TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/2 I411 2166767-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.06.2021
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Entscheidungsdatum

02.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I411 2166767-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Robert POLLANZ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx und Rechtsanwalt Dr. Lennart Binder LL.M., Pulverturmgasse 4/2, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl Regionaldirektion Wien, Außenstelle Wien vom 14.07.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer Verhandlung am 16.03.2021 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 07.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, dass er homosexuell sei und von anderen verfolgt worden sei, als er das öffentlich gezeigt habe. Er habe Angst gehabt, getötet zu werden und sei deshalb geflüchtet. Die Regierung unterstütze Menschen, die homosexuelle Personen verfolgen. Diese dürften sie verfolgen und die Regierung erlaube ihnen das Töten. Er könne keine genaueren Angaben machen. Er sei geflohen, da er Angst gehabt habe und damit ihm nichts passiere.

2. Am 27.06.2017 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab er folgendes an; „Mit ca. 11-12 Jahren habe ich angefangen Männer zu lieben. Manche Leute haben mich dann ausgelacht. Deswegen habe ich mich auch versteckt. Wenn ich auf der Straße mit meinen Freunden ging, haben die Leute angefangen zu schreien und zu schimpfen „Das ist ein Homosexueller“. Die Regierung will es auch nicht. Die Christen befürworten es auch nicht. Ich habe immer gesehen wie sie geschrien haben. Einen meiner Freunde haben sie geschlachtet. Ich bin voller Angst weggelaufen. Selbst in Lagos hatte ich immer Angst. In meinem ganzen Körper spürte ich Angst. Jedes Land das mich rettet, werde ich nicht enttäuschen. Das was ich gesehen habe, daran kann ich mich immer noch genau erinnern.“

3. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 14.07.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria als unbegründet ab (Spruchpunkt I. und II.). Zugleich erteilte sie dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG (Spruchpunkt III. erster Satz), erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III. zweiter Satz), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III. dritter Satz) und gewährte eine Frist von 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV.).

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die im vollen Umfang erhobene Beschwerde vom 02.08.2017.

5. Mit Schriftsatz vom 03.08.2017 legte die belangte Behörde dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.

6. Am 16.03.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durch, die auf unbestimmte Zeit vertagt werden musste, da der Beschwerdeführer desorientiert wirkte und nicht ansprechbar war. Die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers legte im Zuge der Verhandlung ein Schreiben der Praxis XXXX vom 09.03.2021 und einen ambulanten Patientenbrief des XXXX XXXX vom 12.03.2021 vor.

7. Mit Schreiben vom 11.05.2021 übermittelte die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers einen fachärztlichen Befundbericht der XXXX vom 07.05.2021.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der oben angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlich orthodoxen Glauben. Er gehört der Volksgruppe der I(g)bo an. Seine Identität steht nicht fest.

Er leidet an paranoider Schizophrenie (F 20.0) und hat paranoide Ideen und Halluzinationen. Derzeit wird er regelmäßig vom sozialpsychiatrischen Ambulatorium XXXX betreut und behandelt. Er nimmt täglich das Medikament Zyprexa Ueberz. TBL täglich ein. Zum jetzigen Zeitpunkt ist er nicht arbeitsfähig und kann den Alltag nicht selbständig bestreiten, sondern ist auf Unterstützung angewiesen.

Der Beschwerdeführer stammt aus dem nigerianischen Bundesstaat Abia. In Nigeria besuchte er 5 Jahre lang die Grundschule und verkaufte anschließend Damentaschen auf einem Markt. Seine Eltern sind verstorben und er verfügt in seinem Herkunftsstaat über keine Kontakte.

Am 22.08.2015 reiste er auf dem Luftweg von Lagos nach Rom und fuhr anschließend mit dem Zug nach Österreich. Zumindest seit dem Tag der Asylantragstellung bzw. dem 07.09.2015 hält er sich im Bundesgebiet auf. Er ist in Österreich nicht vorbestraft.

1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer wurde in Nigeria nicht persönlich bedroht und hat seinen Herkunftsstaat nicht aufgrund individueller Verfolgung verlassen.

Entgegen seinem Fluchtvorbringen kann nicht festgestellt werden, ob er homosexuell ist und ihm in Nigeria aufgrund seiner sexuellen Orientierung die Gefahr einer Verfolgung droht.

Im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat Nigeria wird der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt sein.

1.3. Zur (auszugsweise wiedergegebenen) Lage in Nigeria (mit Angabe der Quellen), soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:

19.4    Homosexuelle

Letzte Änderung: 23.11.2020

Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht (AA 16.1.2020; vgl. GIZ 9.2020b) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). § 214 des Strafgesetzbuchs sieht 14 Jahre Haft für gleichgeschlechtliche Beziehungen vor (ÖB 10.2019). Der im Jänner 2014 verabschiedete Same Sex Marriage Prohibition Act (SSMPA) sieht zudem vor, dass homosexuelle Paare, die heiraten oder öffentlich ihre Zuneigung zeigen, mit Haft bestraft werden können. Das Gesetz sieht bis zu 14 Jahre Haft für Eheschließungen und zivilrechtliche Partnerschaften zwischen zwei Frauen oder zwei Männern vor (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, GIZ 9.2020b). Wer seine Liebesbe¬ziehung zu einem Menschen des gleichen Geschlechts direkt oder indirekt öffentlich zeigt, soll dem Gesetz zufolge mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können (ÖB 10.2019). Die gleiche Strafe ist für die Gründung und Unterstützung von Clubs, Organisationen oder anderen Einrichtungen für Schwule und Lesben vorgesehen (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020). In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo das islamische Recht in Kraft ist, können homosexuelle Handlungen mit Haft, Stockschlägen oder Tod durch Steinigung bestraft werden. Im Jahr 2019 wurden von Scharia-Gerichten keine solchen Urteile verhängt. In den vergangenen Jahren kam es zu Verurteilungen zu Stockschlägen (USDOS 11.3.2020).

Insgesamt gibt es keine systematische staatliche Verfolgung oder aktive Überwachung von Angehörigen sexueller Minderheiten (STDOK 15.9.2020; vgl. ÖB 10.2019, EMB A9./10.2019). Die Rechtsänderung durch den SSMPA hat bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt (AA 16.1.2020). Es gibt nach keinem der betroffenen Gesetze Haftbefehle wegen Homosexualität. Über- oder Zugriffe durch die Polizei erfolgen zufällig oder nach Hinweisen. Es gibt nahezu keine Anklagen unter den spezifisch gegen Angehörige sexueller Minderheiten anwendbaren Gesetzen und noch weniger Verurteilungen. Die Anwendung von Strafgesetz und Scharia gestaltet sich schwierig, denn es gilt der Nachweis gleichgeschlechtlichen Sexualverkehrs. Auch unter dem SSMPA gab es kaum Anklagen. Üblicherweise verlaufen Gerichtsfälle unter diesen Gesetzen im Sand. Allerdings werden manchmal andere Vergehen vorgeschoben, um eine Verurteilung zu vereinfachen. Zudem schafft die Existenz der spezi¬fisch auf sexuelle Minderheiten anwendbaren Gesetze die Basis dafür, dass Personen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren drangsaliert, bedroht oder erpresst werden können. Verhaftungen wiederum ziehen kaum jemals Anklagen nach sich, sondern dienen in erster Linie der Erpressung (STDOK 15.9.2020).

Im August 2018 wurden 57 Personen bei einer Hotelparty in Lagos verhaftet, wo die Polizei „homosexuelle Aktivitäten" feststellte. Ende 2019 lief das Verfahren noch (USDOS 11.3.2020). Ein Richter hat am 27.10.2020 den Fall abgewiesen, in dem 47 Männer [Anm.: Gleicher Fall, immer wieder leicht abweichende Angaben zur Verhafteten / Angeklagten] wegen der Erfül¬lung eines Straftatbestands der nigerianischen Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung vor Gericht standen. Konkreter Grund für die Abweisung sei das Nichterscheinen der Staatsanwaltschaft vor Gericht gewesen, sowie deren Unfähigkeit, Zeugen zu benennen (BAMF 2.11.2020; vgl. NYT 27.10.2020). Nach nigerianischem Recht könnte der Fall zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufgenommen werden (BAMF 2.11.2020).

Gerade im Rahmen der Verabschiedung des SSMPA 2014 kam es zu einer Zunahme an Fällen von Belästigung und Drohung. Es wurde von zahlreichen Verhaftungen berichtetet (USDOS 11.3.2020; vgl. WHER 9./10.2019). Denn der SSMPA hat zu einer weiteren Stigmatisierung von Lesben und Schwulen geführt. Diese werden oftmals von der Polizei schikaniert und misshandelt, sowie von der Bevölkerung gemobbt oder mittels Selbstjustiz verfolgt (GIZ 9.2020b). Das Gesetz dient dabei zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen wie Folter, sexueller Gewalt, willkürlicher Haft, Erpressung von Geld sowie Verletzung von Prozessrechten (USDOS 11.3.2020).

Seit der Verabschiedung des SSMPA ist die Zahl an Gewaltvorfällen gegen Homosexuelle leicht zurückgegangen. Zugleich nahmen Fälle von Erpressungen (TIERS 12.2019; vgl. LN- GO C 9./10.2019), Eindringen in die Privatsphäre und willkürlichen Verhaftungen zu. Im Jahr 2019 ist es zu einer sprunghaften Zunahme von illegalen Anhaltungen und Durchsuchungen, zielgerichtetem Missbrauch sowie ungesetzlichen Verhaftungen gekommen (TIERS 12.2019). Aufgrund von Stigma und Tabu kommt es zu homophoben Vorfällen. Manchmal werden tat-sächliche oder vermeintliche Angehörige sexueller Minderheiten gezielt in eine Falle gelockt. Vergehen reichen von Verhöhnungen über Entlassungen bis hin zu physischen Übergriffen (STDOK 15.9.2020). Die Zahl letzterer hat jedoch abgenommen (STDOK 15.9.2020; vgl. LNGO C 9./10.2019). Die überwiegende Mehrheit von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen sexueller Minderheiten geht von nicht-staatlichen Akteuren aus (STDOK 15.9.2020; vgl. EMB B 9./10.2019). Staatlicher Schutz ist diesbezüglich nicht zu erwarten (STDOK 15.9.2020; vgl. EMB B 9./10.2019, LNGO C 9./10.2019; WHER 9./10.2019). Zu Ermittlungen kommt es nicht. Dieses Phänomen betrifft aber nicht nur Angehörige sexueller Minderheiten, vielmehr ist der Standard der Polizei allgemein niedrig. Allerdings kommt es bei dieser Personengruppe mitunter sogar zur Nötigung oder Verhaftung des Opfers (STDOK 15.9.2020).

Eine andere Möglichkeit, Gerechtigkeit zu suchen, besteht in der Anrufung der National Human Rights Commission. Zwar bleibt der offizielle staatliche Diskurs bezüglich sexueller Minderheiten von Homophobie geprägt. Trotzdem gibt es in staatlichen Bereichen Anknüpfungspunkte - v.a. im Gesundheitsbereich und eben bei der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC). Po¬sitive Trends sind hier sichtbar im Bereich der Kooperation mit der NHRC und der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen durch diese Behörde (STDOK 15.9.2020).

Die Zustimmung der Bevölkerung zum SSMPA und anderen Strafmaßnahmen gegenüber sexuellen Minderheiten ist immer noch hoch, doch ist diese zugleich innerhalb weniger Jahre auch drastisch gesunken. Immer mehr Menschen sind zudem bereit, ein homosexuelles Familienmitglied zu akzeptieren. Mit vermehrter Toleranz sinkt die Radikalität der Homophobie. Allerdings ist die Gewaltschwelle in Nigeria generell niedrig. Während in den Medien eine negative Berichterstattung über sexuelle Minderheiten weiterhin vorherrscht, ist auch dort ein Trend zur Liberalisierung bemerkbar. Immer wieder kommt es nun zu sachlicher Berichterstattung, auch Filme zur Thematik wurden veröffentlicht (STDOK 15.9.2020).

Gesellschaftliche Diskriminierung bei offenem Zurschaustellen der sexuellen Orientierung ist vorhanden (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020). Es kann nach wie vor riskant sein, sich gegenüber der Familie als homosexuell zu outen. Es kann zum Verstoßen, zum Einsperren, zu Gewalt oder zur Zuführung zu einer „Konversionstherapie“ („conversion therapy“) kommen. Allerdings sinkt die Ablehnung homosexueller Familienmitglieder und gleichzeitig steigt deren Akzeptanz (STDOK 15.9.2020).

In mehreren Großstädten können Angehörige und Communities sexueller Minderheiten freier leben. Zudem gibt es dort ein größeres Ausmaß an möglicher Unterstützung. Der maßgebliche Vorteil ist die Anonymität. Diese sinkt naturgemäß im ländlichen Raum - aber auch in den Slums der Großstädte. Es gibt aber auch konträre Meinungen, wonach nämlich die Gesellschaft in bestimmten ländlichen Gebieten toleranter sei, als in der Stadt. Die meisten dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen betreffen Städte. Dies kann aber freilich auch damit zu tun haben, dass dort Vorfälle eher gemeldet und dokumentiert werden (STDOK 15.9.2020).

Die Community wird nicht überwacht (EMB A 9./10.2019). Die Polizei wird nicht aus eigenem Antrieb aktiv oder sucht gezielt nach Homosexuellen (EMB B 9./10.2019; vgl. WHER 9./10.2019). Sie verhaftet Verdächtige in erster Linie mit dem Ziel, Geld zu erpressen (EMB A9./10.2019; vgl EMB B 9./10.2019; LNGO C 9./10.2019; LHRL 9./10.2019). Grundsätzlich kommen Verdächtige nach der Zahlung einer „Kaution“ wieder frei (LNGO C 9./10.2019; vgl. LHRL 9./10.2019).

Auch für betroffene Homosexuellen-NGOs hatte der SSMPA kaum Auswirkungen, keine der Organisationen musste die Arbeit einstellen. Kurzfristig hatten einige Organisationen den Eindruck, von der Bildfläche verschwinden zu müssen. Das taten sie teilweise kurz, und als nichts passierte, tauchten sie wieder auf. Derzeit sieht man eine Professionalisierung bei den Organisationen. Zusammengefasst hatte das Gesetz kurz Auswirkungen auf NGOs, diese ist jedoch vorübergegangen. Eine Bedrohung ist allerdings immer noch spürbar (EMB B 9./10.2019). Ho- mosexuellen-NGOs arbeiten weiter, die Netzwerke sind sogar ausgebaut und sichtbarer geworden. Die Zahl an Organisationen hat sich nahezu verdreifacht. Nur in seltenen - dokumentierten -Ausnahmefällen kam es zu staatlichen Maßnahmen gegen NGOs. Fördergelder werden weiterhin gezahlt und sind nach Angaben einer Quelle sogar gestiegen (STDOK 15.9.2020). Der SSMPA hat neben einer Steigerung der Belästigungen von Homosexuellen auch zu einer erhöhten Sichtbarkeit der homosexuellen Community geführt, und zu dem Bewusstsein in der Bevölkerung, das Homosexualität in Nigeria existiert (WHER 9./10.2019).

Lokale NGOs sammeln Informationen zu Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen sexueller Minderheiten. Ein Beispiel für eine umfangreiche Datensammlung dieser Art stellt der jährlich aktualisierte Menschenrechtsbericht von TIERs und kooperierenden NGOs dar. Einige NGOs betreiben Hotlines bzw. stellen Telefonnummern für Notfälle zur Verfügung. Die meisten Quel¬len gehen davon aus, dass etwa in Polizeigewahrsam geratene Personen wissen, wen sie zur Unterstützung anrufen können. Die Unterstützung wird in erster Linie zwecks Kautionszahlung („bail out“) geleistet (STDOK 15.9.2020).

Einige Anwälte und Vereinigungen stellen Angehörigen sexueller Minderheiten Rechtshilfe zur Verfügung. Diese kommt u.a. beim sogenannten „bail out" aus dem Polizeigewahrsam zu tragen. Gelangt ein Fall tatsächlich vor Gericht, kommt es üblicherweise zur (juristischen) Intervention von NGOs (STDOK 15.9.2020). Verschiedene NGOs bieten Angehörigen sexueller Minder¬heiten rechtliche Beratung und Schulungen in Meinungsbildung, Medienarbeit und Bewusst¬seinsbildung in Bezug auf HIV an (USDOS 11.3.2020). Gemäß zweier Quellen organisieren die Menschenrechtsgruppen im Bereich MSM und WSW (das ist das Gros der männlichen und weiblichen Angehörige sexueller Minderheiten) nach Anruf Anwälte, die im Falle einer Ver¬haftung tätig werden. Diese Gruppen kooperieren fallweise miteinander (NJA 9/10.2019; vgl. EMB B 9/10.2019). Manchmal werden solche Organisationen auch direkt seitens der Polizei kontaktiert (EMB B 9/10.2019). Die Organisation WHER organisiert bei betroffenen WSW eine Freilassung auf Kaution (WHER 9/10.2019).

Es existieren Netzwerke von Menschenrechtsanwälten, welche - im Falle der Verhaftung eines Homosexuellen - unmittelbar kontaktiert werden und die Person gegen „Kaution" freizukaufen versuchen (IO1 20.11.2015). Allerdings gibt es nicht sehr viele Anwälte, die in diesem Bereich arbeiten wollen, da sie sich nicht exponieren wollen (NJA 9./10.2019) Homosexuellen-Netzwer- ke verschiedener Landesteile bzw. Städte stehen miteinander in Kontakt (LHRL 9./10.2019). Die Netzwerke und Organisationen bieten auch Unterstützung und Zufluchtsmöglichkeiten an (USDOS 11.3.2020). Es gibt einige Safe Houses aber die Finanzierung derselben ist nicht ausreichend (LNGO D 9/10.2019). Die NGO WHER betreibt etwa ein Safe House für Frauen, die beispielsweise durch Familie oder Polizei einem unmittelbaren Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind (WHER 9/10.2019).

Netzwerke sexueller Minderheiten sind v.a. in großen Städten präsent und aktiv. Vormals gab es im ländlichen Bereich wenn, dann aus dem Gesundheitsbereich heraus aktive Organisationen. Nunmehr versuchen einige städtische Netzwerke ihre Arbeit auch auf ländliche Gegenden aus¬zudehnen. Insgesamt hat sich die Reichweite der Netzwerke in den letzten Jahren verbessert. Sprachgrenzen und Infrastruktur stellen allerdings Barrieren dar. In den meisten Fällen wissen Angehörige sexueller Minderheiten, wen bzw. welche Organisation sie bei Bedarf kontaktieren können (STDOK 15.9.2020). Es gibt jedoch auch viele Fälle, in denen die Betroffenen nicht wissen, an wen sie sich wenden können (NJA 9./10.2019). Nach Angaben einer anderen Quelle sind die Homosexuellen-NGOs den Betroffenen üblicherweise zumindest in größeren Städten wie Lagos bekannt, in ländlichen Gegenden allerdings oftmals nicht. Dort wissen Betroffene nicht, an wen sie sich im Fall einer Verhaftung wenden können (EMB B 9./10.2019). Angehöri¬ge sexueller Minderheiten können sich durch einen Umzug in eine (andere) Stadt oder einen anderen Stadtteil aus einer direkten Risikolage befreien. Netzwerke und NGOs der Community unterstützen Personen bei diesem Schritt. In einigen Städten gibt es auch von NGOs organi¬sierte Notquartiere (safe house / shelter). Es kommt mitunter auch zu „Zuweisungen“ bedrohter Personen von einer Stadt in eine andere (STDOK 15.9.2020).

Grundsätzlich ist weibliche Homosexualität weniger stark tabuisiert als männliche. WSW sind in geringerem Ausmaß von Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen bedroht und be-troffen. Allerdings sind ihre Netzwerke schwächer. Mitunter kommt es zu Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt. Manche Frauen werden von ihren Familien eingesperrt oder zwangsweise zu „Therapien“ gezwungen (STDOK 15.9.2020). Die Situation von homosexu¬ellen Frauen ist einerseits besser als jene von homosexuellen Männern, da von einem Teil der Männer Homosexualität bei Frauen eher toleriert wird, andererseits sind Frauen in Nigeria generell mit Schwierigkeiten konfrontiert. Für homosexuelle Frauen ist es schwer denkbar, sich gegenüber Familie oder Freunden zu outen. Frauen - wie Männer - heiraten manchmal als Deckmantel für ihre Homosexualität, z.B. eine homosexuelle Frau einen homosexuellen Mann, um sozialen Normen zu genügen. Der SSMPA gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Im Strafrecht (penal code) und Scharia-Recht des Nordens sowie im Strafrecht (criminal code) im Süden gibt es eigene Passagen, die sich mit weiblicher Homosexualität befassen (WHER 9./10.2019).

Homosexuelle versuchen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und weit verbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen (AA 16.1.2020). Generell gehen viele Nigerianer mit ihrer Sexualität nicht offen um. Das gesellschaftliche Umfeld führt zur Geheimhaltung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Zahlreiche Angehörige sexueller Minderheiten sind „normal“ verheiratet. Dies dient einerseits der Verschleierung, andererseits dem Entsprechen sozialer Normen (STDOK 15.9.2020).

Sichtbarkeit im Auftreten und im Verhalten stellt einen Risikofaktor dar. Dies betrifft insbesondere Männer, die sich feminin geben, doch auch Frauen, die diesbezüglich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, können betroffen sein. Das gemeinsame Wohnen alleine stellt für gleich¬geschlechtliche Personen kein Problem dar, dies ist in Nigeria-von der Wohnung bis hin zum Hotelzimmer - aus Kostengründen nicht unüblich. Der Einfluss des Alters oder des Familienstan¬des auf die Frage des persönlichen Risikos von Angehörigen sexueller Minderheiten ist unklar. Einen maßgeblichen Einfluss hat hingegen der sozio-ökonomische Status einer Person. Mit zunehmender Finanzkraft, Bildung und Vernetzung - also mit zunehmenden Privilegien - sinkt das Risiko gegen Null. Hauptrisikogruppe sind hingegen jene Personen, deren Alltag in einem Umfeld mit niedrigem sozialen und ökonomischem Status verankert ist (STDOK 15.9.2020).

Quellen:

• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/localZ2 025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie berelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29 %2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2.11.2020): Briefing Notes vom 2.11.2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2040309/briefingnotes-kw45-2020.pdf , Zugriff 18.11.2020

•        EMB A - westliche Botschaft A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf

•        EMB B - westliche Botschaft B (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf

•        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria - Ge-sellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 29.9.2020

•        LHRL - Lokaler Menschenrechtsanwalt (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentati¬on auf

•        LNGO C - Repräsentantin der lokalen NGO C (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo-kumentation auf

•        LNGO D - Repräsentant der lokalen NGO D (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo-kumentation auf

•        IO1 - International Health and Development Research Organisation (20.11.2015): Inter-view im Rahmen einer Fact Finding Mission, Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo-kumentation auf

•        NJA - Nigerianischer Journalist und Aktivist (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo-kumentation auf

•        NYT - The New York Times (27.10.2020): Judge Dismisses Case Against 47 Men Charged Under Nigeria’s Anti-Gay Law, https://www.nytimes.com/2020/10/27/world/africa/Nigeria- anti-gay-law.html, Zugriff 9.11.2020

•        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ec oi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (15.9.2020): Zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016

•        TIERS - The Initiative for Equal Rights (12.2019): 2019 Human Rights Violations Report, https://theinitiativeforequalrights.org/wp-content/uploads/2019/12/2019-Human-Rights-V iolations-Reports-Based-on-SOGI.pdf, Zugriff 23.4.2020

•        USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 20.4.2020

•        WHER - Repräsentantin der Women’s Health and Equal Rights Initiative (9/10.2019): Inter¬view im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFAStaatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf

23       Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 23.11.2020

Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 3.2020b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 9.2020b; vgl. ÖB 10.2019). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch (AA 7.9.2020). Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2019). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 9.2020b). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 100,2 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten (ÖB 10.2019).

Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 16.1.2020). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Iba-dan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, können hier kostenpflichtig behandelt werden (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung (ÖB 10.2019).

In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 16.1.2020).

Stigmatisierung und Missverständnisse über psychische Gesundheit, einschließlich der fal-schen Wahrnehmung, dass psychische Erkrankungen von bösen Geistern oder übernatürlichen Kräften verursacht werden, veranlassen die Menschen dazu, religiöse oder traditionelle Heiler zu konsultieren; eine Rolle spielt hier auch der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und die unerschwinglichen Kosten (HRW 11.11.2019). Es existiert kein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (AA 16.1.2020). Nigeria verfügt derzeit über weniger als 150 Psychiater (AJ 2.10.2019), nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner (Österreich 2011: 20 Psychiater/100.000 Einwohner). Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen (Österreich 2011: 80 Psychologen/100.000 Einwohner). Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen „aufbewahrt“. Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt (VAÖB 23.1.2019). Die WHO schätzt, dass weniger als 10 Prozent der Nigerianer jene psychiatrische Behandlung bekommen, die sie brauchen (AJ 2.10.2019; vgl. HRW 11.11.2019).

Nach anderen Angaben gibt es insgesamt für die inzwischen annähernd (VAÖB 23.1.2019) 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung (VAÖB 23.1.2019). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Die Behandlungskosten sind jedoch je nach Schwere der Krankheit unterschiedlich. Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 16.1.2020).

Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 16.1.2020). Nur weniger als sieben Millionen (Punch 22.12.2017) der 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017). Eine Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung ist über das jeweils beschäftigende Unternehmen mittels einer Krankenversicherung abgesichert, die jedoch nicht alle Krankheitsrisiken abdeckt (VAÖB 27.3.2019).

Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 9.2020b). Selbst in staat-lichen Krankenhäusern muss für Behandlungen bezahlt werden (AA 16.1.2020). Die Kosten medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden. Die staatlichen Ge-sundheitszentren heben eine Registrierungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein (ÖB 10.2019). Eine medizinische Grundversorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (VAÖB 27.3.2019). Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen (AA 16.1.2020). Gemäß Angaben einer anderen Quelle werden Tests und Medikamente an staatlichen Gesundheitseinrichtungen dann unentgeltlich abgegeben, wenn diese überhaupt verfügbar sind. Religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen und NGOs bieten kostenfrei medizinische Versorgung (ÖB 10.2019).

In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten An-tibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 16.1.2020). Medikamente gegen einige weitverbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS können teilweise kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben. Schutzimpfaktionen werden von internationalen Organisationen finanziert, stoßen aber auf religiös und kulturell bedingten Widerstand, überwiegend im muslimischen Norden (ÖB 10.2019).

Die Qualität der Produkte auf dem freien Markt ist jedoch zweifelhaft, da viele gefälschte Produkte - meist aus asiatischer Produktion - vertrieben werden (bis zu 25% aller verkauften Medikamente). Diese wirken aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur eingeschränkt. Es gibt zudem wenig zuverlässige Kontrollen hinsichtlich der Qualität der auf dem Markt erhältlichen Produkte (AA 16.1.2020). Gegen den grassierenden Schwarzmarkt mit Medikamenten gehen staatliche Stellen kaum vor (ÖB 10.2019).

Der Glaube an die Heilkräfte der traditionellen Medizin ist nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher traditionelle Heiler als Schulmediziner konsultiert (GIZ 9.2020b). Gerade im ländlichen Bereich werden „herbalists" und traditionelle Heiler aufgesucht (ÖB 10.2019).

In Nigeria gibt es wie in anderen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020).

Quellen:

•        AA - Auswärtiges Amt (7.9.2020): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www. auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#c ontent_5 , Zugriff 5.10.2020

•        AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/localy2 025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie berelevante_LageJn_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29 %2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        AfricaCDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (13.10.2020): Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC, https://africacdc.org/covid-19/, Zugriff 13.10.2020

•        AJ - Al Jazeera (2.10.2019): Nigeria has a mental health problem, https://www.aljazeera. com/ajimpact/nigeria-mental-health-problem-191002210913630.html , Zugriff 16.4.2020

•        ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ec oi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020

•        GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria, Ge-sellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 2.10.2020

•        HRW - Human Rights Watch (11.11.2019). Nigeria: People With Mental Health Conditions Chained, Abused, https://www.hrw.org/news/2019/11/11/nigeria-people-mental-health-c onditions-chained-abused , Zugriff 16.4.2020

•        Punch (22.12.2017): NHIS: Health insurance still elusive for many Nigerians, https://punc hng.com/nhis-health-insurance-still-elusive-for-many-nigerians/, Zugriff 16.4.2020

•        VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (23.1.2019): medizinische Stellungnahme

•        VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (27.3.2019): medizinische Stellungnahme

1.4. Anfragebeantwortung des Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (ACCORD) vom 30.04.2020 zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen [a-11249]:

Gesellschaftliche Wahrnehmung und Deutungsmuster sowie Stigmatisierung

Einem Artikel von Human Rights Watch (HRW) vom November 2019 zufolge würden tiefgreifende Probleme innerhalb des nigerianischen Gesundheits- und Sozialsystems dazu führen, dass der Großteil der NigerianerInnen in ihren Gemeinden keine angemessene psychische Gesundheitsversorgung oder Unterstützung erhalte. Stigmatisierung und Missverständnisse hinsichtlich einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit, darunter die falsche Wahrnehmung, diese werde durch böse Geister und übernatürliche Kräfte hervorgerufen, würden Verwandte oftmals dazu veranlassen, sich an religiöse oder traditionelle Heileinrichtungen zu wenden:

„Deep-rooted problems in Nigeria’s healthcare and welfare systems leave most Nigerians unable to get adequate mental health care or support in their communities. Stigma and misunderstanding about mental health conditions, including the misperception that they are caused by evil spirits or supernatural forces, often prompt relatives to take their loved ones to religious or traditional healing places.” (HRW, 11. November 2019)

Einem Artikel des nigerianischen Online-Magazins Punch zufolge, habe ein Psychiater des University College Hospital in Ibadan, Dr. Olatunde Ayinde, Politiker dazu aufgefordert, soziale Dienste und eine Gesetzgebung zur sozialen Wohlfahrt zu priorisieren, um Personen, die der Hexerei beschuldigt würden, vor Misshandlung und Tod zu schützen. Zudem habe Ayinde zum Schutz von psychisch Kranken aufgerufen, die fälschlicherweise als “blutsaugende Hexen“ stigmatisiert würden. Sie sollen vor Herabwürdigung, unmenschlicher Behandlung und ungerechten Urteilen geschützt werden. Ayinde zufolge würde die nigerianische Öffentlichkeit psychische Erkrankungen nicht verstehen. Es gebe viele übernatürliche Zuschreibungen, die mit psychischen Problemen in Zusammenhang gebracht würden, etwa hinsichtlich der Gründe für psychische Erkrankungen und bei Hexereivorwürfen gegenüber psychisch Kranken. Zudem würden viele psychisch kranke Personen aufgrund der Hexereivorwürfe misshandelt und unmenschlich behandelt:

„A psychiatrist at the University College Hospital, Ibadan, Dr Olatunde Ayinde, has called on policy makers in the country to prioritise social welfare legislations and services to protect persons accused of witchcraft from abuse and avoidable death. Ayinde also called for support for mentally-ill persons wrongfully stigmatised as blood sucking witches and protect them from degradation, inhuman treatment and unjust verdicts. Speaking at a special evening talk tagged, ‘Who is afraid of witches on campuses?’ and organised by UI Campus Humanists and Free Thinkers, he noted that mental illnesses could stem from emotional, biological, environmental and several other factors. ‘We are looking at the mental aspect of witchcraft accusation. It stems from the fact that the public in Nigeria and the rest of Africa don’t understand mental illness. There are a lot of supernatural attributes that are associated with mental problems in terms of the causes of mental illness and accusation of people who have mental illness as being witches and the fact that a lot of people who have mental illnesses are also abused and treated inhumanly because of witchcraft accusations,’ Ayinde explained.” (Punch, 2. Februar 2020)

Einem Artikel von BBC vom Dezember 2019 zufolge würden die englischen Begriffe „witch“ (Hexe, Hexer) und „wizard“ (Zauberer) nicht ausreichend die „Tiefe des Bösen“ vermitteln, die kulturell mit solchen Personen in Verbindung gebracht werde. Deren „Manipulationen“ würden für eine Reihe von Beschwerden verantwortlich gemacht, von Krankheit bis Unfruchtbarkeit, Armut und Versagen. Der Glaube daran und die Verachtung sei so tief verwurzelt, dass ein Abschnitt des nigerianischen Strafgesetzbuchs weiterhin Hexerei verbiete und sie mit einer Gefängnisstrafe geahndet werde. Berichte über Verurteilungen seien nicht häufig, jedoch gebe es in den Medien regelmäßig Berichte über Personen, die als Hexen beschuldigt und brutal behandelt oder gelyncht worden seien:

„The English words ‘witch’ and ‘wizard’ are insufficient to convey the depths of evil culturally associated with such people - their ‘manipulations’ are often blamed for a variety of afflictions, from disease to infertility, poverty and failure. So entrenched is the belief in, and abhorrence of, witchcraft that a section of the Nigerian criminal code, originally introduced under British colonial rule, still forbids its practice, and it is punishable by a jail term. While reports of convictions are not common, the media regularly features stories of people being branded witches and being brutalised or lynched.“ (BBC, 17. Dezember 2019)

Einem im Journal of International Women's Studies im August 2017 erschienenem und von Friday Eboiyehi verfassten wissenschaftlichen Paper zufolge würden Hexereivorwürfe einen kritischen Faktor bei der Verletzung der Rechte von älteren Frauen spielen. Ihnen werde unter anderem zugeschrieben, die böse Neigung zu haben, unschuldigen Personen zu schaden, magische Kräfte zu haben und Krankheiten und Unglück hervorzurufen. In vielen Gemeinschaften würden seitens jener, die von einem Unglück, einer Krankheit oder einem Tod innerhalb der Familie betroffen seien, oftmals die Dienste von WahrsagerInnen oder HexendoktorInnen in Anspruch genommen, um jene in der Gemeinschaft zu identifizieren, die sie „verhext“ hätten. Im Großteil der Fälle würden dabei oft ältere Frauen beschuldigt, die dann von den Konsequenzen betroffen seien:

„In Nigeria, witchcraft accusations are a critical factor in the violation of elderly women’s rights. They also generate wider problems in families and communities. What has also become a disturbing reality is the kind of abuses that are, on daily basis, meted out on them. The major reasons for the abuse are the beliefs that they have the evil propensity to harm innocent persons in inexplicable concealed manner; possess the magical powers to fly at night and travel far and wide to kill innocent people; cause disease in humans, sudden death, impotence, sickness in animals, bad luck, and other such misfortunes (Sambe, Yander and Abanyam, 2014). It is also generally believed that when they want to harm their victims, they transform from human beings into animal, birds, reptiles, and insects (Machangu, 2015). It is therefore not surprising that witches are blamed and punished for strong winds, drought, hunger, misery, and all other disasters (Secker, 2012). In many communities, the services of soothsayers or witchdoctors are often required by those who have suffered a misfortune, illness, or death in the family, to identify who in the community has been ‘bewitching’ them (Secker, 2012). In most cases, accusing fingers are often pointed to elderly women who then bear the consequences.” (Eboiyehi, August 2017, S. 248)

Ein von Leo Igwe, dem Kampagnen-Direktor des Witchcraft and Human Rights Information Network (WHRIN), verfasster Artikel beschreibt etwa das Schicksal einer 70-jährigen Frau aus dem Bundesstaat Edo, die beschuldigt werde, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein (vgl. Igwe, 18. August 2019).

In einem weiteren von Igwe verfassten Artikel vom Oktober 2019 werden christliche nigerianische Kirchenführer beschuldigt, sich Narrativen der Hexerei zu bedienen und Exorzismus zu betreiben. Diese Exorzismen würden oftmals Folter sowie unmenschliche und herabwürdigende Behandlung und Misshandlung beinhalten (vgl. The Guardian (Nigeria), 20. Oktober 2019).

Die britische Tageszeitung The Guardian zitiert in einem Artikel vom September 2019 den Vizevorsitzenden der Initiative Mani (Mentally Aware Nigeria Initiative) in Lagos, demzufolge die Gefahr bestehe, dass von Depression betroffene Personen von der Gesellschaft als „verrückt“ eingestuft würden. Dies bedeute, dass die Mehrheit der Personen mit psychischen Problemen nicht verstehen oder akzeptieren würde, was sie fühle.

„So what is to be done? Ajeigbe [Dr Ayo Ajeigbe, psychologist] decided that a partial answer lay in the voluntary sector. A year ago, he agreed to head up the Abuja section of Mentally Aware Nigeria Initiative (Mani), a burgeoning user-led organisation fast emerging as a multi-pronged solution to Nigeria’s mental health crisis. Mani was launched in 2016 by Victor Ugo, a then medical student from Lagos who had suffered from depression, as a response to the lack of mental health support in Nigeria, where an estimated 7 million people have the same condition. Advertisement Ugo’s vision was to drive change by raising awareness and dispelling stigmas that exist around mental health issues in Nigeria. […]

’If you have depression,’ says Latifah Yusuf Ojomo, the deputy head of Mani’s Lagos team, ‘people can cast you as mad, which means that the majority of people who have mental health issues in Nigeria do not understand, or want to accept what they are feeling.’” (The Guardian, 25. September 2019)

Psychisches Gesundheitssystem

Einem wissenschaftlichen Paper aus dem Jahr 2017 zufolge würden in Nigeria weniger als 15 Prozent der Personen mit schweren psychischen Erkrankungen Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen. Wie auch in anderen Ländern Subsahara-Afrikas werde die psychische Gesundheitsversorgung vernachlässigt und neuropsychiatrische Dienste hätten innerhalb des nationalen Budgets geringe Priorität. Nur etwa ein Prozent des Gesundheitsbudgets werde für psychische Gesundheit aufgewendet, obwohl der Anteil der Krankheitslast („burden of disease“) von psychischen Erkrankungen bei 8 Prozent liege. Diese Mittel würden zudem ineffizient ausgegeben. Psychische Gesundheitsdienste bestünden in Nigeria überwiegend aus großen staatlichen psychiatrischen Krankenhäusern. Es gebe acht föderale neuropsychiatrische Krankenhäuser und eine ähnliche Anzahl psychiatrischer Abteilungen in Universitätslehrkrankenhäusern für die 170 Millionen EinwohnerInnen Nigerias. Nigeria verfüge über etwa einen Psychiater pro einer Million EinwohnerInnen und vier psychiatrische PflegerInnen pro 100.000 Personen. Das Land würde jedoch beginnen, psychische Gesundheitsdienste auf Gemeindeebene zu entwickeln:

„In Nigeria less than 15% of people with severe mental illness access mental health care services. As with other countries in sub-Saharan Africa, mental health care is neglected, and neuropsychiatric services receive low priority in national budget allocations, with only around 1% of the health budget spent on mental health, whereas the proportion of the burden of disease attributable to mental illness is around 8% in the same region. These funds are also spent inefficiently; mental health services in Nigeria consist mainly of large government psychiatric hospitals. There are eight Federal Neuro- Psychiatric Hospitals and a similar number of university teaching hospital psychiatric departments, for a population of 170 million people. Nigeria has around one psychiatrist per 1 million population and four psychiatric nurses per 100,000 people. However, the country is starting to develop community mental health services, which have been shown to improve access to care and clinical outcomes. Theoretical models related to stigma imply that reduction in florid symptoms, that lead others to label a person as having a mental illness and hence stereotype them as being unpredictable and dangerous, would reduce their experience of stigma and discrimination. Despite recent efforts to promote more accessible services, low levels of knowledge about effective treatment of mental disorders means that even where it is available, a very small proportion of people receive appropriate care. Interventions to increase service use are therefore an essential component of the health systems approach to reducing the treatment gap for mental illness.” (Eaton, 2017, S. 1-2)

Nigeria verfüge mit schätzungsweise 200 Millionen EinwohnerInnen über weniger als 300 PsychiaterInnen, so HRW im November 2019. Mehrere MitarbeiterInnen im psychischen Gesundheitswesen hätten gegenüber HRW angegeben, dass qualitativ hochwertige psychische Gesundheitsdienste nur für wohlhabendere BürgerInnen verfügbar seien, die es sich leisten könnten. Der Mangel an qualitativ hochwertiger psychischer Gesundheitsversorgung und die unerschwinglichen Kosten würden die Menschen oftmals dazu veranlassen, traditionelle oder glaubensbasierte HeilerInnen aufzusuchen:

„Nigeria has fewer than 300 psychiatrists for an estimated population of over 200 million. Several mental health professionals told Human Rights Watch that quality mental health services are available only to wealthier citizens who can afford it. The lack of quality mental health care and its prohibitive cost often drives people to consult traditional or faith-based healers.” (HRW, 11. November 2019)

In einem auf der Website der Universität Yale im Jänner 2020 veröffentlichten Artikel wird beispielhaft für die schlechte Versorgung ländlicher Regionen etwa die Lage im nigerianischen Bundesstaat Imo erwähnt. Es gebe dort keine psychiatrischen Krankenhäuser und nur einen Vollzeit-Psychiater, der die fünf Millionen EinwohnerInnen betreue:

„Iheanacho [Theddeus Iheanacho, M.D., associate professor of psychiatry at Yale School of Medicine] and his HAPPINESS Project colleague Charles Dike, M.D., also an associate professor of psychiatry at the medical school, both hail from Imo State. The two understand how badly underserved the population is, especially in the rural areas. There are no psychiatric hospitals across the 2,135-square-mile territory, and the state counts only one full-time psychiatrist to serve its nearly 5 million residents.” (Yale News, 17. Jänner 2020)

Rechtliche Regelungen

Adegboyega Ogunlesi erwähnt in einem wissenschaftlichen Artikel vom August 2012, dass die gegenwärtig gültige Gesetzgebung zu psychischer Gesundheit in Nigeria auf eine Anordnung zu Geistesstörungen aus dem Jahr 1916 zurückzuführen sei, die im Jahr 1958 den Status als Gesetz erhalten habe. Im Jahr 2003 sei die Verabschiedung eines Gesetzesvorschlags zu psychischer Gesundheit nicht erfolgreich gewesen. Gegenwärtig (2012) gebe es jedoch erneute Versuche das Gesetz zu reformieren:

„Nigeria’s current mental health legislation stems from a lunacy ordinance enacted in 1916 that assumed the status of a law in 1958. The most recent attempt to reform the law was with an unsuccessful Mental Health Bill in 2003. Currently, though, efforts are being made to represent it as an executive Bill sponsored by the Federal Ministry of Health. The present paper reviews this Bill, in particular in light of the World Health Organization’s recommendations on mental health legislation.” (Ogunlesi, August 2012, S. 62)

Der Lunacy Act (Gesetz zu Geistesstörungen) von 1958 erlaube HRW zufolge die Internierung von Personen mit psychischen Erkrankungen (mental health conditions) in Einrichtungen zur psychischen Gesundheitsversorgung, auch wenn keine medizinische oder therapeutische Behandlung geleistet werde. Personen würden Jahre – manchmal auch Jahrzehnte - in den Einrichtungen verbringen, weil es in Nigeria an angemessenen Diensten zur Unterstützung innerhalb der Gemeinden fehle. In nur einer der von HRW im Zuge von Recherchen besuchten Einrichtungen sei es Personen erlaubt gewesen, die Einrichtung zu verlassen oder ihre Internierung anzufechten:

„Nigeria’s 1958 Lunacy Act allows the detaining of people with mental health conditions in mental health institutions, even without providing medical or therapeutic treatment. People spend years in institutions – sometimes decades – because Nigeria lacks adequate services to support them in the community. In all but one of the facilities Human Rights Watch visited, people were not allowed to leave or to challenge their detention.” (HRW, 11. November 2019)

Ein Artikel der nigerianischen Tageszeitung The Guardian vom Jänner 2020 erwähnt, dass bereits die erste und zweite Lesung eines nationalen Gesetzesvorschlags zu psychischer Gesundheit erfolgt sei und dieser nun der Nationalversammlung zur öffentlichen Anhörung vorliege. Der Artikel zitiert zudem den Präsidenten der Vereinigung der Psychiater in Nigeria, welcher zur Implementierung der Nationalen Strategie zu psychischer Gesundheit aufgerufen habe, die 2013 verabschiedet worden sei:

„Association of Psychiatrists in Nigeria has said that passing the National Mental Health Bill into law will help reposition the health sector to meet emerging modern challenges. President of the association, Dr. Taiwo Sheikh, told newsmen in Enugu yesterday that it would also, in general terms, enhance the mental health and well-being of all Nigerians. […] He noted that the bill, which had passed its first and second reading, was at the public hearing stage at the National Assembly. It will grant the rights of mental patients and ensure that they have access to qualitative care in all mental health or psychiatric facilities, he said. […] Sheikh, who is with the Department of Psychiatry, Ahmadu Bello University (ABU), Zaria, however, called for the implementation of Nigeria National Mental Healthcare Policy, which was adopted by the Federal Government in 2013. He noted that ‘the policy seeks to go beyond treatment or cure of mental health patients to activities and programmes of mental well-being promotions, mental illness prevention and universal access to mental healthcare.’“ (The Guardian (Nigeria), 13. Jänner 2020)

Weitere allgemeine Informationen zum psychischen Gesundheitssytem bzw. zu politischen Entwicklungen auf dem Gebiet entnehmen Sie bitte auch folgenden Dokumenten:

· UK Home Office: Country Policy and Information Note Nigeria: Medical and Healthcare issues, Jänner 2020, S. 16 -18

https://www.ecoi.net/en/file/local/2022818/NGA_-_Medicalissues_-_CPIN_-_v3.0.finalG.pdf

· Abdulmalik, J.; Kola, L.; Gureje, O.: Mental health system governance in Nigeria: challenges, opportunities and strategies for improvement, 2016

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5314752/

Daten zum psychischen Gesundheitssystem (die allerdings für mehrere Indikatoren nicht vorhanden sind) finden sich in folgenden Dokumenten der Weltgesundheitsorganisation:

· WHO – World Health Organization: Mental Health Atlas 2017 Member State Profile; Nigeria, 2018

https://www.ecoi.net/en/file/local/2002811/NGA.pdf

· WHO – World Health Organization: WHO Mental Health Atlas 2014 - Nigeria, 2014 http://www.who.int/mental_health/evidence/atlas/profiles-2014/nga.pdf?ua=1

Weitere allgemeine Informationen entnehmen Sie bitte auch folgenden Dokumenten:

· Africa Check: Fact-checked: Al Jazeera’s claims about Nigeria’s ‘mental health problem’, 19. November 2019

https://africacheck.org/reports/fact-checked-al-jazeeras-claims-about-nigerias-mental-health-problem/

· Al Jazeera: Nigeria has a mental health problem, 2. Oktober 2019

https://www.aljazeera.com/ajimpact/nigeria-mental-health-problem-191002210913630.html

Im Folgenden finden Sie Informationen aus einem von HRW im November 2019 veröffentlichten Artikel zu Recherchen der Organisation in Nigeria zur Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen in staatlichen, religiösen und traditionellen Einrichtungen. Der Bericht zitiert die interviewten Personen teilweise direkt. In den folgenden Zusammenfassungen wurden Passagen, in denen Männer zitiert wurden, großteils ausgeklammert. ACCORD empfiehlt den gesamten Artikel im Original durchzusehen. Der HRW-Artikel wird zudem in verschiedenen Medien zitiert. Weitere Informationen zur Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen finden sich auch in diesen einzelnen Medienartikeln (vgl. IPS, 7. April 2020; Al Jazeera, 11. November 2019; Reuters, 11. November 2019; The Guardian, 12. November 2019; CNN, 11. November 2019).

Diskriminierung seitens der Gesellschaft bzw. der Familie

Human Rights Watch erwähnt im Artikel vom November 2019, dass Recherchen der Organisation ergeben hätten, dass Menschen mit tatsächlichen oder angenommenen psychischen Problemen („conditions“), darunter Kinder, gewöhnlicherweise von Verwandten ohne ihre Zustimmung in Einrichtungen gebracht worden seien:

„Human Rights Watch found that people with actual or perceived mental health conditions, including children, are placed in facilities without their consent, usually by relatives.” (HRW, 11. November 2019)

In einigen Fällen hätten Familien ihre Kinder, darunter junge Erwachsene, wegen tatsächlichen oder vermuteten Drogenmissbrauchs oder „abweichenden“ Verhaltens (darunter Schule schwänzen, Rauchen von Tabak und Marihuana, Diebstahl an ihren Eltern) zu religiösen und traditionellen Rehabilitationszentren gebracht. Einige Kinder in den Einrichtungen seien von ihren Familien gänzlich verlassen worden:

„In some cases, families took their children – including young adults – to religious and traditional rehabilitation centers for actual or perceived drug use or ‘deviant’ behavior, including skipping school, smoking tobacco or marijuana, or stealing from their parents. Some children in the facilities – some as young as 10 – have been abandoned by their families.” (HRW, 11. November 2019)

Akanni, eine 22-jährige Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter eine psychische Gesundheitskrise erlitten habe und zum Zeitpunkt des Interviews im März 2019 fünf Monate lang in einer Kirche in Abeokuta festgehalten worden sei, habe angegeben, dass sie nicht gewusst habe, dass sie von ihrem Vater in der Kirche zurückgelassen würde, als dieser sie hergebracht habe. Manchmal würden die Familien HeilerInnen bezahlen, um Verwandte zuhause festzuhalten und sie zu einem Zentrum zu bringen. HRW beschreibt zudem den Fall eines 27-jährigen Mannes mit Depressionen:

„Akanni, a 22-year-old woman who had a mental health crisis following the death of her mother and who had been detained in a church in Abeokuta for five months at the time of a March 2019 interview, said: ‘When my father brought me, I didn’t know that he would leave me here. I was not happy, but I don’t have a choice.’ Sometimes families pay healers to detain their relative at home and take them to a center.” (HRW, 11. November 2019)

„Shums, a 27-year-old man who said he had depression, was taken as he worked on his farm in early 2019: Two men approached me and asked if they could talk with me. I complied and started walking with them. They jumped on me, handcuffed me, and put shackles on my feet. Then they brought me here [an Islamic rehabilitation center in Kano].” (HRW, 11. November 2019)

Diskriminierung in verschiedenen Einrichtungen

In psychiatrischen Krankenhäusern und staatlichen Rehabilitationszentren hätte

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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