TE Bvwg Beschluss 2021/5/21 W192 2241544-1

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Veröffentlicht am 21.05.2021
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Entscheidungsdatum

21.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §55
VwGVG §28 Abs3

Spruch


W192 2241544-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Serbien, vertreten durch Mag. Stefan ERRATH, Rechtsanwalt in 1030 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.03.2021, Zahl: 1031650904-200905413:

A)       In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)              Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Begründung:

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

1. Der im Jahr 1996 geborene Beschwerdeführer ist serbischer Staatsbürger und im Besitz eines gültigen serbischen Reisepasses. Dieser ist seit dem 31.08.2012 (mit Ausnahme der Zeit zwischen 02.07.2014 und 26.08.2014) mit einem Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet. Der Antrag des Beschwerdeführers vom 09.09.2014 auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für den Zweck „Schüler“ wurde mit Bescheid der nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zuständigen Behörde vom 14.11.2014 abgewiesen. Ein Antrag vom 19.09.2014 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK wurde am 19.03.2015 zurückgezogen. Ein weiterer Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für den Zweck „Schüler“ wurde mit Bescheid vom 05.08.2015 wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen. Ein Antrag vom 22.10.2015 wurde mit Bescheid vom 09.03.2016 abermals aufgrund einer unzulässigen Inlandsantragstellung abgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde am 24.06.2016 zurückgezogen. Über den Beschwerdeführer wurde aufgrund unrechtmäßigen Aufenthaltes eine Verwaltungsstrafe gemäß § 31 Abs. 1 iVm 120 Abs. 1a FPG verhängt. In der Folge wurde dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsbewilligung für den Zweck „Schüler“ mit Gültigkeitsdauer vom 10.11.2016 bis 10.11.2017 erteilt, welche für den Zeitraum von 11.11.2017 bis 11.11.2018 verlängert wurde.

2. Mit Bescheid der nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zuständigen Behörde vom 07.02.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 02.11.2018 auf Verlängerung des Aufenthaltstitels für den Zweck „Schüler“ wegen mangelnder Erbringung des erforderlichen Schulerfolges abgewiesen. Eine gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 04.05.2020, Zahl VGW-151/085/2829/2019, als unbegründet abgewiesen. Jenes Erkenntnis erwuchs mit 08.05.2020 in Rechtskraft.

3. Mit Schreiben vom 08.02.2021 verständigte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Beschwerdeführer von der aufgrund seines illegalen Aufenthalts beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gewährte ihm die Möglichkeit zur Einbringung einer schriftlichen Stellungnahme binnen zweiwöchiger Frist. Dabei wurde er um Beantwortung von Fragen zu seinen Lebensumständen in Österreich sowie seiner Situation im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat ersucht. Jene Verständigung wurde dem Beschwerdeführer am 11.02.2021 zugestellt.

4. Mit Eingabe vom 23.02.2021 gab der nunmehr bevollmächtigte Vertreter dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl seine Vollmacht für das gegenständliche Verfahren bekannt und beantragte die Akteneinsicht.

Mit im Akt einliegendem Schreiben (Ladung) vom 05.03.2021 wurde der Beschwerdeführer im Wege seines Rechtsvertreters für den 15.03.2021 vor das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur Akteneinsicht geladen. Eine Zustellung jenes Schreibens ist nicht aktenkundig, angesichts des Umstandes, dass die Akteneinsicht letztlich an diesem Tag zufolge einem entsprechenden Aktenvermerk der Behörde auch vorgenommen wurde, aber anzunehmen.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid ebenfalls vom 05.03.2021 wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I.), es wurde gegen diesen gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III.) und ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Die Behörde traf Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und führte aus, dass dieser sich laut den in seinem Reisepass ersichtlichen Stempeln seit 01.09.2019 durchgehend im Bundesgebiet aufhalte, sein Verlängerungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Schüler“ mit 08.05.2020 rechtskräftig abgewiesen worden sei und er sich seit 07.08.2020 jedenfalls unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. In Österreich würden laut Aktenlage die Großeltern des Beschwerdeführers leben, mit welchen dieser seit 2012 im gemeinsamen Haushalt lebe, sein Vater habe seinen Hauptwohnsitz in Deutschland, sein Bruder lebe in Serbien. Der Beschwerdeführer habe eine Schule in Österreich besucht, jedoch keine aktuelle Schulbesuchsbestätigung vorgelegt, dieser ginge keiner Erwerbstätigkeit nach und verfüge über keinen alle Risiken abdeckenden Versicherungsschutz. Da der Beschwerdeführer von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht hätte, seien die Feststellungen ausschließlich anhand der Aktenlage zu treffen gewesen. Der Beschwerdeführer habe den überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens in Serbien verbracht, sodass vom Vorhandensein ausreichender Bindungen auszugehen sei. Der Beschwerdeführer befinde sich seit 2012 im Bundesgebiet, wobei sein Aufenthalt lediglich von 2016 bis 2020 rechtmäßig gewesen sei.

Jener Bescheid wurde dem bevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers am 09.03.2021 zugestellt.

Am 15.03.2021 wurde durch die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers Akteneinsicht genommen.

6. Mit Schriftsatz seines bevollmächtigten Vertreters vom 23.03.2021 erhob der Beschwerdeführer die gegenständliche Beschwerde, in welcher begründend ausgeführt wurde, der Beschwerdeführer sei im Jahr 2012 im Alter von 16 Jahren nach Österreich gelangt und halte sich seither durchgehend hier auf. Er habe drei Jahre eine HTL besucht und besuche nunmehr seit September 2019 eine Abendschule HTL mit Matura, welche für Jänner 2022 geplant sei. Der Beschwerdeführer lebe seit neun Jahren bei seinen Großeltern in Österreich, in Serbien befinde sich lediglich ein Bruder des Beschwerdeführers. Die soziale Integration des Beschwerdeführers bestehe ausschließlich in Österreich. Dieser verfüge über gute Sprachkenntnisse und könnte bei Erteilung eines Aufenthaltstitels umgehend eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Aufgrund des nun bald zehnjährigen Aufenthalts sei von der Unverhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung auszugehen. Bei einer Rückkehr nach Serbien hätte er keine beruflichen Zukunftschancen, da er keinen serbischen Schulabschluss vorweisen könne.

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt sowie eingeholten Auszügen aus dem Zentralen Melderegister, dem Zentralen Fremdenregister und dem Strafregister.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu Spruchpunkt A)

3.1.1. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder dieser durch das Verwaltungsgericht selbst festgestellt werden kann, sofern dies im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß Abs. 3 zweiter Satz kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde die notwendigen Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. In diesem Fall ist die Behörde an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtes gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.

Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage [2018] § 28 VwGVG, Anm. 11).

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

3.1.2. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungs-gericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungs-behördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

3.2. Solche gravierenden Ermittlungslücken sind dem Bundesamt hier unterlaufen:

Zunächst ist dazu festzuhalten, dass sich das Ermittlungsverfahren des Bundesamtes im Wesentlichen auf die versuchte Einholung einer schriftlichen Stellungnahme des Beschwerdeführers und die Einholung diverser Registerauszüge beschränkte. Eine mündliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt unterblieb.

Angesichts der Tatsache, dass der unbescholtene Beschwerdeführer als Minderjähriger ins Bundesgebiet einreiste, hier seit August 2012, sohin seit bald neun Jahren, annähernd durchgehend mit einem Hauptwohnsitz gemeldet ist und ein mehrjähriger Schulbesuch im Bundesgebiet aktenkundig ist, hätte es im Vorfeld der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme jedenfalls weiterer Ermittlungsschritte zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer solchen bedurft.

Bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 MRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG 2014 zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist nämlich (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FrPolG 2005, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 15.02.2021, Ra 2020/21/0301).

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0185) regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 MRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. E 26. Februar 2015, Ra 2015/22/0025; E 19. November 2014, 2013/22/0270). Auch in Fällen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag, hat der VwGH eine entsprechende Berücksichtigung dieser langen Aufenthaltsdauer gefordert (vgl. E 16. Dezember 2014, 2012/22/0169; E 9. September 2014, 2013/22/0247; E 30. Juli 2014, 2013/22/0226). Im Fall, dass ein insgesamt mehr als zehnjähriger Inlandsaufenthalt für einige Monate unterbrochen war, legte der VwGH seine Judikatur zum regelmäßigen Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt des Fremden zugrunde (vgl. E 26. März 2015, Ra 2014/22/0078 bis 0082).

Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung hätte es angesichts der faktischen Aufenthaltsdauer des unbescholtenen Beschwerdeführers – wenn auch ein durchgehend rechtmäßiger Aufenthalt nicht vorlag – jedenfalls weiterer Ermittlungen bedurft, um den Grad seiner Bindungen im Bundesgebiet feststellen zu können.

Besonders gravierend erscheint es dem Bundesverwaltungsgericht, dass der Beschwerdeführer trotz seines knapp neunjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet zu seiner Integration in Österreich nicht einvernommen wurde, könnte sein Privat- und Familienleben in Österreich doch dazu führen, dass Art. 8 EMRK und § 9 BFA VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den unbescholtenen Beschwerdeführer nicht zulassen. Mit Blick darauf, dass die bisherigen Ermittlungsergebnisse darauf hindeuten, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet jedoch enge Angehörige hat und insbesondere seit dem Jahr 2012 im gemeinsamen Haushalt mit seinen hier aufenthaltsberechtigten Großeltern lebt, wäre es erforderlich gewesen, den Beschwerdeführer zu seinem Verhältnis zu diesen, insbesondere zu etwaiger wechselseitiger Abhängigkeit und Unterstützung, einzuvernehmen, um das Gewicht dieses Privat- und oder Familienlebens zu ermitteln. Ohne diese Ermittlungen durch Einvernahme des Beschwerdeführers erscheint eine Beurteilung des Gewichts dieses Privat- und Familienlebens nicht möglich.

Zudem ist das vor dem Bundesamt durchgeführte Ermittlungsverfahren insofern mit einem wesentlichen Mangel behaftet, als der Beschwerdeführer zwar mit an ihn am 11.02.2021 zugestellten Schreiben über die beabsichtigte Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in Kenntnis gesetzt wurde und gleichzeitig die Möglichkeit erhielt, binnen zweiwöchiger Frist ab Zustellung eine schriftliche Stellungnahme, auch zu näher aufgelisteten Fragen zu seinen Lebensumständen in Österreich sowie seiner Situation im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat, einzubringen. Mit E-Mail vom 23.02.2021, sohin innerhalb der gewährten Frist zur Abgabe einer Stellungnahme, gab der nunmehr bevollmächtigte Vertreter seine Vollmacht gegenüber dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bekannt und stellte zugleich einen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht. Diesbezüglich erfolgte seitens des Bundesamtes am 05.03.2021 eine Ladung für den 15.03.2021.

Noch am 05.03.2021 wurde jedoch der nunmehr angefochtene Bescheid abgefertigt und dem bevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers in der Folge am 09.03.2021 rechtswirksam zugestellt. Wenn auch die zweiwöchige Frist zur Abgabe einer Stellungnahme grundsätzlich mit dem 25.02.2021 abgelaufen ist, so konnte der Beschwerdeführer aufgrund der offenkundig an ihn ergangenen Ladung vom 05.03.2021 und des noch ausständigen Termins zur Akteneinsicht berechtigt davon ausgehen, dass die Behörde den Bescheid nicht bereits zuvor erlassen würde bzw. konnte die belangte Behörde umgekehrt davon ausgehen, dass der Beschwerdeführer – nach erfolgter Akteneinsicht durch seinen bevollmächtigten Vertreter – noch ein verfahrensrelevantes Vorbringen erstatten würde. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass der Termin für die Akteneinsicht knapp drei Wochen nach dem diesbezüglichen Antrag seitens der belangten Behörde festgelegt worden ist, sodass das Zuwarten bezüglich der Einbringung einer Stellungnahme insofern nicht vorwiegend vom Beschwerdeführer zu vertreten ist. Durch die Ladung zur Akteneinsicht gab die Behörde zu verstehen, dass weitere Ermittlungsschritte geplant seien, welche in der Folge jedoch in nicht nachvollziehbarer Weise unterblieben sind.

Angesichts seines langen Aufenthalts, der dazu führen kann, dass mit einer Rückkehrentscheidung ein gravierender Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers gemäß Art. 8 EMRK verbunden ist, hat das Bundesamt wegen der Maßgeblichkeit des Privat- und Familienlebens für die Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor dem Hintergrund von Art. 8 EMRK und § 9 BFA-VG einen gravierenden Ermittlungsmangel begangen, indem es den Beschwerdeführer nicht zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich einvernommen hat.

Dass das Bundesamt es unterließ, dem Beschwerdeführer zu seinem Privat- und Familienleben einzuvernehmen, stellt daher einen im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung besonders gravierenden Ermittlungsmangel dar, der die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit zum Bundesamt gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigt.

Denn mit Blick auf den skizzierten Hergang des Ermittlungsverfahrens geht das Bundes-verwaltungsgericht davon aus, dass das Bundesamt den Sachverhalt, welchen es für die Erlassung sämtlicher Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids als maßgeblich feststellte, im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bloß ansatzweise ermittelt hat. Trotz nur ansatzweise vorliegender Beweisergebnisse sah das Bundesamt nämlich davon ab, den Beschwerdeführer einzuvernehmen, um so den Sachverhalt zu klären.

Indem die Behörde – trotz erfolgter Ladung des Beschwerdeführers – dessen Einvernahme unterlassen und ihm auch nicht die Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme durch den Rechtsvertreter nach Vornahme der beantragten Akteneinsicht ermöglicht hat, hat sie es unternommen, das ordnungsgemäße Ermittlungsverfahren gleichsam auf des Bundesverwaltungsgericht zu überwälzen.

Der angefochtene Bescheid ist sohin gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Rechtssache wird zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt zurückverwiesen.

Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige (insbesondere VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 30.06.2015, Ra 2014/03/0054) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W192.2241544.1.00

Im RIS seit

14.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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