beschwerdeführers im Fall seiner Rückkehr traf die belangte Behörde folgende Feststellungen:

Der Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte in Kabul. Er könne seinen Lebensunterhalt mit der Unterstützung der Familie in Kabul bestreiten.

Begründet wurden diese Feststellungen damit, dass der Beschwerdeführer selbst angegeben habe, dass seine verheiratete Schwester in Kabul lebe. Hinsichtlich weiterer Verwandter in Afghanistan seien Widersprüche in den Einvernahmen aufgetreten. So habe der Beschwerdeführer am 24.05.2016 in der Einvernahme angegeben, dass sich noch weitere Angehörige in Afghanistan aufhielten und sich nur dessen Eltern und Geschwister im Iran befinden würden. Am 04.07.2018 habe der Beschwerdeführer ausgeführt, dass auch Onkel und Tanten im Iran wären und er keine anderen Verwandten mehr in Afghanistan habe. Die belangte Behörde stelle somit fest, dass der Beschwerdeführer Anknüpfungspunkte in Afghanistan habe und auch auf die Unterstützung dieser zählen könnte, da er sonst die Probleme mit dem Schwager, die er bei der Einvernahme vor dem BVwG angegeben habe, erneuert hätte. Der Beschwerdeführer könne bei einer Rückkehr - wenn auch nur kurzfristig - von dessen Schwester und dem Schwager unterstützt werden. Die Länderfeststellungen würden eindeutig belegen, dass trotz der Anschläge in Afghanistan eine Rückkehr für einen arbeitsfähigen, jungen Afghanen als zumutbar einzuschätzen sei. Es könne somit davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr keine Bedrohung zu befürchten hätte, da er eben nur aufgrund der damaligen Sicherheitslage und weil er minderjährig gewesen sei subsidiären Schutz erhalten habe. Es sei eindeutig festzustellen, dass sich die subjektive Bedrohungslage bei einer Rückkehr den Beschwerdeführer betreffend im Vergleich zum „damaligen Zeitpunkt“ geändert habe, da dieser mittlerweile volljährig sei und die Unterstützung durch dessen Schwester in Kabul zumindest in der Anfangszeit gewährleistet sei. Die belangte Behörde sehe es mittlerweile als bewiesen an, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr zumutbar auf die Unterstützung seiner Verwandtschaft zugreifen könne bzw. seien die Rückkehrprogramme, wie z.B. von IOM inzwischen derart manifestiert, dass er auch auf diese zurückgreifen könne. Dass er den Lebensunterhalt in Kabul bestreiten könne, habe aufgrund der entsprechenden Länderfeststellungen festgestellt werden können. Es bestehe kein Zweifel, dass der Beschwerdeführer als erwachsener, gesunder und arbeitsfähiger Mann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, konkret nach Kabul, den Unterhalt für sich bestreiten könnte, umso mehr, als er die dortige Sprache spreche und auch mit den dortigen kulturellen Gepflogenheiten vertraut sei, was auf Österreich nicht zutreffe. Mit Sicherheit kenne er die afghanischen Traditionen und Gepflogenheiten und müsste es ihm aufgrund dessen möglich sein, in seine Heimat zurückzukehren, um sich dort ein neues Leben aufzubauen, zumal er noch über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfüge. Es sei also nichts ersichtlich, was den Beschwerdeführer in eine ausweglose Situation bringen würde. Kabul sei auch absolut sicher erreichbar.

Rechtlich wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer nicht mehr minderjährig sei und somit selbsterhaltungsfähig, weswegen festgestellt werden habe können, dass sich die subjektive Lage des Beschwerdeführers geändert habe. Auch die Familie des Beschwerdeführers könne diesen bei einer Rückkehr unterstützen. Auch könne sich der Beschwerdeführer allenfalls auch ohne familiäre Unterstützung ein Leben in Afghanistan aufbauen. Er sei mittlerweile nicht nur arbeitsfähig, sondern verfüge nunmehr auch über Schulbildung.

7.       Gegen den gegenständlichen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 20.07.2018 Beschwerde.

Begründet wurde diese Beschwerde auf das Wesentliche zusammengefasst wie folgt:

Das Bundesverwaltungsgericht habe die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten mit den allgemein schlechten Lebensbedingungen und damit begründet, dass der Beschwerdeführer kein familiäres Netzwerk in Afghanistan habe, weswegen er in eine ausweglose Lebenssituation geraten würde. Die belangte Behörde habe die Aberkennung des subsidiären Schutzes damit begründet, dass der Sachverhalt, der für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes ausschlaggebend gewesen sei, nicht mehr vorliegen würde. Diese Aussage sei jedoch nicht verständlich, da sich eben genau an dieser Situation nichts verändert habe. Die bloße Behauptung, die Rechtsprechung zur Rückkehr entwurzelter Afghanen habe sich geändert, könne nicht ausreichend sein für eine Aberkennung, einerseits da hier andere Kriterien anzuwenden seien, als bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes und dies andererseits die belangte Behörde nicht von der Verpflichtung entbinde, die aktuelle Lage in Afghanistan zu untersuchen und eventuell mit der Lage zum Zeitpunkt der letztmaligen Verlängerung zu vergleichen. In Afghanistan sei im letzten Jahr in keiner Weise eine Verbesserung der allgemeinen Situation, der Sicherheitslage oder der wirtschaftlichen Situation eingetreten und auch die behördlichen Berichte würden nichts dergleichen zeigen. Auch seien weiterhin in Afghanistan keine Familienangehörigen des Beschwerdeführers aufhältig, die ihm im Falle der Abschiebung einen Rückhalt geben könnten. Der Kenntnisstand der Behörde habe sich nicht verändert, lediglich divergiere die Interpretation der vorliegenden behördlichen Kenntnisse durch den zuständigen Organwalter mit der des entscheidenden Richters des Bundesverwaltungsgerichtes. Der Beschwerdeführer habe den Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht erhalten, da er minderjährig gewesen sei (er sei zum Zeitpunkt der Zuerkennung schon volljährig gewesen) und auch nicht lediglich aufgrund der Sicherheitslage (die sich seitdem nur verschlechtert habe), sondern vor allem aufgrund der Aussichtlosigkeit der Situation, der er im Falle einer Rückkehr ausgesetzt sei, da er im Iran aufgewachsen sei und keine relevanten Bezugspunkte in Afghanistan mehr habe, die ihm helfen könnten. Der angefochtene Bescheid sei daher vor diesem Hintergrund ebenso inhaltlich falsch wie rechtswidrig. Die wirtschaftliche und die allgemeine Situation in Afghanistan sei weiterhin katastrophal und die afghanische Zentralregierung sei nicht einmal ansatzweise in der Lage, eventuelle Rückkehrer zu versorgen, zu unterstützen oder sonst wie eine zumutbare Existenz für eine entwurzelte Person - wie den Beschwerdeführer - sicherzustellen. Die Annahme, Afghanen hätten immer ein familiäres Auffangnetz zur Verfügung, sei einerseits spekulativ und andererseits auch auf den Beschwerdeführer nicht anwendbar, da er durch die Änderungen seines Lebenswandels fundamental von der afghanischen Gesellschaft entfremdet sei. Ein Verweis auf – angebliche - Clannetzwerke gehe daher im vorliegenden Fall ins Leere, da der Beschwerdeführer nicht willig und auch nicht in der Lage sei, sich an die traditionelle Stammesgesellschaft anzupassen und sich deren Regeln zu unterwerfen.

8.       Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.08.2018 wurden die Spruchpunkte I., III., IV., V. und VI. des Bescheides vom 06.07.2018 ersatzlos behoben (Spruchpunkt I.) und Spruchpunkt II. dieses Bescheides dahingehend abgeändert, dass dem Antrag des Beschwerdeführers vom 22.05.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung stattgegeben und diesem eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 12.06.2020 erteilt wurde (Spruchpunkt II.).

Festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer im Alter von einem Jahr gemeinsam mit seiner Familie aus Afghanistan ausgereist sei und seitdem im Iran gelebt habe. Im Iran habe er drei Jahre lang die Schule besucht und habe ein Jahr als Tischler (Hilfsarbeiter) und als Kuhhirte gearbeitet. Die Eltern und die Geschwister des Beschwerdeführers würden nach wie vor im Iran leben, die Eltern seien altersbedingt nicht mehr erwerbstätig. Eine Schwester des Beschwerdeführers, deren Ehemann und Kinder würden in Afghanistan leben, genauer in Kabul. Der Beschwerdeführer habe zuletzt vor etwa eineinhalb Jahren Kontakt zu seiner Schwester gehabt. Mit seiner Schwester pflege der Beschwerdeführer kein gutes Verhältnis. Seit einer Auseinandersetzung mit seinem Schwager sei der Kontakt zu seiner Schwester abgebrochen. Er könne aus diesem Grund im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit keiner Unterstützung seiner Schwester bzw. ihrer Familie rechnen. Auch darüber hinaus habe der Beschwerdeführer in Afghanistan kein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk. Es habe weiters nicht festgestellt werden können, dass die im Iran aufhältige Familie des Beschwerdeführers in der Lage und willens sei, den Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan vom Iran aus finanziell zu unterstützen.

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Beschwerdeführers und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan einschließlich der Stadt Kabul habe nicht festgestellt werden können, dass sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung dieses Status mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.06.2017 wesentlich und nachhaltig geändert hätten.

9.       Am 21.08.2019 wurde die Behörde über eine Reisebewegung des Beschwerdeführers in den Iran vom 20.03.2019 – 03.05.2019 informiert.

10.      Am 14.10.2019 wurde der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. In Rahmen dieser Befragung gab der Beschwerdeführer zusammengefasst wie folgt an:

Der Beschwerdeführer habe in Teheran seine Familie, d.h. seine Eltern, seine zwei Brüder und seine drei Schwestern besucht. Die dritte Schwester habe früher in Kabul, Afghanistan gelebt. Er habe seinen Schwager begrüßt, mehr nicht. Er habe seiner Familie kein Geld geschickt und auch keines von der Familie erhalten. Er könne auch länger im Iran bleiben, er könne dort gratis schlafen und zu essen bekäme er auch. Er habe keine Angehörigen mehr im Heimatland. Nachgefragt gab der Beschwerdeführer an, dass er „die Leute, die es dort gebe“, noch nie gesehen habe und er diese auch nicht kenne. Das seien entfernte Verwandte und er habe nur mit seinen Eltern und seinen Geschwistern zu tun. Er habe keine näheren Informationen zu diesen Verwandten. Er habe nur von seinem Vater gehört, dass sie Familienangehörige in ihrer Heimat hätten. Der Beschwerdeführer habe Afghanistan nie gesehen, seine Familie sei im Iran. Er lebe in Österreich, habe keine Berufsausbildung und kein Geld. Er wisse nicht, wie er dort überleben solle. Er kenne die Kultur in Afghanistan, wenn man dort etwas Falsches tue, könne man Probleme bekommen. Er könne keine Unterstützung von seiner Familie erhalten, da die Leute in Afghanistan selbst Probleme hätten. Die Familie brauche das Geld im Iran selbst, weswegen der Beschwerdeführer keine Unterstützung erhalten könne. Das allerwichtigste sei die Sicherheit, die gebe es in Afghanistan nicht, man könne nicht einmal eine Nacht ruhig schlafen.

11.      Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 18.10.2019 wurde dem Beschwerdeführer – erneut – der diesem mit Erkenntnis vom 12.06.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und ihm die mit Erkenntnis vom 17.08.2018 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen (Spruchpunkt II.). Dem Beschwerdeführer wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.) und gegen diesen eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und es wurde ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise in der Dauer von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gesetzt (Spruchpunkt VI.).

Festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer arbeitsfähig sei und Anknüpfungspunkte im Iran habe. Angehörige in Afghanistan seien „nicht auszuschließen“. Der Beschwerdeführer sei in Österreich „strafrechtlich auffällig geworden“, aber nicht „straffällig geworden“. Der Beschwerdeführer könne auf die Unterstützung seiner Volksgruppe zählen und er überzeuge mit seiner Flexibilität und Aufgeschlossenheit. Er stelle sich in Österreich als eine Person mit einer raschen Auffassungsgabe dar. Er sei anpassungsfähig sowie anpassungswillig.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten lägen aktuell nicht vor. Es liege im Falle des Beschwerdeführers eine Gefährdungslage in Bezug auf seine unmittelbare Heimatprovinz – nicht aber Afghanistan allgemein – vor. Der Beschwerdeführer könne eine IFA (innerstaatliche Fluchtalternative) mit den Städten Mazar-e Sharif und Herat in Anspruch nehmen und würde eben dort Arbeitsmöglichkeiten vorfinden. Die oben genannten (positiven) persönlichen Eigenschaften hätten zum Zeitpunkt der Schutzgewährung vorgelegen, seien der Behörde allerdings nicht bekannt gewesen.

Begründet wurden diese Feststellungen damit, dass hinsichtlich der familiären bzw. sozialen Kontakte in bzw. nach Afghanistan anzuführen sei, dass der Beschwerdeführer selbst angegeben habe, dass seine verheiratete Schwester, welche in Kabul lebe, nunmehr auch im Iran leben solle. Der Beschwerdeführer habe aber von sich aus keine Hinweise gegeben, weshalb die Schwester in den Iran gezogen sei, obwohl offensichtlich die Familie des Ehemannes nach wie vor in Afghanistan „weilen“ müsse. Dieser behauptete Umzug der Schwester in den Iran sei daher als Schutzbehauptung seitens des Beschwerdeführers zu werten, um eine mögliche Verwandtschaft in Afghanistan, von welcher er bei einer Rückkehr Unterstützung erhalten könne, zu verheimlichen, zumal dies im vorhergehenden Aberkennungsbescheid dezidiert so ausgeführt worden sei. Die belangte Behörde stütze sich bei dieser Behauptung auch darauf, dass der Beschwerdeführer von keinen Gesprächen mit seinem Schwager berichtet habe, obwohl der Beschwerdeführer doch angegeben habe, dass er mit diesem ein schlechtes Verhältnis habe. Es wäre somit für die belangte Behörde mehr als plausibel und erwartbar, dass der Beschwerdeführer bei seiner Reise in den Iran, bei der er seinen Schwager getroffen habe, die vorhanden Probleme zu klären versucht hätte. Hinsichtlich weiterer Verwandter in Afghanistan seien solche nach „insistierender Fragestellung“ der belangten Behörde ebenfalls hervorgekommen. So habe der Beschwerdeführer angegeben, dass dessen Vater über Familienangehörige in Afghanistan berichtet habe. Es sei daher für die belangte Behörde mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer über dessen Vater den Kontakt zu möglichen, in Afghanistan „weilenden“ Verwandten wiederherstellen könne. Die Behörde stelle somit fest, dass der Beschwerdeführer familiäre Anknüpfungspunkte im Iran sowie in Afghanistan habe und er auch auf die Unterstützung dieser Personen zählen könne, da der Kontakt mittelbar wiederherstellbar sei. Die belangte Behörde gehe weiters „berechtigter Weise“ davon aus, dass die Familie des Beschwerdeführers in jedem Fall unterstützungswillig sei, so wie der Beschwerdeführer das auch in der Einvernahme angegeben habe und es bestehe auch die Möglichkeit finanzieller Unterstützung durch die Brüder des Beschwerdeführers. Unabhängig davon könne die Familie den Beschwerdeführer auch „anderwertig“, z.B. mit Kontakten oder Wissen um administrative Vorgänge, bei einer Rückkehr unterstützen.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten lägen zum Entscheidungszeitpunkt nicht vor. Zwar sei die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Ghor) nach wie vor als nicht ausreichend stabil zu bewerten, es sei ihm aber eine Neuansiedelung in den Städten Mazar-e Sharif und Herat zuzumuten. Der Beschwerdeführer habe nunmehr Zugriff auf ein familiäres Netz. Außerdem sei zum Zeitpunkt der Schutzgewährung davon ausgegangen worden, dass der Beschwerdeführer als alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Background und ohne finanzielle Unterstützung vor eine ausweglose Lage gestellt gewesen wäre. Nunmehr habe sich vor allem aus den vorgelegten Beweismitteln und den Aussagen des Beschwerdeführers ergeben, dass sich die Ausgangslage „zu den Merkmalen“ der Person des Beschwerdeführers ganz konträr darstelle. Die bereits genannten positiven Attribute wären dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr von hohem Nutzen.

12.      Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 14.11.2019 die gegenständliche Beschwerde und begründete diese wie folgt:

Es habe sich an der Situation nichts verändert und schon gar nicht gebessert. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht nunmehr bereits zweimal festgestellt habe, dass dem Beschwerdeführer subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei, versuche die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid erneut – ohne jeden Anlass, ohne auch nur den Versuch einer Erklärung, was sich angeblich in Afghanistan geändert haben sollte – den subsidiären Schutz abzuerkennen. Woher die belangte Behörde sich das Recht nehme, wiederholte Entscheidungen der übergeordneten Instanz außer Kraft setzen zu können, sei nicht erklärlich. Die belangte Behörde habe im angefochtenen Bescheid keine Informationen angeführt, die dem Bundesverwaltungsgericht nicht bereits vorgelegen seien, an der Situation in Afghanistan habe sich nichts geändert, ebenso wenig an der Situation des Beschwerdeführers. Die Aberkennung des subsidiären Schutzes sei überhaupt nicht nachvollziehbar, zumal es sich beim Beschwerdeführer um eine Person handele, die keine zumutbare Existenz in Afghanistan zu führen in der Lage wäre, wie auch schon von der belangten Behörde festgestellt wurde und was auch durch sein Verhalten in Österreich bestätigt sei. Im vorliegenden Fall könne nicht einmal davon gesprochen werden, dass sich der Kenntnisstand der Behörde in irgendeiner Weise verändert habe, lediglich divergiere die Interpretation der vorliegenden behördlichen Kenntnisse zu jenen im vorherigen Verlängerungsbescheid. Die wiederholten Versuche, dem Beschwerdeführer den subsidiären Schutz zu entziehen, der ihm vom Bundesverwaltungsgericht bereits zwei Mal zugesprochen worden sei, sei eine „reine Schikane“. Offenbar sei die belangte Behörde mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht einverstanden, habe aber auf die Möglichkeit einer „Anhörung der Höchstgerichte“ verzichtet und ebenso keine Wiederaufnahme - etwa wegen des Auftauchens neuer Beweismittel - verzichtet. Erneut Maßnahmen zu starten, dem Beschwerdeführer den subsidiären Schutz zu entziehen, würden jeglicher rechtlichen Grundlage entbehren.

13.      Einlangend am 25.11.2019 wurde die Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde - ohne von der Möglichkeit einer Beschwerdevorentscheidung Gebrauch zu machen - samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

14.      Am 29.04.2020 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht auf Grundlage der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und durch ein Organ der belangten Behörde sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem fest. Aus den diesbezüglichen Angaben und Informationen werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den im Spruch angeführten Namen und ist an dem dort angegebenen Datum geboren. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitischen Islam.

Der Beschwerdeführer stammt aus Pol-e Chomri in der Provinz Ghor. Im Alter von ca. einem Jahr zog der Beschwerdeführer mit seiner Familie in den Iran, wo er auch aufgewachsen ist.

Die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers befindet sich im Iran.

Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten:

Dem Beschwerdeführer wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 12.06.2017 der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 12.06.2018 erteilt.

Am 22.05.2018 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005.

Am 04.07.2018 wurde der Beschwerdeführer durch die belangte Behörde niederschriftlich einvernommen.

Am 06.07.2018 wurde dem Beschwerdeführer erstmalig mit Bescheid der belangten Behörde der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt und der gestellte Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wurde abgewiesen.

Der gegen diesen ersten Bescheid der belangten Behörde erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17.08.2018 stattgegeben und es wurde dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 12.06.2020 erteilt.

Am 14.10.2019 wurde der Beschwerdeführer erneut vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen.

Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid vom 18.10.2019 wurde dem Beschwerdeführ – erneut – der Status eines subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt und ihm die „erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter“ entzogen.

1.3. An den maßgeblichen subjektiven Umständen des Beschwerdeführers, die zur Gewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten geführt haben, hat sich seit Erlassung des diesbezüglichen mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes sowie auch seit der Behebung eines ersten Aberkennungsbescheides durch das Bundesverwaltungsgericht – und einer damit verbundenen Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung - auf Dauer nichts derart wesentlich geändert, dass dies zu einer Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten führen könnte.

1.4. Aus einem Vergleich zwischen dem Länderberichtsmaterial zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten bzw. der bereits erfolgten Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung und dem nunmehr aktuellen Material ist keine Verbesserung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan ersichtlich.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.5.1. Sicherheitslage

Letzte Änderung: 25.03.2021

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

UNAMA 2.2021

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt

(DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020; vgl. BBC 25.3.2020, USDOD 1.7.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 1.7.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Opiumproduktion und die Sicherheitslage

Afghanistan ist das Land, in dem weltweit das meiste Opium produziert wird. In den letzten fünf Jahren entfielen etwa 84 % der globalen Opiumproduktion auf Afghanistan. Im Jahr 2019 ging die Anbaufläche für Schlafmohn zurück, während der Ernteertrag in etwa dem des Jahres 2018 entsprach (UNODC 6.2020; vgl. ONDCP 7.2.2020). Der größte Teil des Schlafmohns in Afghanistan wird im Großraum Kandahar (d.h. Kandahar und Helmand) im Südwesten des Landes angebaut (AAN 25.6.2020). Opium ist eine Einnahmequelle für Aufständische sowie eine Quelle der Korruption innerhalb der afghanischen Regierung (WP 9.12.2019); der Opiumanbau gedeiht unter Bedingungen der Staatenlosigkeit und Gesetzlosigkeit wie in Afghanistan (Bradford 2019; vgl. ONDCP 7.2.2020).

1.5.2. Kabul

Letzte Änderung: 25.03.2021

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf

Kabul-Stadt - Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als "eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 1.7.2020) und alle Distrikte gelten als unter Regierungskontrolle stehend (LWJ o.D.), dennoch finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021, USDOD 1.7.2020, NYTM 26.3.2020, HRW 12.5.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 1.7.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 2.11.2020; vgl. AJ 2.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020) für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 2.11.2020, GN 2.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.6.2020; vgl. AP 16.6.2020, HRW 12.5.2020) , wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.6.2020, vgl. HRW 12.5.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).

Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.1.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die

Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.6.2020; vgl LI 22.1.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).

Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 3.9.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 2.9.2019; vgl. GN 15.7.2020) und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.7.2020).

Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 11.1.2020, AAN 11.2.2020, AAN 21.2.2020, TN 4.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr [Anm.: 2020] wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 11.1.2020; vgl. TN 24.7.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung "Security Charter" an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command - Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 201. ANA Corps (USDOD 1.7.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 5.9.2018).

Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.9.2020; vgl. GW 14.7.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 3.2.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.9.2018; vgl. TN 27.9.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.9.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.7.2020).

Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.5.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören (LI 22.1.2020; vgl. UNGASC 4.2.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.1.2020, WP 9.2.2020, EASO 9.2020). UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45% im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL-KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (UNAMA 2.2021).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (UNAMA 2.2021).

Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen (NYTM 25.6.2020; vgl. UNGASC 17.6.2020, RY 30.6.2020, EASO 9.2020). Im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (SIGAR 30.1.2021). In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen "sticky bombs" verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe "Islamischer Staat" (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (RFE/RL 23.2.2021).

Selbstmordanschläge (BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020a; NYTM 29.10.2020c; HRW 26.10.2020; RFE/RL 29.4.2020; REU 29.4.2020) und IEDs (RFE/RL 23.2.2021; BBC 22.12.2020; WP 26.2.2020; AJ 22.8.2020; NYTM 29.10.2020c; TN 4.10.2020; KP 4.6.2020) finden statt und es wurde von gezielten Tötungen (RFE/RL 23.2.2021; BAMF 11.1.2021; BBC 22.12.2020; BBC 15.12.2020; NYTM 26.3.2020; AT 22.8.2020; TN 21.10.2020; NYTM 5.11.2020) und Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte (RFE/RL 23.2.2021; BAMF 18.1.2021; BAMF 11.1.2021; NYTM 29.10.2020b; GN 11.2.2020; TN 22.6.2020; TN 8.7.2020; TN 6.7.2020; UNAMA 6.2020; TN 6.6.2020) sowohl in Kabul-Stadt wie auch in den Distrikten der Provinz berichtet. Es gibt Berichte über Straßenblockaden und Angriffe auf Highways durch bewaffnete Gruppierungen (UNOCHA 29.1.2020; NYTM 27.2.2020)

Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020; USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020; KP 6.5.2020; RFE/RL 11.5.2020; TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020; KP 12.2.2020; BBC 11.5.2020; TN 11.5.2020; PAJ 26.6.2020) sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (TN 7.7.2020b).

1.5.3. Balkh

Letzte Änderung: 25.03.2021

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Balkh 2019).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif (NSIA 1.6.2020). Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) (PAJ Balkh o.D.; vgl. NPS Balkh o.D.) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird (AAN 8.7.2020).

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum (SH 16.1.2017). Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul (TD 5.12.2017). Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab (OSM o.D.; vgl. TD 5.12.2017). Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan (LCA 4.7.2018).

Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen (STDOK 21.7.2020). In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari (AAN 23.5.2020), Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher (STDOK 21.7.2020; vgl. TN 20.12

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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