Entscheidungsdatum
25.05.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W183 2235449-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Dr. PIELER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.08.2020, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird Folge gegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin verließ im Jahr 2019 Syrien, stellte am 03.02.2020 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Am 14.07.2020 wurde die Beschwerdeführerin von der nunmehr belangten Behörde, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), zu ihren Fluchtgründen niederschriftlich einvernommen.
Im behördlichen Verfahren gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie habe Syrien verlassen, da sie bei einem Checkpoint „sehr viel Stress bekommen“ habe und nach ihren Brüdern gefragt worden sei. Ihr Bruder XXXX sei vor dem Wehrdienst geflohen und nunmehr in Großbritannien aufhältig, seinetwegen würden die noch in Syrien aufhältigen Familienangehörigen Probleme bekommen. Es sei bekannt, dass ausgereiste Syrer im Falle einer Rückkehr gleich verhaftet würden, und es sehr schwer für Frauen sei, in Syrien zu leben. Vielleicht bekomme sie auch Probleme wegen ihres (traditionell angetrauten) Ehemannes, weil er auch zum Militär hätte eingezogen werden sollen.
Im Rahmen des Administrativverfahrens legte die Beschwerdeführerin einen auf diese lautenden, syrischen Personalausweis und Führerschein vor.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid (zugestellt am 22.08.2020) wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Unter einem wurde dieser der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführerin drohe in Syrien keine asylrelevante Verfolgung.
Das BFA stellte der Beschwerdeführerin amtswegig einen Rechtsberater zur Seite.
3. Mit Schriftsatz vom 16.09.2020 erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Rechtsvertretung binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des im Spruch bezeichneten Bescheides. Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin fürchte sich im Falle einer Rückkehr nach Syrien vor „Reflexverfolgung“ durch das syrische Regime bzw. Militär, da diese ihren Ehemann und ihren Bruder einziehen wollen würden. Dies habe sie auch in der Einvernahme angegeben. Außerdem habe vor zwei Wochen die Polizei an der Universität Quneitra konkret nach der Beschwerdeführerin gefragt. Außerdem sei die Beschwerdeführerin illegal ausgereist, da sie für den Ausreisestempel bezahlt habe.
4. Mit Schriftsatz vom 21.09.2020 (eingelangt am 25.09.2020) legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Bezug habenden Verwaltungsunterlagen dem Bundesverwaltungsgericht vor.
5. Seitens der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin wurden mit Schriftsatz vom 10.03.2021 folgende Unterlagen vorgelegt: der britische Aufenthaltstitel ihres Bruders XXXX , geb. XXXX , („residence permit: refugee, leave to remain“), die erste Seite des Bescheids des britischen Home Office vom 10.06.2020 (Ref XXXX ), mit dem ihm am 09.06.2020 für fünf Jahre in Großbritannien Asyl gewährt wurde, eine Seite aus einer Niederschrift, in welcher er die Beschwerdeführerin namentlich als Schwester angab (darin enthalten sind auch Informationen zu seiner Ausbildung und Beschäftigung, etwa dass er von 1999 bis 2006 in XXXX die Schule, von 2006 bis 2009 eine Militärhochschule besucht habe und von 2009 bis 2013 Leutnant der syrischen Armee gewesen sei, er habe auch seinen Reisepass und Militärausweis vorgelegt), sowie ein Schreiben des deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11.06.2015, aus dem hervorgeht, dass dem Bruder der Beschwerdeführerin, XXXX , geb XXXX , in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde (jedoch nicht der Zuerkennungsgrund), sowie dessen Reiseausweis.
Seitens der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin wurde mit Schriftsatz vom 11.05.2021 vorgebracht, dass sich aus den mit diesem Schriftsatz vorgelegten Einvernahmen des XXXX ergebe, dass er aus der syrischen Armee desertiert sei, dies sei die Grundlage für die positive Entscheidung gewesen, in der Asylzuerkennung selbst stünden nicht die Entscheidungsgründe. Es wurden die genannten Unterlagen in Vorlage gebracht. In seiner Einvernahme vor den britischen Behörden hatte dieser angegeben, er sei ursprünglich der syrischen Armee beigetreten, um Menschen zu beschützen. 2013 sei jedoch von ihm und seiner Brigade verlangt worden, unschuldige Zivilisten zu töten. Dazu sei er nicht bereit gewesen und deswegen desertiert.
6. Am 20.05.2021 wurde eine Strafregisterabfrage durchgeführt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. XXXX ist eine volljährige syrische Staatsangehörige, die der Volksgruppe der Araber angehört und deren Identität feststeht. Sie ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten und hat keinen Asylausschlussgrund gesetzt. Sie ist nicht im Besitz eines syrischen Reisepasses.
1.2. XXXX stammt aus Quneitra. Das Herkunftsgebiet der XXXX ist aktuell in der Hand des syrischen Regimes, zuvor war Quneitra eine Oppositionshochburg.
1.3. XXXX ist die Schwester von XXXX , der Leutnant der syrischen Armee war und im Jahr 2013 desertierte.
1.4. Dem Bruder der XXXX , XXXX , wurde aufgrund seiner Desertion von der syrischen Armee am 09.06.2020 in Großbritannien der Status des Asylberechtigten („refugee“) zuerkannt.
1.5. XXXX könnte nur über die Grenzübergänge, die in der Hand des syrischen Regimes sind (wie über den Flughafen von Damaskus), sicher und legal nach Syrien zurückkehren.
1.6. XXXX würde diesfalls am jeweiligen Grenzkontrollposten kontrolliert werden und besteht das reale Risiko, dass sie dabei verhaftet und zumindest einer mit Folter verbundenen mehrtägigen Anhaltung zugeführt wird, da man dieser als rückkehrender Syrerin, die aus einer ehemaligen Oppositionshochburg stammt, die vom syrischen Regime zurückerobert wurde, deren Bruder von der syrischen Armee desertiert ist, eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellen würde.
1.7. Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat
Aus der aktuellen Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien aus dem COI-CMS (Version 2, 23.02.2021) ergibt sich wie folgt:
Zur Rückkehr (letzte Änderung: 19.02.2021):
Es liegen widersprüchliche Informationen vor, ob Personen, die nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen müssen, oder nicht. Laut Deutschem Auswärtigen Amt müssen syrische Flüchtlinge, unabhängig von politischer Ausrichtung, vor ihrer Rückkehr weiterhin eine Überprüfung durch die syrischen Sicherheitsdienste durchlaufen (AA 19.5.2020). Auch laut International Crisis Group (ICG) stellt unabhängig davon, welchen administrativen Weg ein rückkehrwilliger Flüchtling wählt, die Sicherheitsfreigabe durch den zentralen Geheimdienstapparat in Damaskus (oder die Verweigerung einer solchen) das endgültige Urteil dar, ob es einem Flüchtling möglich ist sicher nach Hause zurückzukehren (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtet der Danish Immigration Service (DIS) auf Basis von Interviews, dass Syrer, die außerhalb Syriens wohnen und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine Sicherheitsfreigabe benötigen, um nach Syrien zurückzukehren. Weiters berichtete Syria Direct gegenüber DIS, dass lediglich Syrer im Libanon, die über "organisierte Gruppenrückkehr" nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsfreigabe benötigen (DIS 12.2020).
Ein Punkt, der nach wie vor schwer zu ermitteln ist, ist der Anteil der Antragsteller, denen die Rückkehr nicht genehmigt wurde (ICG 13.2.2020). Er wird von den verschiedenen Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018) angegeben. In vielen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgebiete nicht erlaubt (USDOS 11.3.2020).
Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Erfüllung der Wehrpflicht sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019). Einige Beobachter und humanitäre Helfer behaupten, dass die Bewilligungsrate für Antragsteller aus Gebieten, die als regimefeindliche Hochburgen identifiziert wurden, nahezu Null ist (ICG 13.2.2020). Kriterien und Anforderungen, um ein positives Ergebnis zu erhalten, sind nicht bekannt. Es gibt Berichte, denen zufolge Rückkehrer trotz positiver Sicherheitsüberprüfung Opfer willkürlicher Verhaftung, Folter oder Verschwindenlassens geworden und vereinzelt in Haft ums Leben gekommen sein sollen (AA 19.5.2020).
Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden, und darum die Genehmigung zur Rückkehr nicht erhalten, sind aufgefordert ihren „Status zu klären“, bevor sie zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). Einem syrischen General zufolge müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren möchten, in der entsprechenden syrischen Auslandsvertretung „Versöhnung“ beantragen und unter anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben und Angaben über Tätigkeiten in der Zeit des Auslandsaufenthaltes etc. machen. Diese Informationen werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen dem General zufolge dort ein „Versöhnungsformular“ ausfüllen (DIS 6.2019). Um im Falle der Rückkehr einer Verhaftung zu entgehen, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte zu erhalten und diese, wenn möglich, zu bereinigen. Persönliche Kontakte und Bestechungsgelder sind die gängigsten Mittel und Wege zu diesem Zweck, doch aufgrund ihrer Informalität und der Undurchsichtigkeit des syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Sicherheitsfreigaben nicht immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020).
Zwar schützt der Genehmigungsprozess potenzielle Rückkehrer nicht vor Misshandlung durch die Milizen oder zukünftiger Verfolgung, trägt jedoch dazu bei, die Unsicherheit zu verringern, mit der sie konfrontiert sind, und nimmt ihnen damit ein Element der Abschreckung (ICG 13.2.2020).
Der Sicherheitssektor kontrolliert den Rückkehrprozess in Syrien. Die Sicherheitsdienste institutionalisieren ein System der Selbstbeschuldigung und Informationsweitergabe über Dritte, um große Datenbanken mit Informationen über reale und wahrgenommene Bedrohungen aus der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Um intern oder aus dem Ausland zurückzukehren, müssen Geflüchtete umfangreiche Formulare ausfüllen (EIP 6.2019).
Syrer benötigen in unterschiedlichen Lebensbereichen eine Sicherheitsfreigabe von den Behörden, so z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäftes, eine Eheschließung und Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnsitz zu wechseln, für Wiederaufbautätigkeiten oder auch, um eine Immobilie zu kaufen (FIS 14.12.2018; vgl. EIP 6.2019). Die Sicherheitsfreigabe kann auch Informationen enthalten, z.B. wo eine Person seit dem Verlassen des konkreten Gebietes aufhältig war. Der Genehmigungsprozess könnte sich einfacher gestalten für eine Person, die in Damaskus aufhältig war, wohingegen der Aufenthalt einer Person in Orten wie Deir ez-Zour zusätzliche Überprüfungen nach sich ziehen kann. Eine Person wird für die Sicherheitserklärung nach Familienmitgliedern, die von der Regierung gesucht werden, befragt, wobei nicht nur Mitglieder der Kern- sondern auch der Großfamilie eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018).
Es ist schwierig, Informationen über die Lage von Rückkehrern in Syrien zu erhalten. Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer (TN 10.12.2018), oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von Rückkehrern (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen der Regierung nicht mehr mit Journalisten (TN 10.12.2018) oder sogar mit Verwandten sprechen, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt sind (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es, wohl auch aufgrund deren geringen Zahl, keine Angaben (ÖB 29.9.2020).
Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle, wie einem Checkpoint, von unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Personals am Kontrollpunkt oder praktische Probleme, wie die Namensgleichheit mit einer von der Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden, können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite zu gewärtigen haben, wie Festnahme und im Zuge dessen auch Folter. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet gearbeitet hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien, wie Angriffe der Regierung, verbreitet haben sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Einer Quelle zufolge kann es sein, dass die Regierung eine Person, deren Vergehen als nicht so schwerwiegend gesehen wird, nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit festnimmt (FIS 14.12.2018). Jeder Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten und es findet keine Abstimmung und Zentralisierung statt. Daher kann es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen kommen (AA 4.12.2020).
Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Checkpoint beeinflussen kann, ist das Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. In einem Ort, der von der Opposition kontrolliert wird oder wurde, zu wohnen oder von dort zu stammen kann den Verdacht des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018).
Laut ICG ist nicht immer klar, wen die syrische Regierung als Gegner ansieht, bzw. kann sich dies im Laufe der Zeit auch ändern. Demnach gibt es keine Gewissheit darüber, wer vor einer Verhaftung sicher ist. Viele Flüchtlinge, mit denen ICG Gespräche führte, berichteten, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr garantiert (ICG 13.2.2020).
Es wurde regelmäßig von Verhaftungen von und Anklagen gegen Rückkehrer gemäß der Anti-Terror-Gesetzgebung berichtet, wenn diesen Regimegegnerschaft unterstellt wird. Diese Berichte erscheinen laut deutschem Auswärtigem Amt glaubwürdig, konnten im Einzelfall aber nicht verifiziert werden (AA 13.11.2018).
Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind, exil-politische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten (ÖB 29.9.2020; vgl. TWP 2.6.2019). Es gab Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste mit Drohungen gegenüber noch in Syrien lebenden Familienmitgliedern Druck auf in z.B. Deutschland lebende Verwandte ausübten (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung hat Interesse an politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland. Eine Gefährdung eines Rückkehrers im Falle von exil-politischer Aktivität hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der Person und von zahlreichen anderen Faktoren, wie dem familiären Hintergrund und den Ressourcen ab, die der Regierung zur Verfügung stehen (STDOK 8.2017). Der Sicherheitssektor nützt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um, wie in der Vergangenheit, lokale Informanten zur Informationsgewinnung und Kontrolle der Bevölkerung zu institutionalisieren. Die Regierung weitet ihre Informationssammlung über alle Personen, die nach Syrien zurückkehren oder die dort verblieben sind, aus. Historisch wurden Informationen dieser Art benutzt, um Personen, die aus jedwedem Grund als Bedrohung für die Regierung gesehen werden, zu erpressen oder zu verhaften (EIP 6.2019). Das Schreiben eines „taqrir“ (Bericht), d.h. die Meldung von Personen an die Sicherheitsbehörden, ist seit Jahrzehnten Teil des Lebens im ba'athistischen Syrien, der laut ICG auch unter den Flüchtlingen im Libanon fortbesteht. Motive sind dabei persönliche Bereicherung, Begleichen von Rechnungen oder Vermeidung selbst zur Zielscheibe zu werden. Sogar Regimebeamte geben zu, dass Verhaftungen aufgrund unbegründeter Denunziationen erfolgen (ICG 13.2.2020).
Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Personen, die nach Syrien zurückgekehrt waren (IT 17.3.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer Rückkehr verhaftet und verhört – inklusive Geflüchteten, die aus dem Ausland nach Syrien zurückkehrten, IDPs aus von der Opposition kontrollierten Gebieten, und Personen, die in durch die Regierung wiedereroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der Regierung unterschrieben haben. Sie wurden gezwungen, Aussagen über Familienmitglieder zu machen und in manchen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019; vgl. EIP 6.2019).
Syrische Flüchtlinge benötigen für die Heimreise üblicherweise die Zustimmung der Regierung und die Bereitschaft, vollständige Angaben über ihr Verhältnis zur Opposition zu machen. In vielen Fällen hält die Regierung die im Rahmen der „Versöhnungsabkommen“ vereinbarten Garantien nicht ein, und Rückkehrer sind Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden oder auch Inhaftierung und Folter ausgesetzt, mit dem Ziel Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).
Nach Einschätzung des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Internationalen Komitees vom roten Kreuz (IKRK) sind die Bedingungen für eine umfassende Rückkehr von Flüchtlingen nach Syrien in Sicherheit und Würde aufgrund weiter bestehender signifikanter Sicherheitsrisiken für die Zivilbevölkerung in ganz Syrien weiterhin nicht gegeben (AA 4.12.2020).
Zu Sicherheits- und Nachrichtendiensten (letzte Änderung: 11.02.2021):
Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Techniken, um Bürger einzuschüchtern oder zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen, andererseits jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder die Androhung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien erhalten spezielle Aufmerksamkeit von den Sicherheitskräften, aber auch ganz im Allgemeinen müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen (GS 11.2.2017; vgl. USDOS 11.3.2020).
Zu Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung (letzte Änderung: 11.02.2021):
NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten begehen (USDOS 11.3.2020; vgl. TWP 23.12.2018). Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen werden (USDOS 11.3.2020). Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren (AA 4.12.2020).
Zur Einreise nach Syrien (letzte Änderung: 09.12.2020):
Infolge der COVID-19-Pandemie wurden sowohl der Flughafen Damaskus als auch die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen (AA 19.5.2020). Es gab jedoch bereits wieder Lockerungen für Reisen in das Ausland als auch bei der Einreise nach Syrien. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde wiederaufgenommen (BMEIA 19.8.2020). Es kommt jedoch zu verstärkten Einreisekontrollen, Gesundheitsprüfungen und Einreisesperren (AA 19.8.2020).
Zu Versöhnungsabkommen:
Die sogenannten Versöhnungsabkommen sind Vereinbarungen, die ein Gebiet, das zuvor unter der Kontrolle einer oppositionellen Gruppierung stand, offiziell wieder unter die Kontrolle des Regimes bringen (STDOK 8.2017). Der Abschluss der sogenannten "Reconciliation Agreements" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung wenig gemeinsam hat (ÖB 29.9.2020). Die Regierung bietet, meist nach schwerem Beschuss oder Belagerung, ein Versöhnungsabkommen an, das an verschiedene Bedingungen geknüpft ist (STDOK 8.2017; vgl. ÖB 29.9.2020). Diese Bedingungen unterscheiden sich von Abkommen zu Abkommen (STDOK 8.2017). Sie beinhalteten oft die Evakuierung von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden. Sie werden also auch dazu benutzt, Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB 29.9.2020). Die Wehrpflicht war bisher meist ein zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden, oder dass sich Personen verpflichten müssen, der Regierung z.B. für Spionage zur Verfügung zu stehen (STDOK 8.2017).
Im Rahmen von Versöhnungsvereinbarungen gemachte Garantien der Regierung gegenüber Individuen oder Gemeinschaften werden jedoch nicht eingehalten (EIP 6.2019; vgl. AA 4.12.2020, FIS 14.12.2018). In zuvor jahrelang von der bewaffneten Opposition kontrollierten Gebieten berichten syrische Menschenrechtsorganisationen weiterhin von einer Zunahme willkürlicher Befragungen und Verhaftungen durch das syrische Regime. Zuletzt wurde nach Ablauf einer in den sog. Versöhnungsabkommen ausgehandelten einjährigen Frist auch aus den ehemaligen Oppositionshochburgen Ost-Ghouta sowie Dara‘a und Quneitra im Süden Syriens ein erneuter Anstieg von Verhaftungen als oppositionell geltender Personen oder humanitärer Helfer sowie Zwangsrekrutierungen berichtet. Während ein Versöhnungsabkommen in einer Region geachtet wird, kann dies bei Überquerung eines Checkpoints bereits missachtet werden, und es kann zu willkürlichen Verhaftungen kommen (AA 4.12.2020). Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien zurückhaltend, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020).
Zur Situation in vom syrischen Regime zurückeroberten Gebieten (insb. Quneitra):
Mit 19.6.2018 startete die syrische Regierung eine Offensive zur Rückeroberung der Provinzen Quneitra und Dara‘a im Süden Syriens (DS 5.7.2018). Die beiden Provinzen wurden durch die Regierung zurückerobert und Ende Juli 2018 wurden auch die letzten Dörfer, die sich noch unter Kontrolle einer mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) in Verbindung stehenden Gruppierung befanden, erobert. Die meisten dieser Städte und Dörfer kapitulierten unter sogenannten Versöhnungsabkommen, wobei Kämpfern und Zivilisten die Möglichkeit gegeben wurde, in von oppositionellen Gruppen kontrollierte Gebiete im Norden Syriens zu ziehen (TG 31.7.2018). Mit der Rückeroberung der Gebiete in Südsyrien erlangte die syrische Regierung außerdem die Kontrolle über die syrisch-jordanische Grenze zurück (ISW 15.7.2018).
Im Süden/Südwesten Syriens kommt es aufgrund großer Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem syrischen Regime, vor allem aufgrund fehlender Grundversorgung, nicht eingehaltener Abmachungen im Rahmen von "Versöhnungsabkommen" und einer Zunahme an anhaltenden Verhaftungswellen, Gewaltausübung und gezielten Tötungen vermehrt zu Demonstrationen, Unruhen sowie bewaffneten Auseinandersetzungen, Anschlägen und gezielten Tötungen (AA 4.12.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020). Obwohl das Regime bereits im Sommer 2018 die Kontrolle zurückerlangte, kann es bisher keine effektive Kontrolle ausüben. Einige Gebiete im Südwesten werden weiterhin de-facto von nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen kontrolliert (AA 4.12.2020).
Zehntausende Menschen sind weiterhin verschwunden, die Mehrheit seit 2011. Unter ihnen befinden sich humanitäre Helfer, Anwälte, Journalisten, friedliche Aktivisten, Regierungskritiker und -gegner sowie Personen, die anstelle von Verwandten, die von den Behörden gesucht wurden, inhaftiert wurden (AI 18.2.2020). In Gebieten, die unter der Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW 14.1.2020).
Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind jedoch keine Neuerung der Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC 24.1.2019).
In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vgl. SHRC 24.1.2019, HRW 13.1.2021). Diejenigen, die sich mit der Regierung "versöhnt" haben, werden weiterhin durch die Regierungstruppen misshandelt (HRW 14.1.2020; vgl. AA 4.12.2020, SNHR 26.1.2021).
Teilen der syrischen Bevölkerung, speziell Rückkehrern und Menschen in Gebieten, die vom Regime zurückerobert wurden, fehlt weiterhin der Zugang zu für den persönlichen Alltag, Dienstleistungen und ihre Bewegungsfreiheit notwendigen Personal- und Personenstandsdokumenten (AA 19.5.2020).
Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren und die durch das Regime und seine Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert wurden. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich eingeschränkt (SWP 7.4.2020). 15,5 Millionen Menschen benötigten 2019 dringend Zugang zu (Trink-)Wasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen (2018: 12,1 Mio.). Insbesondere im Süden (Dara‘a, Quneitra) sowie im Norden (Idlib, Aleppo) ist die Bevölkerung in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe geliefertes Wasser angewiesen (AA 4.12.2020).
Während sich die Versorgungslage innerhalb Syriens 2019 verbessert hatte, sind mit steigender Tendenz 11,1 Mio. Menschen von humanitärer Hilfe abhängig, die jedoch nicht in benötigtem Maße zur Verfügung gestellt werden kann (AA 4.12.2020). Die Anzahl der akut Hilfsbedürftigen ist gegenüber dem Vorjahr leicht gestiegen (von 5 auf 5,6 Mio.) (AA 19.5.2020). 6,7 Mio. Menschen sind mit Stand 2020 weiterhin innerhalb Syriens auf der Flucht (CIA 16.2.2021), mehr als fünf Millionen befinden sich außerhalb des Landes. Acht von zehn syrischen Haushalten leben nach wie vor unterhalb der Armutsgrenze. Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Das syrische Regime gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten. Insgesamt wurden im Februar und März 2020 nur 44 % der humanitären Missionen, die einer Genehmigung des Regimes bedürfen, genehmigt (AA 19.5.2020).
Zu Desertion:
Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen (STDOK 8.2017). Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch Deserteure (DIS 5.2020) und Wehrdienstverweigerer Ziel der umfassenden Anti-Terror-Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS 5.2020).
Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur wenige Fälle von Desertion bekannt (Landinfo 3.1.2018).
Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sogenannte „externe Desertion“), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt. Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt (STDOK 8.2017).
Unterschiedliche Quellen berichten von unterschiedlichen Konsequenzen für Deserteure und Überläufer. Während eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen des Krieges exekutiert wurden, habe die syrische Regierung jedoch ihre Vorgehensweise in den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an Kräften an der Front festgenommene Deserteure unter Umständen vor dem Militärgericht zu kurzen Haftstrafen verurteilt. Eine andere Quelle berichtet jedoch, dass Deserteure üblicherweise von Einheiten des syrischen Geheimdienstes inhaftiert würden, womit sie dem Risiko von Folter und Verschwindenlassen ausgesetzt sein können. Auch berichtet eine weitere Quelle, dass Tötungen und Exekutionen von Deserteuren weiterhin stattfinden, zum Beispiel während der Offensive in Idlib im Jahr 2020 (DIS 5.2020).
Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).
In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle der syrischen Regierung gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bezüglich des Wehrdienstes getroffen (STDOK 8.2017; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge wurden solche Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen (AA 4.12.2020; vgl. FIS 14.12.2018, DIS 5.2020). Auch in den "versöhnten Gebieten" sind Männer im entsprechenden Alter mit der Wehrpflicht oder mit der Rekrutierung durch regimetreue bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018). In ehemals von der Opposition kontrollierten Gebieten landeten zudem einer Quelle zufolge viele Deserteure und Überläufer, denen durch die Versöhnungsabkommen Amnestie gewährt werden sollte, in Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).
Aus dem InterimsIeitfaden zum internationalen Schutzbedarf von Asylsuchenden aus Syrien: Aufrechterhaltung der UNHCR-Position aus dem Jahr 2017 (Februar 2020) der UNHCR ergibt sich wie folgt:
Den Vereinten Nationen und Menschenrechtsbeobachtern zufolge werden willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Inhaftierungen unter lebensbedrohlichen Umständen, systematische und weitverbreitete Folter und sonstige Formen der Misshandlung, einschließlich sexueller Gewalt, Strafverfolgung nach der zu weit gefassten Antiterrorgesetzgebung unter Verletzung des Rechts des Beschuldigten auf ein faires Verfahren vor Antiterror- und militärischen Feldgerichten sowie summarische und außergerichtliche Hinrichtungen weiterhin in großem Umfang dokumentiert. Sie richten sich überwiegend gegen Personen, die tatsächlich oder vermeintlich Gegner der Regierung sind. Zu den Personen, denen regelmäßig eine regierungsfeindliche Gesinnung unterstellt wird, zählen Zivilpersonen (und insbesondere Männer und Jungen im kampffähigen Alter) aus (ehemals) von der Opposition kontrollierten Gebieten; Wehrdienstverweigerer und Deserteure; Mitglieder lokaler Räte; Aktivisten; Journalisten und Bürgerjournalisten aus der Zivilbevölkerung; Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen und Freiwillige des Zivilschutzes; medizinische Fachkräfte; Verteidiger der Menschenrechte sowie Hochschullehrkräfte und -wissenschaftler. Die tatsächliche oder vermeintliche oppositionelle Haltung einer Person wird häufig Personen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Die Feststellungen ergeben sich aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsunterlagen sowie den Aktenbestandteilen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Als Beweismittel insbesondere relevant sind die Niederschriften der Einvernahmen durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (Erstbefragung; EB) und durch das BFA (EV), der Beschwerdeschriftsatz, die Länderinformation der Staatendokumentation – Syrien Version 2 (generiert über das COI-CMS) mit den darin enthaltenen, bei den Feststellungen näher zitierten Berichten, die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Dokumente und Unterlagen und die Strafregisterabfrage vom 20.05.2021.
2.2. Zu folgenden Feststellungen wird näher ausgeführt wie folgt:
2.2.1. Aufgrund der beim BFA vorgelegten Dokumente (Personalausweis und Führerschein) steht die Identität der Beschwerdeführerin fest.
Die Feststellung der Unbescholtenheit gründet sich auf eine eingeholte Strafregisterauskunft, ebenso wie die Feststellung fehlender Asylausschlussgründe, die sich auch darauf gründet, dass solche Gründe nicht in Ansatz zu sehen oder hervorgekommen sind.
Dass die Beschwerdeführerin gegenwärtig nicht im Besitz eines syrischen Reisepasses ist, ergibt sich aus ihren dahingehend gleichbleibenden Angaben.
Dass die Beschwerdeführerin aus Quneitra stammt, ergibt sich aus ihren glaubwürdigen, gleichbleibenden Angaben sowie den vorgelegten Unterlagen. Unabhängig vom Verfahren der Beschwerdeführerin haben auch die Brüder der Beschwerdeführerin in ihren jeweiligen Asylverfahren in Großbritannien bzw. Deutschland angegeben, aus Quneitra zu stammen. Die aktuellen Machtverhältnisse ergeben sich aus einer Nachschau auf https://syria.liveuamap.com vom 20.05.2021. Dass Quneitra eine ehemalige Oppositionshochburg war, ergibt sich aus dem LIB (vgl. auch 1.7).
Da – unabhängig voneinander – sowohl die Beschwerdeführerin als auch ihr Bruder XXXX in ihren jeweiligen Verfahren einander als Geschwister angegeben haben, ist dieses Familienverhältnis glaubwürdig. Dass XXXX Leutnant der syrischen Armee war und im Jahr 2013 desertierte, ergibt ich ebenso wie die Feststellung, dass ihm aufgrund seiner Desertion von der syrischen Armee in Großbritannien der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde aus den am 10.03.2021 und 11.05.2021 vorgelegten Unterlagen aus dessen Verfahren in Großbritannien (Bescheid des britischen Home Office vom 10.06.2020 (Ref XXXX ), Einvernahmen aus dem Verfahren). Es ist nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin deswegen bereits Probleme bei einem Checkpoint bekommen hat, weil sie es durchgehend im Verfahren angegeben hat und es vor dem Hintergrund der Länderberichte nachvollziehbar erscheint. Demnach sind Familienangehörige von Deserteuren noch größeren Repressalien oder Bedrohungen ausgesetzt als Angehörige von Wehrdienstverweigerern.
Zu der im angefochtenen Bescheid dargelegten Begründung ist wie folgt festzuhalten: Entgegen den von der Beschwerdeführerin im Verfahren angegebenen Fluchtgründen ging die Behörde davon aus, die Beschwerdeführerin habe angegeben, dass sie Syrien „ausschließlich aufgrund des Krieges und aus Sehnsucht zu [i]hrem Lebenspartner verlassen“ habe. Dies ist aktenwidrig, genauso wie die Annahme im Bescheid, dass am 14.02.2017 vor dem BFA eine Einvernahme stattgefunden habe (zu diesem Zeitpunkt hielt sich die Beschwerdeführerin noch in Syrien auf) bzw. dass sie aus Idlib stamme (sie gab durchgehend an, aus Quneitra zu stammen). (vgl. zu allem Bescheid, S. 104) In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, die von der Beschwerdeführerin „vorgebrachten Beeinträchtigungen“ würden sich in „Ihrer Intension nicht konkret gegen“ diese selbst richten, sondern sei sie ohne gegen sie „gerichtete Verfolgungsabsicht staatlicher Behörden in Mitleidenschaft gezogen“ worden (Bescheid, S. 107). Ob die belangte Behörde davon ausgeht, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin aufgrund ihres wehrdienstverweigernden Bruders bei einem Checkpoint Probleme bzw. „sehr viel Stress“ bekommen zu haben (AS 98), der Wahrheit entspricht, wurde von jener nicht explizit festgestellt. Einerseits werden die „beim BFA behaupteten Fluchtgründe“ „für wahr erachtet“, jedoch diese im selben Satz auf „Ausreise aus dem Heimatland wegen des Krieges sowie persönlicher Gründe“ eingeschränkt (Bescheid, S. 103). Allerdings unterstellt die Behörde dieses Vorbringen im Bescheid ihrer Entscheidung und ist daher davon auszugehen (vgl. etwa Bescheid, S. 104: „dass Sie sogar am Checkpoint kontrolliert worden sind“).
2.2.2. Die Feststellung, dass eine Rückkehr nach Syrien nur über vom Regime kontrollierte Grenzübergänge wie den Flughafen von Damaskus sicher und legal möglich ist, ergibt sich aus den aktuellen Länderberichten bzw. aus dem Umstand, dass die Behörde eine andere Möglichkeit nicht aufgezeigt hat. Die Beschwerdeführerin hat daher nur die Möglichkeit, über Damaskus einzureisen, wo das syrische Regime auf sie zugreifen kann. Die Feststellungen hinsichtlich der Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung ergeben sich aus den angeführten, aktuellen Länderberichten, die unter 1.7. näher ausgeführt werden, und hat die belangte Behörde diese Länderberichte auch ihrer eigenen Entscheidung unterstellt. Diesen Feststellungen wurde auch in der Beschwerde nicht widersprochen.
2.2.3. Zur Situation in Syrien
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat ergeben sich aus den unter Punkt 1.7. genannten Länderberichten samt den darin zitierten Quellen. Die aktuellen Länderberichte beruhen auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen und bieten dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche, weshalb im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass besteht, an der Richtigkeit dieser Berichte zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben. Auch die belangte Behörde hat diese Länderberichte ihrer Entscheidung unterstellt und wurde diesen auch in der Beschwerde betreffend den hier entscheidungswesentlichen Sachverhalt nicht substantiiert entgegengetreten, weshalb für das Bundesverwaltungsgericht auch aus diesem Grund keine Zweifel an deren Richtigkeit bestehen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
1. Gemäß § 3 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (in Folge: AsylG 2005), ist Asylwerbern auf Antrag der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft gemacht wurde, dass diesen im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955 (in Folge: GFK), droht und dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG ist unter Herkunftsstaat der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt, oder – im Falle der Staatenlosigkeit – der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes zu verstehen. Dies ist im vorliegenden Fall zweifellos Syrien.
2. Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, droht einer Person, die sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Die Beschwerdeführerin würde im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Rahmen der Einreise über einen vom Regime kontrollierten Grenzübergang als Rückkehrerin, die keinen Reisepass mehr besitzt und die aus einer ehemaligen Oppositionshochburg stammt, die mittlerweile vom Regime zurückerobert wurde, genauer überprüft werden. Dabei würde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass deren Bruder von der syrischen Armee desertiert ist. Aufgrund dessen besteht die maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass man die Beschwerdeführerin festnehmen, dieser wegen der oben dargestellten Desertion eines nahen Verwandten und ihrer Herkunft aus einer ehemaligen Oppositionshochburg eine oppositionelle politische Gesinnung unterstellen und diese zumindest für einige Tage anhalten und im Rahmen dieser Anhaltung der Folter unterwerfen würde.
Daher liegt eine der Beschwerdeführerin objektiv drohende asylrelevante Verfolgung vor.
3. Die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz durch das Bundesamt steht mangels einer diesbezüglichen relevanten Änderung der Rechts- oder Tatsachenlage einer Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054).
4. Da darüber hinaus keine von der Beschwerdeführerin verwirklichte Asylausschluss- oder -endigungsgründe festzustellen waren, ist der Beschwerde der Beschwerdeführerin stattzugeben, dieser der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen und auszusprechen, dass der Beschwerdeführerin somit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
5. Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 – der diesbezüglich § 24 Abs. 4 VwGVG vorgeht (VwGH 28.05.2014, Ra 2014/20/0017) – kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig und in ordnungsgemäßem Ermittlungsverfahren erhoben wurde, zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes immer noch aktuell und vollständig ist und das Verwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilt.
Das ist hinsichtlich des entscheidungsrelevanten Sachverhalts hier der Fall, da dieser bereits von der Behörde ermittelt wurde; diese hat lediglich die sich aus dem ermittelten Sachverhalt ergebenden Rechtsfolgen übersehen und waren daher nur Rechtsfragen zu klären.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (vgl. die unter Punkt 3. angeführte Judikatur); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die für die Lösung des Falles relevante Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter A) dargestellt und ist dieser gefolgt; es ist daher keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung zu erkennen.
Es war somit insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Desertion Familienangehöriger Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit illegale Ausreise inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative politische Gesinnung Sippenhaftung unterstellte politische Gesinnung Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete FurchtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W183.2235449.1.00Im RIS seit
13.09.2021Zuletzt aktualisiert am
13.09.2021