TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/20 W261 2204919-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.05.2021
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Entscheidungsdatum

20.05.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W261 2204919-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 30.07.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 09.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, er sei mit seinem Bruder auf der Universität bei einer Abschlussfeier gewesen. Die Armeetruppen hätten ihr Dorf bombardiert, nachher hätten die Taliban seine Eltern festgenommen, weil diese die Regierung informiert hätten, dass es in ihrem Dorf Taliban gebe. Die Taliban hätten in ihrem Dorf eine Versammlung gehabt. Sein Onkel habe sie angerufen, dass sie nicht nach Hause kommen dürften, weil die Taliban gesagt hätten, dass alle in ihrer Familie für die Regierung arbeiten würden. Dann seien sie zu ihrem Onkel in ein anderes Dorf und dieser habe ihre Flucht organisiert.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 30.11.2017 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Paschtune und sunnitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman. Er habe neun Jahre lang in seinem Heimatdorf die Grundschule besucht und dann drei Jahre lang in Kabul gelernt. Danach habe er zwei Jahre lang ein amtliches Institut besucht. Gearbeitet habe er in Afghanistan nur in der Landwirtschaft seiner Familie. Seine Eltern und eine Schwester würden noch im Heimatdorf leben, ein Bruder lebe im Iran. Er habe regelmäßig Kontakt mit seinen Eltern und seiner Schwester. Ein Onkel väterlicherseits und zwei Onkel mütterlicherseits würden ebenfalls im Heimatdorf leben. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen und afghanische Schriftstücke vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, er sei, als er in Laghman gelebt habe, jeden Tag in das Institut gegangen, um zu lernen. Ein bis drei Mal im Monat seien sie dabei von den Taliban aufgehalten und befragt worden. Diese hätten sie verdächtigt, für die Regierung zu arbeiten, aber sie hätten gesagt, dass sie nur lernen würden. Am Tag seiner Abschlussveranstaltung am Institut habe ihn sein Onkel mütterlicherseits angerufen und gesagt, dass ihr Dorf bombardiert worden sei, weil die Taliban dort eine Sitzung gehabt hätten. Deshalb hätten die Taliban sie verdächtigt, Informationen an die Regierung weitergegeben und mit dem afghanischen Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben, weil sie jeden Tag die Strecke zum Institut gefahren seien. Sein Onkel habe am Telefon gesagt, dass sein Vater von den Taliban festgenommen und geschlagen worden sei. Sie hätten ihn auch mitgenommen, er sei einen Tag festgehalten worden. Sie sollten auf keinen Fall zurück ins Dorf kommen. Dann sei sein Onkel nach Laghman gekommen und hätte einen Schlepper organisiert. Bei besagtem Angriff seien nicht nur Taliban, sondern auch Zivilisten gestorben. Auch die Zivilbevölkerung würde daher seinem Vater vorwerfen, dass wegen des Beschwerdeführers deren Verwandte gestorben seien. Sie hätten gesagt, dass sie ihn umbringen würden, wenn er zurückkehre. Wenn die Taliban jemanden verdächtigen, für die Regierung zu arbeiten, würden sie ihn sofort umbringen. Sie würden nicht fragen, ob die Gerüchte stimmen, sondern sofort töten. Bei ihnen im Dorf würden seit acht Jahren die Taliban regieren. Zweimal sei sein Vater gefragt worden, wo seine Söhne seien. Sein Bruder sei gemeinsam mit ihm ausgereist, aber dann im Iran geblieben, da er krank geworden sei.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 30.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan von privater Seite bedroht oder verfolgt worden sei. Auch von staatlicher Seite habe keine Bedrohung oder Verfolgung gegen seine Person festgestellt werden können. Seine Angaben seien in näher genannten Aspekten nicht nachvollziehbar bzw. plausibel, auch, dass er in mehreren sichereren Staaten nicht um Asyl angesucht habe spreche gegen eine tatsächliche Bedrohung. Der Beschwerdeführer sei gesund und arbeitsfähig, verfüge über eine vierzehnjährige Schulbildung und Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft seiner Eltern. Er sei wirtschaftlich genügend abgesichert und könne für seinen Unterhalt grundsätzlich sorgen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Er verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan, seiner Familie gehe es finanziell gut und er pflege regelmäßigen Kontakt zu ihnen. Es liege eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf seine Heimatprovinz Laghman, nicht jedoch ganz Afghanistan vor. Parwan sei ausreichend sicher und sicher erreichbar.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 27.08.2018 fristgerecht Beschwerde. Er brachte darin im Wesentlichen vor, dass ihm bei richtiger Würdigung seines erstinstanzlichen Vorbringens Asyl, zumindest aber subsidiärer Schutz gewährt hätte werden müssen. Er habe glaubhafte Asylgründe vorgebracht, gegenteilige Beweisergebnisse würden nicht vorliegen. Zur Sicherheitslage in Afghanistan verweise er auf ein Gutachten von Friederike STAHLMANN. Im gesamten Staatsgebiet Afghanistans bestehe Gefahr für Leib und Leben. Diese Gefahr sei für ihn aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara, weil er in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfüge und weil er jahrelang im westlichen Ausland gelebt habe erhöht. Die Taliban würden 70 % des Landes beherrschen, im restlichen Staatsgebiet könnten sie nach Blieben Anschläge verüben. Die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes seien allesamt gegeben. Auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründe würden vorliegen, da sich der Beschwerdeführer in Österreich bestmöglich integriere, über einen großen Freundeskreis verfüge, die B1-Deutschprüfung absolviert und die Übergangsstufe zur AHS abgeschlossen habe. Mit der Beschwerde wurde ein Integrationsnachweis vorgelegt.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 31.08.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 04.09.2018 in der Gerichtsabteilung W167 einlangte.

6. Mit Eingabe vom 28.09.2020 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX über die Einstellung eines gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB geführten Ermittlungsverfahrens.

7. Mit Eingabe vom 21.10.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor.

8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.01.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W167 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 03.02.2021 einlangte.

9. Mit Eingabe vom 31.03.2021 übermittelte die belangte Behörde einen Abschlussbericht der Polizeiinspektion XXXX , demzufolge der Beschwerdeführer einer Körperverletzung am 20.02.2021 verdächtig und geständig sei.

10. Mit Eingabe vom 12.04.2021 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX über eine gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB erhobene Anklage.

11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.04.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Der Beschwerdeführer legte Integrationsunterlagen vor. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

12. Mit Eingabe vom 18.05.2021 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif, Herat und Kabul würde die darisprachige Bevölkerung leben, die sich mit den Paschtunen nie vertragen habe und diese hassen würde. Das wäre für ihn ein großes Problem. In diesen Städten werde auch „Bacha Bazi“ praktiziert, er würde dort entführt und vergewaltigt werden. Für ihn gebe es in Afghanistan keinen Platz, an dem er in Sicherheit wäre. Niemand hinterlasse mit Absicht seine eigene Familie, er habe flüchten müssen, damit er am Leben bleibe. Er habe in Österreich eine Verlobte und Kinder. Mit der Stellungnahme legte der Beschwerdeführer Unterlagen aus einem Strafverfahren vor.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX (= XXXX ), er ist 26 Jahre alt. Der Aliasname XXXX ist der Name seines Großvaters. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari und Deutsch. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman geboren. Sein Vater heißt XXXX und ist ca. 69 Jahre alt, er war als Beamter des Wasserverteilungsministeriums in Jalalabad tätig. Seine Mutter heißt XXXX und ist 63 Jahre alt. Er hat eine Schwester, XXXX , ca. 31 Jahre, und einen Bruder, XXXX , ca. 29 Jahre. Seine Eltern leben in einem eigenen Haus im Heimatdorf. Sein Vater besitzt dort landwirtschaftliche Grundstücke. Seine Schwester lebt mit ihrem Ehemann ebenfalls im Heimatdorf, sein Bruder lebt im Iran. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie.

Zwei Onkel und eine Tante mütterlicherseits sowie zwei Tanten väterlicherseits des Beschwerdeführers leben noch in Afghanistan, ein Onkel väterlicherseits ist bereits verstorben. Seine Onkel leben im Heimatdorf, sie haben eigene Häuser und auch eigene Grundstücke. Zu manchen seiner Verwandten hat der Beschwerdeführer sporadisch Kontakt.

Der Beschwerdeführer besuchte bis zur 9. Klasse die Grundschule in seinem Heimatdorf, danach ging er drei Jahre in Kabul in die Schule und schloss diese ab. Die Aufnahmeprüfung für eine staatliche Universität hat er nicht bestanden, er studierte bis zur seiner Ausreise zwei Jahre lang Wirtschaft und Verwaltung an einem amtlichen Institut in der Provinz Laghman. Er hat in der Landwirtschaft seiner Familie gearbeitet.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Jahr 2015 allein und stellte am 09.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer und sein Bruder studierten an einem Institut in der Provinz Laghman, zu dem sie täglich von ihrem Heimatdorf aus pendelten. Dabei wurden sie regelmäßig von den Taliban, die die Heimatregion des Beschwerdeführers seit Jahren beherrschen, angehalten und kontrolliert. Sie waren die einzigen aus ihrem Dorf, die täglich pendelten. Im Juni 2015 griff die Regierung eine Versammlung der Taliban im Dorf an, wobei zwei Taliban-Mitglieder und ein Zivilist ums Leben kamen. Die Taliban suchten kurz darauf die Familie des Beschwerdeführers auf und warfen seinem Vater vor, dass seine Söhne die Versammlung verraten hätten und Informanten des afghanischen Geheimdienstes wären. Sein Vater wurde geschlagen und für einen Tag lang festgehalten.

Der Beschwerdeführer und sein Bruder hielten sich zu dieser Zeit am Institut auf. Sein Onkel mütterlicherseits rief sie an und informierte sie über die Vorfälle. Er riet ihnen eindringlich, nicht mehr nachhause zurückzukehren. In der Folge organisierte sein Onkel ihre Ausreise mithilfe eines Schleppers. Der Bruder des Beschwerdeführers erkrankte im Iran und blieb dort zurück, als der Beschwerdeführer nach Europa weiterreiste. Ihre Eltern wurden nach ihrer Ausreise noch zwei weitere Male bedroht und nach dem Verbleib ihrer Söhne gefragt. Vor ca. vier Monaten wurden die Milchkühe der Familie vor ihrem Haus erschossen.

Es ist daher in einer Gesamtbetrachtung der vorliegenden Umstände davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund des ihm unterstellten Verrats einer Taliban-Versammlung an die Regierung im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Oktober 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 09.10.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat mehrere Deutschkurse besucht und am 24.10.2017 die B1-Prüfung bestanden. Von November 2017 bis Juni 2018 hat er die Übergangsstufe am BRG XXXX besucht, seit September 2018 besucht er das BG und BRG für Berufstätige XXXX . Er hat in Österreich den Führerschein gemacht.

Er wird von seinen Vertrauenspersonen als freundlich, hilfsbereit, lernwillig, ehrgeizig, aufmerksam, bemüht, pünktlich, zielstrebig, respektvoll, wertschätzend und sprachlich talentiert beschrieben. In seiner Freizeit spielt er Volleyball und geht ins Fitnessstudio.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich verlobt, auch zu den drei Kindern seiner Verlobten besteht ein enges Verhältnis. Er hat einen österreichischen Ziehvater, in dessen Haus er zur Miete wohnt. Dieser hat schriftlich die „Haftung und Fürsorge“ für seinen weiteren Verbleib in Österreich übernommen und möchte ihn adoptieren. Der Beschwerdeführer hat in Österreich viele Freunde und Bekannte gefunden.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten. Gegen ihn wurde wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB Anklage erhoben, wozu noch kein Urteil ergangen ist.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Fassung vom 01.04.2021 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo-Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne” vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15 % (21 % laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26 % aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.4.2. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen. Davon sind ca. 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 19).

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments – jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Kapitel 19.1.).

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet (LIB, Kapitel 19.1.).

1.4.3. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1 % der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (LIB, Kapitel 18).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB, Kapitel 18).

1.4.4. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 01.01.2018 - 31.12.2020 gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 13).

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind. (LIB, Kapitel 13).

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten (LIB, Kapitel 13).

Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht. Im Dezember 2018 würdigte UNAMA die Fortschritte Afghanistans auf dem Gebiet der Menschenrechte, insbesondere unter den Herausforderungen des laufenden bewaffneten Konfliktes und der fragilen Sicherheitslage. Die UN arbeitet weiterhin eng mit Afghanistan zusammen, um ein Justizsystem zu schaffen, das die Gesetzesreformen, die Verfassungsrechte der Frauen und die Unterbindung von Gewalt gegen Frauen voll umsetzen kann (LIB, Kapitel 13).

1.4.5. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Die Regierung respektierte diese Rechte im Allgemeinen. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein (LIB, Kapitel 20).

Es gibt internationale Flughäfen in Kabul, Herat, Kandahar und Mazar-e Sharif, bedeutende Flughäfen für den Inlandsverkehr außerdem in Ghazni, Nangarhar, Khost, Kunduz und Helmand sowie eine Vielzahl an regionalen und lokalen Flugplätzen. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt. Es gibt keinen öffentlichen Schienenpersonenverkehr. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel 20).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig „gelbe Seiten“ oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel 21.1).

Da es in der Vergangenheit zu Fällen kam, bei denen Wohnungen zur Vorbereitung von terroristischen oder kriminellen Taten verwendet wurden, müssen nun insbesondere in Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif unter Umständen beispielsweise im Stadtzentrum gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass sich Mieter wie auch Vermieter beim Abschluss einer Mietvereinbarung mit einem Identitätsnachweis ausweisen, was jedoch nicht immer eingehalten wird. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potenziellen Mieter ab (LIB, Kapitel 21.1).

1.4.6. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.6.1. Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt, und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können. Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (LIB, Kapitel 6.1).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid-bin-Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig, und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LIB, Kapitel 6.1).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40% zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Kapitel 6.1).

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach „fehlverhalten“, unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges, oder Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer „feindlicher“ Regierungen, Kollaborateure oder Auftragnehmer der afghanischen Regierung oder des ausländischen Militärs, oder Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten. Die Taliban bieten den meisten dieser Gruppen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance, zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer „Verurteilung“ durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich „feindseligen“ Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo 1, Kapitel 4).

Dies gilt jedoch nicht für politische Feinde der Taliban, vermeintliche Spione oder Informanten der Regierung, Personen, die gegen die Scharia oder die Regeln der Taliban verstoßen, und Personen, die ihnen nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erscheinen und die Zusammenarbeit verweigern. Diese Personengruppen haben – im Gegensatz zu „Auftragnehmern“ – in den Augen der Taliban allein schon durch ihre Zugehörigkeit zu diesen Kategorien Verbrechen begangen und erhalten daher keine Verwarnung und keine Möglichkeit, einer Verurteilung zu entgehen (Landinfo 1, Kapitel 4).

1.4.7. Relevante Provinzen und Städte

1.4.7.1. Herkunftsprovinz Laghman

Laghman liegt im Osten Afghanistans und grenzt im Norden an die Provinzen Panjshir und Nuristan, im Osten an Kunar, im Süden an Nangarhar und im Westen an Kabul und Kapisa. Die Provinzhauptstadt ist Mehtarlam. Die Provinz ist in folgende Distrikte unterteilt: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi und Bad Pash (auch Bad Pakh). Bad Pash ist ein temporärer Distrikt. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Laghman im Zeitraum 2020/21 auf 493.488 Personen. Die Bevölkerungsmehrheit in der Provinz stellen die Paschtunen, weitere Bewohner gehören tadschikischen und paschaiischen Stämmen an. Die Provinz verfügt über ausreichend Wasser, und ein großer Teil der Bewohner lebt von der Landwirtschaft (LIB, Kapitel 5.20).

Die Fernstraße Kabul-Jalalabad (ein Abschnitt der Asiatischen Fernstraße AH-1) führt durch den Distrikt Qarghay. Im Jahr 2019 wurden auf dieser Straße in der Provinz Laghman bei Verkehrsunfällen mindestens 45 Personen getötet und ca. 100 Personen verletzt. Es gibt Berichte, dass entlang der Fernstraße Kabul-Jalalabad Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte attackieren. Im Distrikt Qarghayi zweigt eine Asphaltstraße in die Provinzhauptstadt Mehtarlam ab. Von Mehtarlam führt eine Straße weiter nach Nurgeram in Nuristan (LIB, Kapitel 5.20).

Die Taliban sind in Laghman aktiv. Laghman galt, gemeinsam mit anderen Provinzen, als eine der Hochburgen des ISKP. Der ISKP wurde nach Kämpfen mit den Taliban aus dem Osten der Provinz vertrieben, und er wurde nach den Militärschlägen im Winter 2019/Frühling 2020 für offiziell besiegt erklärt. Im März 2020 hat sich der ISKP in der Provinz Laghman ergeben, nachdem er von Regierungstruppen und den Taliban eingekesselt wurde. Dennoch gibt es weiterhin Berichte über eine Präsenz des ISKP in Laghman. Auch die pakistanische Terrorgruppe Lashkar-e Taiba (LeT) hat eine kleine Präsenz in Laghman (LIB, Kapitel 5.20).

Auf Regierungsseite befindet sich Laghman im Verantwortungsbereich des 21. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, die von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (LIB, Kapitel 5.20).

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 267 zivile Opfer (62 Tote und 205 Verletzte) in der Provinz Laghman. Dies entspricht einem Rückgang von 5 % gegenüber 2019. Die Hauptursachen für Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, lEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordangriffen. Laghman hat einen hohen Wert bezüglich ziviler Opfer im Verhältnis zur Bevölkerung. Im Oktober 2018 und im Jänner 2019 wurde die Provinz Laghman als eine relativ ruhige Provinz beschrieben. Im August 2020 wird von vermehrten Beschwerden über Unsicherheit aus der Bevölkerung berichtet. Der Provinzgouverneur veröffentlichte auch eine Warnung vor illegalen Bewaffneten in der Hauptstadt Mehtarlam. Zur Verbesserung der Sicherheitslage sollten zwei Militärbataillone wieder nach Laghman zurückkehren (LIB, Kapitel 5.20).

2.       Beweiswürdigung:

2.1.     Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seiner familiären Situation in Afghanistan, seiner Schul- und Hochschulbildung und seiner Berufserfahrung gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie die vorgelegten Nachweise. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

2.2.    Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zu den Gründen des Beschwerdeführers für das Verlassen seines Herkunftsstaates stützen sich auf die von ihm in der Erstbefragung, vor der belangten Behörde und insbesondere in der mündlichen Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichts am 27.04.2021 getätigten Aussagen.

Der Beschwerdeführer ließ bei der Schilderung seiner Fluchtgründe eine lineare Handlung und ein nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse erkennen. Seine Angaben, wonach er als täglich aus seinem Heimatdorf pendelnder Student regelmäßig von den Taliban angehalten wurde und so in ihren Fokus geriet, sind auch vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Afghanistan plausibel und nachvollziehbar. Ebenso ist unter Beachtung der Länderinformationen plausibel, dass die Taliban nach einem Angriff auf ihre Versammlung jene beiden Männer des Verrats verdächtigen würden, die als einzige täglich das Dorf verlassen haben. Der Beschwerdeführer beschrieb die Gründe seiner Ausreise im gesamten Verfahren, auch schon in der polizeilichen Erstbefragung, im Kern gleichlautend. Wesentlich bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens war zudem der Umstand, dass er sein Fluchtvorbringen umfangreich, schlüssig und detailliert schildern konnte. Die Erzählweise war flüssig und spontan. Das Fluchtvorbringen war in sich stimmig und wies – abgesehen von kleineren Details – keine Widersprüche auf, sodass das Bundesverwaltungsgericht dieses, vor allem auch aufgrund des vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks, als glaubhaft erachtet.

Die beweiswürdigenden Erwägungen der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid überzeugen demgegenüber nicht. Darin wird zunächst ausgeführt, es sei nicht nachvollziehbar, warum die Taliban geglaubt hätten, dass der Beschwerdeführer für den Angriff verantwortlich gewesen wäre. Dieser Angriff hätte auch für ihn und seine Familie gefährlich sein können, er hätte damit sein Leben und jenes seiner Familie riskiert (vgl. AS 382). Wie bereits erwähnt erläuterte der Beschwerdeführer plausibel, dass sein Bruder und er die einzigen aus ihrem Dorf gewesen sind, die täglich das Dorf verlassen mussten und dabei häufig von den Taliban kontrolliert wurden. Es ist daher durchaus nachvollziehbar, dass der Verdacht auf sie fallen würde. Dass der Angriff der Regierung auch für die Familie des Beschwerdeführers gefährlich gewesen wäre, ist für das erkennende Gericht nicht ersichtlich, da sich dieser gezielt gegen eine Versammlung der Taliban richtete.

Weiters führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe angegeben, dass die Taliban eine Person, sobald sie diese auch nur verdächtigten würden, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, sofort töten würden. Dies passe nicht damit zusammen, dass er mehrmals von den Taliban kontrolliert, durchsucht und einer Zusammenarbeit mit der Regierung beschuldigt worden sei und trotzdem jedes Mal unbeschadet zum Institut weiterfahren habe dürfen (vgl. AS 382). Zwar sagte Beschwerdeführer in der Einvernahme aus, die Taliban hätten sie verdächtigt, für die Regierung zu arbeiten, weil sie jeden Tag dieselbe Strecke gefahren seien. Er merkte aber zugleich an, dass sie dies dadurch erklären konnten, dass sie nur zum Lernen an ihr Institut fahren würden (vgl. AS 75). Auch in der mündlichen Verhandlung schilderte er eine gefährliche Situation rund um eine Anhaltung, die dadurch entschärft werden konnte, dass ein Taliban seinen Studentenausweis erkannte (vgl. Niederschrift vom 27.04.2021, S. 13). Es erscheint sehr wohl plausibel, dass die Taliban den Beschwerdeführer und seinen Bruder schon früher einer Arbeit für die Regierung „verdächtigten“, aber sich erst nach dem Angriff in ihrem Verdacht auch bestätigt sahen und sie töten wollten.

Aus Sicht der Behörde spricht auch der Umstand, dass die Familie des Beschwerdeführers nach wie vor ohne Probleme in seinem Heimatdorf lebe, gegen ein tatsächliches Interesse der Taliban an seiner Person. Sein Vater wäre von den Taliban mitgenommen und geschlagen, aber danach lediglich zweimal gefragt worden, sie seine Söhne seien. Würden die Taliban ihm nach dem Leben trachten, würden sie in erster Linie seine Familie unter Druck setzen, um an ihn zu gelangen (vgl. AS 382). Auch dieses Argument überzeugt nicht: Wie die belangte Behörde selbst ausführt, wurde der Vater des Beschwerdeführers nach dessen Angaben zunächst mitgenommen und geschlagen sowie später zwei weitere Male gefragt, wo sich seine Söhne befänden. Nachdem beide von den Taliban gesuchten Söhne Afghanistan vor Jahren verlassen haben und seitdem nicht zurückgekehrt sind, ist nicht ersichtlich, zu welchem Zweck diese die Familie derzeit noch stärker „unter Druck setzen“ sollten. Der Darstellung der Behörde, dass seine Familie „problemlos“ im Heimatdorf lebe, kann im Übrigen nicht mehr beigepflichtet werden. In der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer vor, dass vor kurzem die Milchkühe seiner Familie vor dem Haus erschossen worden seien (vgl. Niederschrift vom 27.04.2021, S. 13), was auf den angesprochenen Unmut auch in der Zivilbevölkerung des Dorfes zurückzuführen sein dürfte.

Schließlich verweist die belangte Behörde darauf, dass der Beschwerdeführer vor seiner Einreise in Österreich durch mehrere sichere Staaten gereist sei, ohne dort Asyl zu beantragen. Von einer Person, welche einer tatsächlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen wäre, sei zu erwarten, dass sie bei der ersten sich ihr bietenden Möglichkeit um Schutz ansuche. Da der Beschwerdeführer dies nicht getan habe, könne daraus geschlossen werden, dass er „andere Motive als jene der Schutzsuche“ habe (vgl. AS 383). Diesbezüglich genügt es darauf hinzuweisen, dass zusätzliche Motive für eine Aus- oder Weiterreise dem Vorhandensein glaubhafter Fluchtgründe keineswegs entgegenstehen. Ein Erfahrungssatz, dass alle in ihrem Herkunftsstaat verfolgten Personen im ersten „sichereren“ Zufluchtsstaat um Asyl ansuchen würden, besteht jedenfalls nicht.

In einer Gesamtschau der Angaben des Beschwerdeführers im gesamten Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint das Vorbringen zu seiner Furcht vor Verfolgung wegen eines ihm unterstellten Verrats einer Taliban-Versammlung an die Regierung insgesamt als glaubhaft. Es ist daher davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung maßgeblicher Intensität durch die Taliban aus asylrelevanten Gründen drohen würde und die staatlichen Einrichtungen Afghanistans nicht in der Lage sein würden, dem Beschwerdeführer vor dieser Verfolgung in ausreichendem Maß Schutz zu bieten (siehe dazu noch in der rechtlichen Beurteilung).

2.3.    Zu den Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Die Feststellungen zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich, insbesondere zur Aufenthaltsdauer, seinen Deutschkenntnissen, seinen familiären und engen sozialen Anknüpfungspunkten und seiner Integration in Österreich, stützen sich auf die Aktenlage, auf die Angaben des Beschwerdeführers in den mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie auf die von ihm im Verfahren vorgelegten Unterlagen.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister. Die gegen ihn erhobene Anklage ergibt sich aus der Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 09.04.2021 (vgl. OZ 10).

2.4.     Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u. a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist. Die in der Beschwerde zitierten Länderberichte sind durch die aktuellen, in den Feststellungen zitierten Länderinformationen überholt.

3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1.    Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1.         dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2.         der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

…“

3.1.2. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

3.1.3. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.

3.1.4. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. z. B. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011).

Für eine „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454, VwGH 09.04.1997, 95/01/055), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 16.02.2000, 99/01/0397). Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).

3.1.5. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (vgl. VwGH 16.06.1994, 94/19/0183).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.6. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, 94/18/0263; VwGH 01.02.1995, 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht – diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann –, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, 98/01/0370; VwGH 22.10.2002, 2000/01/0322).

3.1.7. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Furcht des Beschwerdeführers vor Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention wohlbegründet ist:

Der Beschwerdef

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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