Entscheidungsdatum
31.05.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I419 2167073-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX alias XXXX alias XXXX , StA. NIGERIA, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13.07.2017, Zl. XXXX , zu Recht:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der erste Satz des Spruchpunktes III zu lauten hat: „Eine ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ gemäß § 57 AsylG 2005 wird Ihnen nicht erteilt.“ und es in Spruchpunkt V „§ 18 Abs. 2 Z. 3 BFA-VG“ statt „§ 18 Absatz 1 Ziffer 2, 5 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF,“ zu lauten hat.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste illegal ein, nachdem er 2014 bereits in Italien erfolglos um Asyl angesucht hatte, und stellte anschließend am 20.10.2015 als angeblich Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz, begründet mit religiöser Verfolgung durch Boko Haram, privater Verfolgung, weil seine Familie für die Weitergabe einer Krankheit verantwortlich gemacht werde, und Verbannung der Familie durch die Dorfgemeinschaft, die beschlossen habe, ihn zu opfern.
2. Mit dem bekämpften Bescheid wies das BFA den Antrag betreffend die Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I) sowie des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Nigeria (Spruchpunkt II) ab. Zugleich erteilte es dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt III), wobei für die freiwillige Ausreise keine Frist bestehe (Spruchpunkt IV). Einer Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V) und gegen den Beschwerdeführer ein siebenjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).
3. Beschwerdehalber wird vorgebracht, der Beschwerdeführer hätte keine Familienangehörigen mehr im Herkunftsstaat und könne dort alleine kaum überleben. Bei einer Rückkehr würden ihn die Leute „unter die Lupe nehmen“ und sollte der Fluch seiner Familie bekannt werden, befürchte er, wieder bedroht zu sein. Daher sei ihm zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren. Das siebenjährige Einreiseverbot wegen eines einmaligen Drogenvergehens sei nicht gerechtfertigt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Anfang 30, gesund, arbeitsfähig, ledig und Christ. Seine Identität steht fest. Er gehört der Volksgruppe der Igbo an und spricht Englisch, Aboh (Ukwani) und Igbo, aber kaum Deutsch. Der Beschwerdeführer besuchte im Herkunftsstaat zehn Jahre lang die Schule und sammelte 2011/12 Arbeitserfahrung als Reinigungskraft sowie als Lagerarbeiter. Ab 2012 befasste er sich mit der Instandhaltung und Reparatur von Elektrogeräten wie Fernsehern, Monitoren, Mikrofonen und Tastaturen, zuletzt half er seinem Onkel beim Reparieren von Radiogeräten. Er wuchs in Abo im Bundesstaat Delta auf und hielt sich, mit Ausnahme eines Jahres in Kano, bis zu seiner Ausreise dort auf. Seine Eltern sind verstorben, auch der Stiefvater. Sein Halbbruder, ca. 14, und dessen Vater leben in Abo. Der Onkel lebt ebenso noch im Herkunftsstaat. Der Beschwerdeführer war dort Mitglied der PDP (People’s Democratic Party, demokratische Volkspartei).
Anfang Juni 2014 gelangte er von Libyen kommend, wo er als Autowäscher gearbeitet hatte, illegal nach Italien, wo er sich auch als Minderjähriger ausgab, eine Arbeitserlaubnis erhielt und bis März 2015 wieder als Elektromechaniker tätig war, dann aber keine Arbeit mehr fand. Aus diesem Grund reiste er kurz vor seiner Antragstellung hier weiter nach Österreich, wo er sein angebliches Geburtsdatum noch später angab, um auch hier als Minderjähriger zu gelten.
Er hat afrikanische und rumänische Bekannte im Inland, für die er auch unangemeldet Reinigungsarbeiten verrichtet hat, aber sonst keine privaten oder familiären Bezüge oder finanzielle Bindungen in oder zu Österreich. Abhängigkeiten von oder zu anderen Personen liegen nicht vor. Er reiste mehrmals nach Italien, wo ihm die Botschaft des Herkunftsstaats im April 2017 einen Reisepass ausstellte.
Der Beschwerdeführer hat keine Deutschkenntnisse nachgewiesen und ist kein Mitglied eines Vereines oder einer sonstigen integrationsbegründenden Institution. Es konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer über die Aufenthaltsdauer hinausreichenden Integration des Beschwerdeführers in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden.
Der Beschwerdeführer wurde mittels Charterabschiebung am 18.10.2018 in den Herkunftsstaat verbracht und kehrte spätestens Anfang April nach Italien und im Sommer 2019 nach Österreich zurück. Er hat eine italienische Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis inne, die bis 09.06.2021 gilt.
Das LGS Wien hat den Beschwerdeführer wie folgt verurteilt:
- Am 11.05.2016 zu 8 Monaten Freiheitsstrafe, davon 7 bedingt nachgesehen, als (vermeintlich) jungen Erwachsenen wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften durch Überlassen, weil er am 14.04.2016 einem verdeckten Ermittler drei Kugeln Kokain mit zusammen brutto 0,4 g sowie von Jahresbeginn 2016 bis zum genannten Tag in mehreren Taten mindestens 30 Kugeln Kokain an Unbekannte gewinnbringend verkauft hatte, wobei das Geständnis, die (vermeintliche) Begehung im Alter unter 21 und die Unbescholtenheit mildernd wirkten, erschwerend die mehrfache Tatbegehung,
- am 13.09.2017 zu 8 Monaten Freiheitsstrafe als (vermeintlich) jungen Erwachsenen wegen des Vergehens des versuchten unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften in einer in einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Anlage am 23.08.2017, wobei die Probezeit der ersten Verurteilung auf 5 Jahre verlängert wurde, sowie
- am 30.09.2019 zu 10 Monaten Freiheitsstrafe wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften in einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Anlage, weil er am 18.09.2019 in einer U-Bahn-Station öffentlich zwei Kugeln Heroin mit zusammen 1,2 g brutto gewinnbringend verkauft hatte, wobei die bedingte Nachsicht der ersten und die bedingte Entlassung aus der zweiten Strafe widerrufen wurden.
Deshalb war der Beschwerdeführer zu folgenden Zeiten in Justizhaft: 15.04. bis 13.05.2016, 23.08. 2017 bis 28.03.2018 und 18.09.2019 bis 07.05.2021. Seither ist er nirgends mehr gemeldet und unbekannten Aufenthalts.
Er bezog überwiegend Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, ist arbeitsfähig, hat keine schwere Krankheit und ging außerhalb der Haft nie einer angemeldeten Arbeit nach.
Im Jänner 2021 bezeichnete sich der Beschwerdeführer als rückkehrwillig und bemühte sich mehrfach um die Genehmigung einer freiwilligen Rückkehr auf eigene Kosten in den Herkunftsstaat, der das BFA allerdings nicht zustimmte.
1.2 Zur Lage im Herkunftsstaat:
Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Nigeria mit Stand 08.05.2017 zitiert. Aktuell liegt ein solches mit Stand 23.11.2020 vor, das in der vorliegenden Rechtssache keine Änderung der entscheidenden Sachverhaltselemente beinhaltet. Auch sonst im Beschwerdeverfahren sind keine solchen entscheidenden Änderungen bekannt geworden.
Aus Berichten des Auswärtigen Amts (Deutschland) und Gesundheitsstatistiken ergibt sich betreffend die Pandemie in Nigeria:
„Nigeria ist von COVID-19 im internationalen Vergleich weniger betroffen. Schwerpunkte sind Lagos und die Hauptstadtregion Abuja (Federal Capital Territory). […]
Die Flughäfen Abuja und Lagos sind für den regulären internationalen Flugverkehr geöffnet. Mit kurzfristigen Stornierungen von Flügen und /oder Umbuchungen muss gerechnet werden. Der zur Einreise berechtigte Personenkreis ist beschränkt; derzeit können nur nigerianische Staatsangehörige, Personen mit einer gültigen Daueraufenthaltsgenehmigung für Nigeria und Diplomaten nach Nigeria einreisen. […]
Die Bundesstaaten können auf Grundlage von Empfehlungen der nigerianischen Bundesregierung über das Ausmaß COVID-bezogener Beschränkungen selbständig entscheiden. Einzelne Bundesstaaten haben Bewegungsbeschränkungen und Auflagen innerhalb der Bundesgrenzen verhängt. Im Hauptstadtbezirk Federal Capital Territory sowie in Lagos gilt eine nächtliche Ausgangssperre von 0 bis 4 Uhr. Beschäftigte in systemrelevanten Sektoren und aus dem Ausland nachts Einreisende sind von der nächtlichen Ausgangssperre ausgenommen Geschäfte, Banken, Märkte, Hotels und Unternehmen sind unter Einhaltung von strengen Hygienemaßnahmen geöffnet, in manchen Bundesstaaten dürfen Restaurants nur im Außenbereich bewirten. Bars und Nachtclubs sind geschlossen. Menschenansammlungen mit mehr als 50 Personen bleiben grundsätzlich untersagt. Einzelne Bundesstaaten können religiöse Versammlungen von mehr als 50 Personen unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen zulassen. […]
Im öffentlichen Raum gilt die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Die Behörden können die Einhaltung der Maskenpflicht und von Bewegungsbeschränkungen jederzeit überprüfen, Verstöße sanktionieren und Temperaturmessungen an öffentlichen Orten durchführen.“
Andererseits zeigt das Verhältnis der Zahl Infizierter (ohne Verstorbene und Geheilte), 7.499 per 15.05.2021, davon 812 in Delta State, zur Zahl der ca. 200 Mio. Einwohner (37,5 pro Million) keine gravierende Zahl dieser Infizierten, die Quote in Österreich beträgt derzeit 709 pro Million. Auch bei Berücksichtigung der Testanzahl im Verhältnis zur Bevölkerung, die in Österreich 111-mal so hoch ist, ergibt eine Hochrechnung einen Wert pro Million (4.154), der in Österreich in etwa Anfang April 2020 vorlag und im Vorjahr auch schon mehr als doppelt so hoch war.
Daraus folgt nicht, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr zwangsläufig in eine ausweglose Situation geriete.
Im gegebenen Zusammenhang sind mangels sonstiger Bezüge zum Vorbringen die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:
1.2.1 Politische Lage
[...] Die Nationalversammlung besteht aus zwei Kammern: Senat mit 109 Mitgliedern und Repräsentantenhaus mit 360 Mitgliedern (AA 24.5.2019b). Aus den letzten Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 2019 ging die Regierungspartei „All Progressives‘ Congress“ (APC) siegreich hervor. Sie konnte ihre Mehrheit in beiden Kammern der Nationalversammlung vergrößern. Die größte Oppositionspartei, die „People’s Democratic Party“ (PDP) hatte von 1999-2015 durchgehend den Präsidenten gestellt. 2015 musste sie zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung seitdem geschwächt (AA 16.1.2020).
Auf subnationaler Ebene regiert die APC in 20 der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020). Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 9.2020a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 17 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 9.4.2020). Regionalwahlen haben großen Einfluss auf die nigerianische Politik, da die Gouverneure die Finanzen der Teilstaaten kontrollieren und für Schlüsselsektoren wie Gesundheit und Bildung verantwortlich sind (DW 11.3.2019). [...]
1.2.2 Sicherheitslage
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020). [...]
In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020). [...]
Nordnigeria/ Boko Haram
Boko Haram ist seit Mitte 2010 für zahlreiche schwere Anschläge mit Tausenden von Todesopfern verantwortlich (AA 24.5.2019a). Im August 2016 spaltete sich Boko Haram als Folge eines Führungsstreits in Islamic State West Africa (ISIS-WA) und Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad (JAS) auf (EASO 11.2018a).
Dem Konflikt fielen bisher unterschiedlichen unabhängigen Schätzungen zufolge zwischen 20.000 und 30.000 Menschen zum Opfer (AA 24.5.2019a; vgl. HRW 14.1.2020; EASO 11.2018a). Milizen der Boko Haram und der an Einfluss gewinnende ISIS-WA terrorisieren die Zivilbevölkerung weiterhin durch Mord, Raub, Zwangsverheiratungen, Vergewaltigung und Menschenhandel (AA 16.1.2020). Diese Gruppen sind auch weiterhin für Angriffe auf militärische und zivile Ziele in Nordnigeria verantwortlich (USDOS 24.6.2020).
Seit der Angelobung von Präsident Buhari im Mai 2015 wurden effektivere Maßnahmen gegen die Aufständischen ergriffen (ACCORD 17.4.2020). Die von Boko Haram betroffenen Staaten (v.a. Kamerun, Tschad, Niger, Nigeria) haben sich im Februar 2015 auf die Aufstellung einer circa 10.000 Mann starken Multinational Joint Task Force (MNJTF) zur gemeinsamen Bekämpfung von Boko Haram verständigt (AU-EU o.D.). In den vergangenen Jahren wurde die Militärkampagne gegen die Islamisten auf Druck und unter Beteiligung der Nachbarstaaten intensiviert und hat laut Staatspräsident Buhari zu einem von der Regierung behaupteten „technischen Sieg“ geführt (ÖB 10.2019). Tatsächlich gelang es dem nigerianischen Militär und Truppen aus den Nachbarländern Tschad, Niger und Kamerun, Boko Haram aus einigen Gebieten zu verdrängen (GIZ 9.2020a). Nach dem Rückzug in unwegsames Gelände und dem Treueeid einer Splittergruppe gegenüber dem sogenannten Islamischen Staat ist Boko Haram mittlerweile zur ursprünglichen Guerillataktik von Überfällen auf entlegenere Dörfer und Selbstmordanschlägen - oft auch durch Attentäterinnen - zurückgekehrt (ÖB 10.2019; vgl. ACCORD 17.4.2020). Insgesamt hat sich die Sicherheitslage im Nordosten nach zeitweiliger Verbesserung (2015-2017) seit 2018 wieder verschlechtert. Die nigerianischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, ländliche Gebiete zu sichern und zu halten und beschränken sich auf das Verteidigen einiger urbaner Zentren im Bundesstaat Borno (AA 16.1.2020).
Einige Gebiete stehen immer noch unter der Kontrolle der verschiedenen Fraktionen der Gruppe. JAS scheint im Nordosten in Richtung Kamerun am aktivsten zu sein, während ISIS-WA hauptsächlich in der Nähe der Grenze zu Niger operiert (EASO 2.2019). Im Jahr 2019 führten Boko Haram und ISIS-WA Angriffe auf Bevölkerungszentren und Sicherheitskräfte im Bundesstaat Borno durch. Boko Haram führte zudem in eingeschränktem Ausmaß Anschläge im Bundesstaat Adamawa durch, während ISIS-WA Ziele im Bundesstaat Yobe angriff. Boko Haram kontrolliert zwar nicht mehr so viel Territorium wie zuvor, jedoch ist es beiden Gruppen im Nordosten des Landes weiterhin möglich, Anschläge auf militärische und zivile Ziele durchzuführen (ACCORD 17.4.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
ISIS-WA scheint im Juni 2020 im nordöstlichen Nigeria wieder an Stärke zu gewinnen. Im Juni 2020 wurden mehr als 120 Menschen innerhalb einer Woche von der Gruppe getötet (AP 26.6.2020). Allein im Jahr 2019 sind ca. 640 Zivilisten bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und Boko Haram getötet worden. Außerdem entführte die Gruppe mindestens 16 Menschen (HRW 14.1.2020). Laut einer anderen Quelle wurden bei mindestens 31 bewaffneten Angriffen der Boko Haram im Jahr 2019 mindestens 378 Zivilpersonen getötet (AI 8.4.2020). Im Jahr 2018 kamen beim Konflikt im Nordosten zumindest 1.200 Personen ums Leben, knapp 200.000 Personen wurden intern vertrieben (HRW 17.1.2019).
IOM zählt derweil etwa 1,6 Millionen IDPs, ca. 200.000 nigerianische Flüchtlinge befinden sich in den Nachbarländern (AA 24.5.2019a). Andere Quellen berichten von circa zwei Millionen IDPs und mehr als 240.000 nigerianischen Flüchtlingen in den angrenzenden Staaten (USDOS 11.3.2020).
Auch wenn die zivile Bürgerwehr Civilian Joint Task Force stellenweise recht effektiv gegen Boko Haram vorging, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).
1.2.3 Religionsfreiheit
Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit (GIZ 9.2020b; vgl. ÖB 10.2019; AA 16.1.2020) und Freiheit der Religionsausübung (ÖB 10.2019). Laut Verfassung darf die Regierung keine Staatsreligion beschließen, ist religiöse Diskriminierung verboten und hat jeder die Freiheit seine Religion zu wählen, auszuüben, zu propagieren und zu ändern (USDOS 10.6.2020; vgl. USCIRF 4.2020). Im Vielvölkerstaat Nigeria ist die Religionsfreiheit ein Grundpfeiler des Staatswesens. Die Bundesregierung achtet auf die Gleichbehandlung von Christen und Muslimen, z.B. bei der Finanzierung von Gotteshäusern und Wallfahrten. Sie unterstützt den Nigerian Inter-Religious-Council, der paritätisch besetzt ist und die Regierung in Religionsangelegenheiten berät. Ähnliche Einrichtungen wurden auch in mehreren Bundesstaaten erfolgreich eingeführt (AA 16.1.2020). [...]
Generell können jene Personen, die sich vor Problemen hinsichtlich der Religionsfreiheit oder vor Boko Haram fürchten, entweder staatlichen Schutz oder aber eine innere Relokationsmöglichkeit in Anspruch nehmen, Fälle sind jedoch individuell zu prüfen. Staatlicher Schutz ist wahrscheinlicher außerhalb der nordöstlichen Staaten verfügbar, ist aber auch dort lokalen Ressourcen entsprechend unterschiedlich ausgeprägt (UKHO 1.2019).
1.2.4 Bewegungsfreiheit
Die Verfassung sowie weitere gesetzliche Bestimmungen gewährleisten Bewegungsfreiheit im gesamten Land sowie Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung. Allerdings schränken Sicherheitsbeamte die Bewegungsfreiheit durch Ausgangssperren ein, vor allem in Gebieten, in denen es Terroranschläge oder ethnisch motivierte Gewalt gibt. Dies betrifft aufgrund der Operationen gegen Boko Haram und ISIS-WA v.a. die Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe. Auch in anderen Bundesstaaten kommt es in Reaktion auf gewaltsame Auseinandersetzungen in ländlichen Regionen mitunter zu Ausgangssperren. Bei Operationen von Sicherheitskräften in Städten und an Hauptverkehrsstraßen werden gelegentlich Checkpoints eingerichtet. Zahlreiche von Militär und Polizei betriebene Checkpoints bleiben aufrecht (USDOS 11.3.2020).
Bürger dürfen sich in jedem Teil des Landes niederlassen (USDOS 11.3.2020). Grundsätzlich besteht in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen (AA 16.1.2020). Prinzipiell sollte es einer Person, die von nicht-staatlichen Akteuren verfolgt wird oder die sich vor diesen fürchtet, in einem großen Land wie Nigeria möglich sein, eine interne Relokation in Anspruch zu nehmen. Natürlich müssen die jeweiligen persönlichen Umstände beachtet werden (UKHO 3.2019).
In den vergangenen Jahrzehnten hat durch Wanderungsbewegungen und interethnische Ehen eine fortgesetzte Durchmischung der Wohnbevölkerung auch der „Kern“-Staaten der drei Hauptethnien (Hausa-Fulani, Yoruba, Igbo) stattgefunden. So ist insbesondere eine starke Nord-Süd-Wanderung feststellbar, wodurch Metropolen wie Lagos heute weitgehend durchmischt sind. Es bestehen daher innerstaatliche Fluchtalternativen (ÖB 10.2019). Ein innerstaatlicher Umzug kann allerdings mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem keine Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder der Dorfgemeinschaft leben. Angesichts der Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen in der Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen. Für alleinstehende Frauen besteht zudem die Gefahr, bei einem Umzug in die Großstadt von der eigenen Großfamilie keine wirtschaftliche Unterstützung mehr zu erhalten (AA 16.1.2020). [...]
1.2.5 Grundversorgung
Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).
Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019). [...]
1.2.6 Rückkehr
Generell kann kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen festgestellt werden, welcher geeignet wäre, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die allgemein herrschende Situation in Nigeria stellt keine Bedrohung i.S.v Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK dar. Außerdem kann allgemein festgestellt werden, dass eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Abschiebungen erfolgen auf dem Luftweg, in Linien- oder Chartermaschinen. Rückführungen aus EU-Staaten erfolgen meist durch Charterflüge, die auch durch FRONTEX durchgeführt werden (AA 16.1.2020). Die österreichische Botschaft in Abuja unterstützt regelmäßig die Vorbereitung und Durchführung von Joint Return Operations (JROs) gemeinsam mit FRONTEX (ÖB 10.2019). Ohne gültigen nigerianischen Pass oder einen von einer nigerianischen Botschaft ausgestellten vorläufigen Reiseausweis ist eine Einreise aus Europa kommender nigerianischer Staatsangehöriger nicht möglich. Dies gilt auch für zwangsweise Rückführungen (AA 16.1.2020).
Erkenntnisse darüber, ob abgelehnte Asylbewerber bei Rückkehr nach Nigeria allein wegen der Beantragung von Asyl mit staatlichen Repressionen zu rechnen haben, liegen nicht vor. Verhaftung aus politischen Gründen oder andere außergewöhnliche Vorkommnisse bei der Einreise von abgeschobenen oder freiwillig rückkehrenden Asylwerbern sind nicht bekannt (AA 16.1.2020). Die Erfahrungen mit den JROs seit dem Jahre 2005 lassen kaum Probleme erkennen (ÖB 10.2019). Abgeschobene Personen werden im Allgemeinen nach ihrer Ankunft in Lagos von der zuständigen Behörde (Nigerian Immigration Service), manchmal auch von der NDLEA (National Drug Law Enforcement Agency) befragt (AA 16.1.2020) bzw. erkennungsdienstlich behandelt (ÖB 10.2019) und können danach das Flughafengelände unbehelligt verlassen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). Meist steigen sie in ein Taxi ein oder werden von ihren Familien abgeholt. Es kann jedoch nicht mit gänzlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die abgeschobenen Personen keine weiteren Probleme mit den Behörden haben. Das fehlende Meldesystem in Nigeria lässt allerdings darauf schließen, dass nach Verlassen des Flughafengeländes eine Ausforschung Abgeschobener kaum mehr möglich ist (ÖB 10.2019).
Wegen Drogendelikten im Ausland verurteilte Nigerianer werden nach Rückkehr an die NDLEA überstellt. Ein zweites Strafverfahren in Nigeria wegen derselben Straftat haben diese Personen jedoch trotz anderslautender Vorschriften im „Decree 33“ nicht zu befürchten (AA 16.1.2020). Aus menschenrechtlichen Erwägungen wird gegenüber nigerianischen Behörden als Grund für Abschiebungen stets „overstay“ angegeben, da dieser kein strafrechtliches Delikt darstellt (ÖB 10.2019).
Staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige sind in Lagos und anderen Landesteilen grundsätzlich vorhanden. Sie sind jedoch in schlechtem Zustand, so dass z.B. die Angebote nicht bekannt sind oder eine ausreichende Versorgung dort nicht ohne weiteres gewährleistet ist. Internationale Akteure bemühen sich, neue Rückkehrer- bzw. Migrationsberatungszentren aufzubauen. Eine entsprechende Einrichtung von IOM in Benin-City, Edo State, wurde 2018 eröffnet. Gleichermaßen haben im Herbst 2018 in Lagos, Abuja und Benin City Migrationsberatungszentren der GIZ ihren Betrieb aufgenommen. Gemeinsam mit dem nigerianischen Arbeitsministerium wird dort über berufliche Perspektiven in Nigeria informiert (AA 16.1.2020).
1.3 Zu den Fluchtmotiven des Fremden
1.3.1 Der Beschwerdeführer hat erstbefragt angegeben, er habe Nigeria wegen des Kriegs verlassen. Boko Haram töte viele Leute, und er habe Angst gehabt, sie würden auch ihn töten. Sein Vater sei Politiker gewesen und von Unbekannten getötet worden. Im Fall der Rückkehr hätte er Angst, es gebe „wahrscheinlich immer noch Kämpfe und Krieg“.
1.3.2 In der Einvernahme beim BFA brachte er 2017 vor, seinen längst verstorbenen Vater habe er nie gesehen, seine Mutter sei im Vorjahr gestorben, sein Stiefvater J., ein Möbeltischler bereits 2011 von unbekannten Maskierten erschossen worden. Dieser sei Politiker und im Wahlkampf tätig gewesen, weshalb man ihn umgebracht habe. Weil sie Igbo seien, wären 2009 in Abo, Delta State, Gruppen hinter ihnen her gewesen, mit denen sie gekämpft hätten.
Bereits 2002 habe man die Familie in Delta State bekämpft, um sie weg zu haben, weil eine Krankheit aus ihr komme, und jedes Jahr jemand aus ihr sterbe. Die Gemeinschaft habe beschlossen, sie zu verbannen. Man habe ihn, so der Beschwerdeführer, opfern wollen, und 2013 persönlich verfolgt. Er sei im Juni in den Busch verschleppt worden, aber nachts habe ein Mann namens J. ihm gesagt, was sie vorhätten, und ihm geholfen. Dieser habe ihn nach Kano State gebracht, wo er ein Jahr geblieben und dann nach Libyen geflohen sei. In Kano habe Boko Haram Leute umgebracht. Er sei dort nicht bedroht worden, aber sie würden ihn finden.
1.3.3 In der Beschwerde wird vorgebracht, der Familie des Beschwerdeführers werde pauschal Nähe zur Übersinnlichkeit unterstellt, was eine ernste Bedrohung für alle Familienmitglieder sei. Auch in einem anderen Landesteil könne kein Schutz davor gefunden werden, weil neu Zugezogene von der „örtlichen Bevölkerung“ aus Sicherheitsgründen „auf einen möglichen kriminellen Hintergrund abgeklopft“ würden. Der Beschwerdeführer sei weder in Kano noch anderswo sicher, wenn „Informationen über das Übersinnliche“ an Boko Haram oder andere „vigilante Moslemgruppen“ gingen. In Nigeria werde man „für Hexereiverdacht, etc“ durchaus gelyncht, und Polizeischutz gebe es nicht.
Im Juni 2018 äußerte er, einen Folgeantrag stellen zu wollen, worauf ihm erklärt wurde, dass während des Beschwerdeverfahrens nur Beschwerdeergänzungen vorgesehen sind, und er im September 2018 beim BFA angab, er habe „viele Probleme“ im Herkunftsstaat, der „Geheimbund“ wolle ihn töten.
1.3.4 Dem Beschwerdeführer droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung durch Menschen, die ihn opfern wollen, Boko Haram oder andere Kriminelle, gegen die ihn nicht eine geeignete Ortswahl oder die staatlichen Behörden schützen könnten. Er hat keinen Fluchtgrund glaubhaft gemacht und kein substantiiertes Vorbringen erstattet.
1.3.5 Eine nach Nigeria zurückkehrende Person, bei der keine berücksichtigungswürdigen Gründe vorliegen, wird durch eine Rückkehr nicht automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt. Es gibt keinen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten asylrelevanten Verfolgung unterläge oder automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt würde.
1.3.6 Zusammenfassend wird in Bezug auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und aufgrund der allgemeinen Lage im Land festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall der erneuten Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird.
1.3.7 Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat familiäre und andere soziale Kontakte, die er nach seiner Rückkehr auffrischen und vertiefen kann. Er ist mit der Kultur des Herkunftsstaats und den Gepflogenheiten des dortigen Arbeitsmarkts vertraut. Daher wird es ihm möglich sein, dort Arbeit zu finden und von dieser zu leben. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Nigeria die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre.
2. Beweiswürdigung:
2.1 Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang und der festgestellte Sachverhalt ergeben sich zunächst aus dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA sowie der Beschwerde, ferner den nachgereichten Mitteilungen betreffend die Rückreisebereitschaft und die strafgerichtliche Verurteilung sowie dem Vernehmungsprotokoll vom 19.09.2918 (OZ 10).
Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Fremdenregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Register der Sozialversicherungen und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.
2.2 Zur Person des Fremden:
2.2.1 Die Lebensumstände des Beschwerdeführers samt Ausbildung, Arbeitsmarkterfahrung sowie Privat- und Familienleben ergaben sich – soweit im Folgenden nicht darauf eingegangen wird – aus den bisherigen Feststellungen, seinen Angaben, speziell zuletzt vor dem BFA, und den Abfragen der Register. Seine grundsätzliche Gesundheit und Arbeitsfähigkeit folgen aus den Feststellungen des Strafgerichts, der Haftfähigkeit und dem Umstand, dass er trotz Aufforderung keine Angaben zu seinem aktuellen Gesundheitszustand machte. Die Existenz des Onkels lässt sich aus den Angaben betreffend dessen Berufstätigkeit bis jedenfalls 2014 (AS 215) mit Blick auf eine übliche Lebenserwartung von berufstätigen Männern ableiten. Er hat sie nie ausdrücklich bestritten.
Aus der vom Beschwerdeführer in Italien angegebenen Berufserfahrung (Lebenslauf AS 93) ergab sich die Arbeitserfahrung und ferner, wann er diese sammelte. Da er im gesamten Verfahren vor dem BFA angab, aus Abo, Delta State, zu stammen (AS 5, 213 ff, 219), findet sich kein Grund, dem Beschwerdevorbringen folgend abweichend von einer Herkunft aus Abia State (AS 342) auszugehen, zumal sich aus dem Reisepass des Beschwerdeführers ergibt, dass er in Agbor, Delta State, zur Welt kam (OZ 9, 10).
2.3 Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Nigeria samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von internationalen Organisationen, wie bspw. dem UNHCR, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Das Länderinformationsblatt mit Stand 23.11.2020 wurde dem Beschwerdeführer am 11.02.2021 mit der Einladung übermittelt, dazu Stellung zu nehmen, was dieser (wie schon beim BFA, AS 220) nicht tat.
Der Beschwerdeführer trat damit den Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsstaat nicht entgegen. Seither sind - auch betreffend die Pandemie - keine entscheidungswesentlichen Änderungen der Ländersituation bekannt geworden, zumal der Beschwerdeführer außer (2017) eine frühere Hüftfraktur (AS 212) keine Leiden bekanntgab, womit auch mit Blick auf sein Alter kein pandemiebedingtes Risiko anzunehmen ist.
Die Feststellungen zur Pandemie entstammen der Homepage des deutschen Außenamts (Abfrage 27.05.2021, Information unverändert seit 05.05.2021; www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_0) und des „Centre for Disease Control“ des Herkunftsstaats (per 25.05.2021, covid19.ncdc.gov.ng). Die inländischen Zahlen sind die des BMSGPK mit Stand 27.05.2021, 09:30 h (www.derstandard.at/story/2000124389425/aktuelle-zahlen-coronavirus-oesterreich-weltweit).
2.4 Zum Fluchtvorbringen:
2.4.1 Der Beschwerdeführer brachte im Laufe der Zeit als Fluchtgründe vor: Die Verfolgung durch Boko Haram, die Ermordung des Vaters (später: Stiefvaters), „Kämpfe und Krieg“, Verfolgung als Angehöriger der Igbo, Streit zwischen Moslems und Christen, Gefahr der Tötung als Menschenopfer, Verfolgung als Mitglied einer Familie, der Hexerei und Verbreitung einer Krankheit vorgeworfen werde, sowie Verbannung aus dem Bundesstaat durch die Dorfgemeinschaft.
2.4.2 Dem BFA ist zuzustimmen (S. 73 ff des Bescheids = AS 305 ff), dass es dem Beschwerdeführer aus einer Reihe von Gründen nicht gelungen ist, eine Verfolgung glaubhaft darzulegen. Die Widersprüche und Ungereimtheiten sind zahlreich und bleiben auch in der Beschwerde ungeklärt.
2.4.3 Wie das BFA aufzeigt, divergieren schon die Angaben betreffend die Verfolgung der Familie des Beschwerdeführers von der Erstbefragung bis zur Einvernahme. Gab dieser zunächst an, sein Vater R. sei Politiker gewesen, den eine unbekannte Gruppe bedroht und dann getötet habe, im Herkunftsstaat habe er nur noch die Mutter, und erwähnte, dass Boko Haram „Leute töten“ (AS 5, 9), so erklärte er beim BFA, der Vater sei „vor langer Zeit“ verstorben, der Stiefvater J. dagegen, der politisch tätig gewesen sei, wäre 2011 von Maskierten erschossen worden. (AS 214, 219) Er habe seit 2016 keine Mutter mehr, aber einen Halbbruder von ca. 10 Jahren, der beim Vater lebe, (AS 214) welcher der zweite Stiefvater des Beschwerdeführers sei. Hingegen habe der erste Stiefvater den Beschwerdeführer als eigenen Sohn angenommen. (AS 219) Bereits 2002 sei die Verbannung der Familie beschlossen worden, 2013 dann die Opferung des Beschwerdeführers.
2.4.4 Den Angaben zufolge hätte die Verfolgung der Familie 2002 begonnen, als der Beschwerdeführer (in Wahrheit) ca. 11 oder 12 war, der Vater aber längst tot. Nachdem der Stiefvater den Beschwerdeführer „angenommen“ gehabt hätte, wäre er 2011 umgebracht worden. Allerdings müsste bereits ca. 2006/07 der Halbbruder des Beschwerdeführers zur Welt gekommen sein, und zwar – da er nicht denselben Vater hätte – als Sohn derselben Mutter, und ungeachtet der angeblich seit 2002 andauernden Verfolgung der Familie.
Von der ungewöhnlichen Konstellation abgesehen fällt dabei auf, dass der Halbbruder erst 2017 erwähnt wird, nachdem der Beschwerdeführer zufolge des angeblichen Todes der Mutter nach Geschwistern gefragt wird (AS 214), nicht aber bereits, als er nach Angehörigen im Herkunftsstaat erstbefragt wurde (AS 5). Die Erklärung, dass es „nur ein Halbbruder“ sei, überzeugt mit Blick darauf nicht, dass es sich um das einzige weitere Kind der Mutter handeln würde, der Beschwerdeführer also zumindest von deren Seite keine anderen Geschwister hätte (und nach eigenen Angaben auch keine anderen hat).
Das BFA qualifiziert die genannten Angaben als „Konstruktion während der Einvernahme“, die derart unglaubwürdig sei, dass es die Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens erhärte. (S. 74 f = AS 306 f)
Außer dem ersten und dem zweiten Stiefvater findet auch der Onkel erst spät Erwähnung, nämlich auf die Frage nach der Berufstätigkeit des Beschwerdeführers (AS 215). Auch diese Berufstätigkeit hätte nach dessen Angaben von 2011 bis Mitte 2013 ungeachtet der Verfolgung (Verbannung) der Familie stattgefunden. Diese Verfolgung ist, wie das BFA festhält (S. 75 = AS 307), eine Steigerung des Vorbringens, die sich in der Behauptung fortsetzt, man hätte dem Beschwerdeführer nachgestellt, um ihn zu opfern, womit erstmals eine persönliche Verfolgung vorgebracht wird.
2.4.5 Die Verfolgung des Beschwerdeführers um diesen zu opfern, hätte im Juni 2013 eingesetzt (AS 219), als dieser (in Wahrheit) über 23 Jahre alt war. Warum dies nicht früher stattgefunden hätte, da ja zumindest 11 Jahre davor schon die jährlichen Todesfälle in der Familie die „Gemeinschaft“ zu deren Verbannung bewogen hatten, bleibt im Dunkeln (laut BFA: widerspricht jeder [...] Vernunft, S. 74 = AS 306). Ebenso ungeklärt bleibt, warum der Unbekannte (der denselben Vornamen wie der Stiefvater hat, AS 214), den angeblich verfolgten Beschwerdeführer christlichen Glaubens nach Norden ins islamische Kano „retten“ sollte, (AS 217) und warum die Familie, die „nicht mehr berechtigt“ wäre, in Delta State zu leben, (AS 217) nicht mitzog, sondern noch jahrelang an Ort und Stelle blieb. (AS 214).
Die Verfolgung des Beschwerdeführers wegen seiner Religionszugehörigkeit (AS 216) müsste allerdings schon vor der Flucht nach Kano stattgefunden haben, da dieser dort nach seinen Angaben nicht bedroht wurde (AS 220), jedenfalls nicht 2013/14. Seine ursprüngliche Angabe, dass er dort 2006 gewesen sei, und sonst immer in Abo (AS 213) revidierte er (AS 219). Ein „Streit zwischen Moslems und Christen“ (AS 216) wäre indes für Delta State im christlich dominierten Süden sehr ungewöhnlich und dementsprechend dokumentiert, ebenso die behauptete Verfolgung der Igbo genau dort, die der Beschwerdeführer 2009 als „kleines Kind“ erlitten haben will, in dem Jahr, in dem er in Wahrheit volljährig wurde.
2.4.6 Schließlich führt das BFA auch ins Treffen (S. 76, 73 = AS 308, 305), dass der Beschwerdeführer bereits in Italien mit dem Antrag auf internationalen Schutz erfolglos war und von dort nach eigenen Angaben deshalb nach Österreich kam, weil er keine Arbeit hatte (AS 7), und als Grund, warum er hier einen Asylantrag stellte, Folgendes anführte: „Hier an diesem Ort ist es komfortabler. [...] Ich will hier sein und hier arbeiten.“ (AS 218)
2.4.7 Unter diesen Aspekten schließt sich das Gericht der Beweiswürdigung des BFA zur Gänze an und gelangt zum Schluss, dass der Beschwerdeführer – wie in 1.3 festgestellt – keinen Fluchtgrund glaubhaft gemacht und kein substantiiertes Vorbringen erstattet hat. Er hat unerklärt spät sein Vorbringen betreffend einen zentralen Fluchtgrund – man habe ihn opfern wollen – erstattet, und das belastet dessen Glaubhaftigkeit. Grundsätzlich ist nämlich davon auszugehen, dass kein Asylwerber eine Gelegenheit ungenützt ließe, zentral entscheidungsrelevantes Vorbringen zu erstatten.
Selbst unter der Annahme, jemand wäre hinter ihm her, weil seiner Familie (was nicht festgestellt wurde) Hexerei vorgeworfen würde, wie es die Beschwerde (nochmals gesteigert) formuliert, ergibt sich aus den Länderfeststellungen (oben 1.2.4), dass der Beschwerdeführer einer derartigen privaten Nachstellung durch geeignete Ortswahl entgehen könnte. Auch eine (nicht festgestellte) Gefährdung des Beschwerdeführers durch Boko Haram oder andere Personen aus religiösen Gründen ist nach den Feststellungen in weiten Teilen des Herkunftsstaats nicht zu besorgen. Demgemäß war festzustellen, dass ihm im Herkunftsstaat keine Verfolgung durch Menschen, die ihn opfern wollen, Boko Haram oder andere Kriminelle droht, gegen die ihn nicht eine geeignete Ortswahl oder die staatlichen Behörden schützen könnten.
2.4.8 Diesem Ergebnis widerspricht auch nicht die Beschwerdebehauptung, wonach „man“ für Hexereiverdacht gelyncht werde und Polizeischutz nicht bestehe, wofür ein Internetbeitrag zitiert wird, der sich betreffend Nigeria auf Babys und Kinder bezieht. Somit wurde die Beweiswürdigung des BFA nicht substanziell bestritten, und es bedurfte auch keiner Erwägungen zur Vereinbarkeit der behaupteten Verfolgung mit dem Aufenthalt des Beschwerdeführers im Herkunftsstaat nach der Abschiebung und dessen jüngst mehrfach geäußertem Wunsch, nach Nigeria zurückzukehren.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Abweisung der Beschwerde:
3.1 Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I):
3.1.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht, und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
3.1.2 Zum Vorbringen des Beschwerdeführers ist festzuhalten, dass das Geschilderte (Verbannung der Familie, beabsichtigte Tötung als Opfer etc.) soweit es die behaupteten Erlebnisse vor der Ausreise und deren Kausalität als Fluchtgründe betrifft - wie es bereits das BFA sah („unwahr und erfunden“, AS 308) - als unglaubwürdig, wenig wahrscheinlich und damit in seiner Gesamtheit als nicht den Tatsachen entsprechend erscheint.
Wie die Feststellungen zeigen, hat der Beschwerdeführer damit also keine Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft gemacht, die asylrelevante Qualität hätte. Da auf eine asylrelevante Verfolgung auch sonst nichts hinweist, ist davon auszugehen, dass ihm keine Verfolgung aus in den in der GFK genannten Gründen droht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.
3.2 Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II):
3.2.1 Nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn der Antrag in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG 2005 zu verbinden.
Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage wie allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse liegen nicht vor, auch in Bezug auf die Pandemie nicht, weshalb aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Verdacht auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gemäß Art. 2 oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.
3.2.2 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach erkannt, dass auch die Außerlandes-schaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten kann, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet. Gleichzeitig wurde jedoch unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR betont, dass eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen ist (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; 21.08.2001, 2000/01/0443 mwH). Nach den Feststellungen zu Gesundheit und Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers und den Länderfeststellungen ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten wird.
Das gilt auch dann, wenn – wider Erwarten – eine Unterstützung durch Angehörige des Beschwerdeführers unterbleibt, weil er schulisch gebildet und arbeitsfähig ist und sich auch bereits bisher selbst erhalten konnte, sowohl vor seiner Ausreise nach Libyen im Alter von knapp Mitte 20 als auch nach seiner Abschiebung 2018, nach der es ihm sogar gelang, in kurzer Zeit die Mittel für die neuerliche Reise nach Europa und die zweite illegale Einreise nach Österreich zu beschaffen.
Da der Beschwerdeführer ferner Igbo und die Landessprache Englisch spricht, ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass er im Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht in eine dauerhaft aussichtslose Lage gerät, sodass auch der Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides zu bestätigen war.
3.3 Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, Rückkehrentscheidung und Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt III):
3.3.1 Nichterteilung eines Aufenthaltstitels
Im ersten Satz von Spruchpunkt III des ersten angefochtenen Bescheids sprach die belangte Behörde aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“ nicht erteilt werde. Damit war nach der Begründung (S. 82 = AS 314) das in § 57 AsylG 2005 beschriebene Rechtsinstitut „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemeint, wie die Bescheidbegründung erweist (S. 82). Dem ist durch die Richtigstellung des Spruchs Rechnung zu tragen.
Nach § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz in drei Fallkonstellationen zu erteilen, nämlich (jeweils unter weiteren Voraussetzungen) nach mindestens einem Jahr der Duldung (Z. 1), zur Sicherung der Strafverfolgung gerichtlich strafbarer Handlungen und zur Geltendmachung oder Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche im Zusammenhang mit solchen Handlungen (Z. 2) sowie bei Gewaltopfern, die glaubhaft machen, dass die Erteilung dieser Aufenthaltsberechtigung zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist (Z. 3).
Von den alternativen Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Z. 1 bis 3 AsylG 2005 liegt hier keine vor und wurde vom Beschwerdeführer auch keine behauptet. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz war dem Beschwerdeführer daher nicht zuzuerkennen.
3.3.2 Rückkehrentscheidung
Wenn ein Antrag auf internationalen Schutz sowohl betreffend den Status des Asyl-, als auch jenen des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird, wie im bekämpften Bescheid geschehen, ist nach § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG vorgesehen, dass das BFA eine Rückkehrentscheidung erlässt.
Das gilt nur dann nicht, wenn eine Rückkehrentscheidung wegen eines Eingriffs in das Privat- oder Familienleben eines Fremden auf Basis des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG für dauernd unzulässig zu erklären ist. Zu entscheiden ist dabei nach einer individuellen Abwägung der berührten Interessen gegenüber den öffentlichen, ob ein Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig ist.
Dabei ergibt im Fall des Beschwerdeführers eine individuelle Abwägung der berührten Interessen, dass ein Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers durch seine Außerlandesbringung als im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK verhältnismäßig anzusehen ist.
Der Beschwerdeführer hat kein Familienleben im Bundesgebiet. Zu prüfen war daher ein etwaiger Eingriff in sein Privatleben. Unter den gegebenen Umständen kann vom Vorhandensein eines Privatlebens über den Umgang mit Mithäftlingen und Justizpersonal hinaus kaum ausgegangen werden, und auch dieses muss seit der Haftentlassung auf Besuche beschränkt bleiben. Angesichts des seitherigen Untertauchens des Beschwerdeführers und der italienischen Aufenthalts- und Arbeitsberechtigung steht nicht einmal mehr fest, dass er sich noch im Bundesgebiet aufhält.
Sein Aufenthalt dauerte bis zu seiner Außerlandesbringung im Oktober 2018 genau drei Jahre, und davon verbrachte er rund siebeneinhalb Monate in Justizanstalten oder dem Polizeianhaltezentrum. Er reiste nach frühestens einem halben Jahr wieder ins Bundesgebiet ein und hielt sich somit rund zwei weitere Jahre wieder in Österreich auf, wobei er diese Zeit zu mehr als drei Vierteln in Justizanstalten verbrachte. Nach der genannten Anwesenheitsdauer kann auch nicht von einer Aufenthaltsverfestigung ausgegangen werden. Zudem beruhte der Aufenthalt bereits von Anfang an auf einem Asylantrag, der unbegründet und im Anschluss an eine illegale Einreise gestellt worden war, weshalb sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthalts bewusst sein musste.
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf das Erkenntnis des VwGH vom 23.02.2017, Ra 2017/21/0009, wonach bei einem Aufenthalt im Bundesgebiet in der Dauer von viereinhalb Jahren auf Basis eines unberechtigten Antrags auf internationalen Schutz auch dann nicht von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib ausgegangen werden muss, wenn „außerordentliche Integrationsbemühungen“ vorliegen, wie Deutschkenntnisse auf dem Niveau B2 sowie kirchliches, soziales und berufliches Engagement.
Der Beschwerdeführer befand sich demgegenüber zwar – addiert – etwas länger im Inland, verfügt aber über kein nachgewiesenes kirchliches, soziales sowie legales berufliches Engagement, dafür über kaum Deutschkenntnisse, jedoch strafgerichtliche Verurteilungen und insgesamt lange Zeiten in Strafhaft.
Es liegen auch keine Hinweise vor, dass der Beschwerdeführer in Österreich einen solchen Grad an Integration erlangt hätte, der seinen persönlichen Interessen ein entscheidendes Gewicht verleihen würde. Der Beschwerdeführer übte in Österreich keine erlaubte Berufstätigkeit aus und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er konnte auch keine eigenen Existenzmittel in Österreich nachweisen und hat außer durch Schwarzarbeit versucht, sich auch durch gewerbsmäßigen unerlaubten Umgang mit Suchtgiften ein Einkommen zu verschaffen.
Dem allenfalls bestehenden Interesse des Beschwerdeführers an einem Verbleib in Österreich stehen öffentliche Interessen gegenüber. Zuerst steht das öffentliche Interesse daran gegenüber, dass das geltende Migrationsrecht auch vollzogen wird, indem Personen, die ohne Aufenthaltstitel anwesend sind - gegebenenfalls nach Abschluss eines allfälligen Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz - auch zur tatsächlichen Ausreise verhalten werden.
Es würde eine Benachteiligung jener Fremden gleichkommen, die die Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen in Österreich beachten, wenn sich der Beschwerdeführer erfolgreich auf sein Privat- und Familienleben berufen könnte, obwohl er seinen Aufenthalt lediglich durch seine faktische Einreise und einen unbegründeten Asylantrag erzwungen hat. In letzter Konsequenz würde ein solches Verhalten zu einer unsachlichen und damit verfassungswidrigen Differenzierung der Fremden untereinander führen.
Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung kann daher nicht im Sinne von § 9 Abs. 2 BFA-VG als unzulässig angesehen werden.
Dem steht auch § 52 Abs. 6 FPG nicht entgegen, weil dieser für (a) nur für jene Drittstaatangehörigen mit einer bestehenden Aufenthaltsberechtigung eines anderen EWR-Mitgliedstaates (wie z. B. Italien) gilt, deren Ausreise aus dem Bundesgebiet nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit sofort erforderlich ist (was aber hier, wie in 3.4 und 3.5 dargelegt wird, der Fall ist), und (b) lediglich zur Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 FPG eine Alternative beinhaltet, nicht aber zu jener nach Abs. 2.