TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/16 W129 2218031-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.06.2021
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Entscheidungsdatum

16.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z4
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z3
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W129 2218031-1/17E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter DDr. Markus GERHOLD über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , alias geb. XXXX , StA Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.03.2019, 790772710-190011829/BMI-BFA_STM_AST_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. und VII. des angefochtenen Bescheides, wie folgt zu lauten haben:

„I. Der Ihnen mit Bescheid des BAA vom 04.12.2009, Zahl 09 07.727 – BAG, zuerkannte Status des Asylberechtigten wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wird festgestellt, dass Ihnen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.

VII. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wird gegen Sie ein auf die Dauer von 4 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, stellte am 30.06.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit rechtskräftigem Bescheides des Bundesasylamtes vom 04.12.2009 wurde dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge mehrfach straffällig (vgl. dazu die Feststellungen).

3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 27.03.2019 wurde dem Beschwerdeführer in Spruchteil I. der ihm mit Bescheid vom 04.12.2009 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass diesem die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. In Spruchteil II. wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, weiters wurde ihm in Spruchteil III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchteil IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchteil V.) und in Spruchpunkt VI. ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zudem wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot gegen den Beschwerdeführer erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Umstände, aufgrund derer er als Flüchtling anerkannt worden sei, nicht mehr bestehen würden und er es daher nicht weiterhin ablehnen könne, sich unter den Schutz des Heimatlandes zu stellen.

4. Dagegen erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde, in der er im Wesentlichen und sinngemäß ausführte, dass gegenständlich keine Verurteilung iS eines besonders schweren Verbrechen snach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG vorliege. Die Aberkennung gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG sei daher zu Unrecht erfolgt. Der Beschwerdeführer bereue seine bisherigen Taten zutiefst und wolle mit seiner Tochter und Freundin ein neues Leben beginnen. Seine Tochter sei sieben Jahre alt und er sei mit XXXX , die aufenthaltsverfestigt sei, liiert. Zudem liege ein Naheverhältnis zu seinen Eltern und seiner Schwester vor, zumal er mit diesen zusammengelebt habe. Auch seine Tochter lebe mit seinen Eltern. Zur Russischen Föderation habe er keine Bindung mehr, zumal dort nur mehr entfernte Verwandte leben würden, zu denen er keinen Kontakt habe. In der ursprünglichen Heimat „herrsche“ Sippenhaftung und drohe auch ihm im Falle einer Abschiebung nach Tschetschenien, Folter und Tod. Der Beschwerdeführer monierte, dass die Verfahrensvorschriften verletzt worden seien.

Unter einem legte er eine Geburtsurkunde seiner Tochter und Ausweiskopien vor.

5. Mit Schreiben vom 24.04.2019 legte die belangte Behörde die Beschwerde sowie die bezughabenden Akten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo das Konvolut 26.04.2019 einlangte.

6. In weiterer Folge wurden mehrere Unterlagen vorgelegt.

7. Am 18.09.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchgeführt, in der die Beschwerdesache ausführlich erörtert wurde. In dieser Verhandlung wurde seine Lebensgefährtin als Zeugin einvernommen.

8. In weiterer Folge wurden mehrere Unterlagen vorgelegt.

9. Mit Schreiben vom 11.05.2021 wurde dem Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation übermittelt und ihm die Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen schriftlich Stellung zu nehmen. Eine diesbezügliche Stellungnahme ist bis dato nicht eingelangt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, welcher der tschetschenischen Volksgruppe angehört und sich zum moslemischen Glauben bekennt. Der Beschwerdeführer stellte am 30.06.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.12.2009 wurde dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Dem Beschwerdeführer droht aufgrund des Verdachtes, dass der Lebensgefährte der Mutter bzw. Vater des Beschwerdeführers Widerstandskämpfer gewesen ist, keine Verfolgung durch die Behörden in der Russischen Föderation. Ein derartiges Risiko besteht weder in Tschetschenien noch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation. Dem Beschwerdeführer droht diesbezüglich keine Sippenhaftung.

1.2. Auch darüber hinaus ist der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer Verfolgung nicht ausgesetzt und droht eine solche nicht aktuell. Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr in Tschetschenien respektive der Russischen Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

Der Beschwerdeführer wäre auch nicht im Fall seiner Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation (Nordkaukasus/Tschetschenien) in seinem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht. Der Beschwerdeführer liefe dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer spricht Tschetschenisch und Russisch. Er verfügt über Angehörige (Tanten) im Herkunftsstaat. Zudem ist er aufgrund seines Aufwachsens im Herkunftsstaat mit den Gegebenheiten ebendort vertraut. Der Beschwerdeführer wurde in Tschetschenien geboren und besuchte im Herkunftsstaat die Grundschule. Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat in Tschetschenien und in XXXX gelebt. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist in der Lage, auch schwere körperliche Arbeiten zu übernehmen. Zudem ist er dazu in der Lage, seinen Lebensunterhalt im Herkunftsstaat durch die Teilnahme am Erwerbsleben eigenständig zu bestreiten. Als russischem Staatsbürger steht ihm ein Rückgriff auf Leistungen des dortigen Sozialhilfesystems offen.

1.3. Der Beschwerdeführer weist folgende Verurteilungen auf:

01) LG XXXX vom 27.04.2011 RK 03.05.2011

PAR 127 130 (1. FALL) StGB

Datum der (letzten) Tat 17.01.2011

Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Vollzugsdatum 03.05.2011

zu LG XXXX RK 03.05.2011

Probezeit verlängert auf insgesamt 5 Jahre

LG XXXX vom 22.02.2013

zu LG XXXX RK 03.05.2011

(Teil der) Freiheitsstrafe nachgesehen, endgültig

Vollzugsdatum 03.05.2011

LG XXXX vom 25.10.2018

02) LG XXXX vom 22.02.2013 RK 26.02.2013

§ 83 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 29.07.2012

Freiheitsstrafe 5 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre

Vollzugsdatum 17.07.2015

zu LG XXXX RK 26.02.2013

Bedingte Nachsicht der Strafe wird widerrufen

BG XXXX vom 18.08.2014

03) BG XXXX vom 18.08.2014 RK 21.08.2014

§ 83 (1) StGB

§ 125 StGB

Datum der (letzten) Tat 14.02.2014

Freiheitsstrafe 3 Monate

Vollzugsdatum 17.02.2015

04) LG XXXX vom 04.04.2016 RK 04.04.2016

§§ 127, 129 (1) Z 1, 130 (2) 2. Fall StGB § 15 StGB

Datum der (letzten) Tat 31.12.2015

Freiheitsstrafe 18 Monate

Vollzugsdatum 29.06.2017

05) LG XXXX vom 09.01.2019 RK 09.01.2019

§§ 223 (1), 224 StGB

§ 50 (1) Z 3 WaffG

§ 83 (1) StGB

Datum der (letzten) Tat 19.07.2018

Freiheitsstrafe 12 Monate

Vollzugsdatum 18.07.2019

Das Urteil vom 04.04.2016, XXXX , lautet auszugsweise, wie folgt:

„ XXXX und XXXX sind schuldig,

Es haben in XXXX

A. XXXX und XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) fremde bewegliche Sachen, nämlich Bargeld und Wertgegenstände, mit dem Vorsatz, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, gewerbsmäßig durch Einbruch in Gebäude und durch Aufbrechen von Behältnissen

l. weggenommen, und zwar

1. am 9.11.2015 Gewahrsamsträgem der XXXX zwei Laptops, Mobiltetefone, SIM-Karten und Münzen in einem Gesamtwert von 1.000,- Euro, indem sie zunächst versuchten, die Hintereingangstüre des Geschäftslokales aufzubrechen und als dies nicht gelang die Vergitterung des Fensters neben der Hintertüre aufbogen, die Fensterscheibe einschlugen und die dahinterliegende Rigipswand durchbrachen;

2. am 29.12.2015 XXXX Zigaretten, Rubellose und Brieflose in einem Wert von zumindest 2.870,- Euro, indem sie die Eingangstüre zu dessen Geschäftslokal mit einem Werkzeug aufbrachen;

II. wegzunehmen versucht, und zwar am 31.12.2015 Gewahrsamsträgern des Vereins XXXX 160,- Euro Bargeld, indem sie die Fensterscheibe zur Firmenhalle mit einem Stein einschlugen und darin befindliche Käffeeautomaten und Zigarettenautomaten mit einem Schraubenzieher aufbrachen, sohin durch Aufbrechen eines Behältnisses, wobei die Wegnahme unterblieb, weil sie auf frischer Tat betreten wurden;

Strafbare Handlung(en):

XXXX und XXXX haben hiedurch das Verbrechen

des gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Absatz 1 Ziffer 1,130 Absatz 2 zweiter Fall, 15 StGB begangen.

(…)

XXXX :

zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von

18 (achtzehn) Monaten (unbedingt)

(…)

Strafbemessungsgründe:

Hinsichtlich XXXX :

mildernd: das reumütige Geständnis;

erschwerend: zwei einschlägige Vorstrafen;

(…)“

Das Urteil vom 09.01.2019, XXXX , lautet auszugsweise, wie folgt:

„ XXXX und XXXX sind schuldig, sie haben in XXXX

E./ XXXX mit dem abgesondert verfolgten XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) am 30.6.2018 XXXX am Körper verletzt, indem ihm XXXX gegen den Körper trat und XXXX mit der Faust ins Gesicht schlug, wodurch der Genannte Abschürfungen und nicht mehr feststellbare Verletzungen erlitt;

F./ XXXX und XXXX im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter (§ 12 StGB) zwischen einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt und 19.7.2018 in einer Vielzahl von Angriffen zumindest 15 falsche Karten für Asylberechtigte, Identitätskarten für Fremde und e-cards, somit inländische öffentliche Urkunden, mit dem Vorsatz hergestellt, dass sie im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechts, nämlich dem Asylstatus, der Identität oder der aufrechten Krankenversicherung, gebraucht werden;

G./ XXXX zwischen einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt und 19.7.2018 wenn auch nur fahrlässig, ein Krambit-Messer, somit eine Waffe, besessen, obwohl ihm dies gemäß § 12 WaffG verboten war.

Strafbare Handlungen:

XXXX

zu E./: das Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Absatz 1 StGB;

zu F./: die Vergehen der Fälschung besonders geschützter Urkunden nach § 223 Absatz 1, 224 StGB und

zu G./; das Vergehen nach § 50 Absatz 1 Ziffer 3 WaffG;

(…)

Anwendung weiterer gesetzlicher Bestimmungen:

Strafe unter Anwendung des § 28 Absatz 1 StGB, nach dem § 224 StGB

Hinsichtlich XXXX :

12 (zwölf) Monate Freiheitsstrafe unbedingt

(…)

Strafbemessungsgründe:

hinsichtlich XXXX :

mildernd: das Geständnis;

erschwerend: das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen, zwei

einschlägige Vorstrafen;

(…)“

1.4. Der Beschwerdeführer hat am XXXX eine usbekische Staatsbürgerin in Österreich geheiratet. Der Beschwerdeführer hat eine Tochter aus einer früheren Beziehung, und zwar XXXX , geb. XXXX . Diese Tochter, die Staatsangehörige der Russischen Föderation und Asylberechtigte in Österreich ist, lebt beim Beschwerdeführer und besucht in Österreich die Schule. In Österreich leben zudem seine Eltern, seine Schwester sowie seine Tante. Aktuell weist er mit der Tochter und Ehegattin einen gemeinsamen Wohnsitz auf. Die Tochter lebte in der Vergangenheit bei den Eltern des Beschwerdeführers. Weiters leben in Österreich Onkeln, zu denen aber kein Kontakt besteht. Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Freunde im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Deutschprüfungszeugnisse. Er hat in der mündlichen Verhandlung am 18.09.2019 Grundkenntnisse der deutschen Sprache aufgewiesen. Er ist kein Mitglied in Organisationen oder Vereinen. Der Beschwerdeführer legte ein Schreiben betreffend seine Ehegattin vor, demnach die Schwangerschaft seiner Ehegattin bestätigt werde und der XXXX der voraussichtliche Geburtstermin ist. Der Beschwerdeführer war in Österreich nur fallweise berufstätig. Er war in Österreich im Zeitraum vom 01.01.2015 bis 05.03.2019 nur bei einem Dienstgeber für etwa eineinhalb Monate im Jahr 2018 als Arbeitnehmer angemeldet. Zudem hat er als Lieferant gearbeitet. Zum Zeitpunkt der Verhandlung arbeitete er bei einer Leiharbeitsfirma. Der Beschwerdeführer hat in der Vergangenheit Sozialleistungen in Anspruch genommen. Der Beschwerdeführer war in Österreich mehrmals in Haft.

1.5. zum Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 04.09.2020

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2020a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:

?        Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

?        Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

?        Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

?        Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

?        Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

?        Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

?        Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).

Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Anm.: Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 12.2019).

Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands 2019 weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikanierung bis hin zur Misshandlung durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch zu Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden, aber gleichzeitig steigt der öffentliche Aktivismus deutlich. Hinzu kommt, dass sich mehr und mehr Leute für wohltätige Projekte engagieren und freiwillige Arbeit leisten. Regionale zivile Kammern wurden zu einer wichtigen Plattform im Dialog zwischen der Zivilbevölkerung und dem Staat in Russlands Regionen (ÖB Moskau 12.2019). Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Die Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2019; vgl. FH 4.3.2020). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 13.2.2019). Derzeit stehen insbesondere die LGBTI-Community in Tschetschenien sowie die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Russland unter Druck (ÖB Moskau 12.2019).

Die Annexion der Krim 2014 sowie das aus Moskauer Sicht erforderliche Eintreten für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine haben zu einem starken Anstieg der patriotischen Gesinnung innerhalb der russischen Bevölkerung geführt. In den vergangenen Jahren gingen die Behörden jedoch verstärkt gegen radikale Nationalisten vor. Dementsprechend sank die öffentliche Aktivität derartiger Gruppen seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine deutlich, wie die NGO Sova bestätigt. Gestiegen ist auch die Anzahl von Verurteilungen gegen nationalistische bzw. neofaschistische Gruppierungen. Vor diesem Hintergrund berichtete die NGO Sova in den vergangenen Jahren auch über sinkende Zahlen rassistischer Übergriffe. Die meisten Vorfälle gab es, wie in den Vorjahren, in den beiden Metropolen Moskau und Sankt Petersburg. Migranten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus und dunkelhäutige Personen sind üblicherweise das Hauptziel dieser Übergriffe. Im Vergleich zu den Jahren 2014-2017 ist gleichzeitig ein gewisser Anstieg der fremdenfeindlichen Stimmung zu vermerken, der auch im Zusammenhang mit sozialen Problemen (der Unzufriedenheit mit der Pensionsreform und sinkenden Reallöhnen) zu sehen ist. Wenngleich der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland seit 2013 weiterhin ausgesetzt bleibt, unterstützt die EU-Delegation in Moskau den Dialog mit NGOs, Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidigern aktiv (ÖB Moskau 12.2019).

Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien und Inguschetien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. Die Opfer der Gewalt sind ganz überwiegend „Aufständische“ und Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020

?        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 11.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 04.09.2020

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten (ÖB Moskau 12.2019). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien evakuiert werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 13.2.2019). Anfang November 2018 wurde im Rahmen der OSZE der sog. Moskauer Mechanismus zur Überprüfung behaupteter Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiviert, der zu dem Schluss kam, dass in Tschetschenien das Recht de facto von den Machthabenden diktiert wird, und die Rechtsstaatlichkeit nicht wirksam ist. Es scheint generell Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane zu herrschen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. BAMF 11.2019).

2017 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 13.2.2019; vgl. HRW 17.1.2019), wo die Betroffenen gefoltert und einige sogar getötet wurden [vgl. Kapitel 19.4. Homosexuelle] (FH 4.2.2019). Die unabhängige Zeitung Nowaja Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angebliche außergerichtliche Tötung von über zwei Dutzend Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten, die nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung von LGBTI-Personen stehen soll (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AI 22.2.2018). Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Im Herbst 2017 besuchte das Komitee gegen Folter des Europarates neuerlich Tschetschenien und konsultierte dabei auch die russische Ombudsfrau für Menschenrechte. Ihre nachfolgende Aussage gegenüber den Medien, dass das Komitee keine Bestätigung außergerichtlicher Tötungen oder Folter gefunden habe, wurde vom Komitee unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der mit den russischen Behörden geführten Gespräche zurückgewiesen. Ungeachtet dessen setzten die lokalen Behörden NGO-Berichten zufolge 2018 und 2019 die Repressalien gegen Homosexuelle in Tschetschenien fort (ÖB Moskau 12.2019).

Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Caucasian Knot auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von der unabhängigen Tageszeitung Nowaja Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen Schwule berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Nowaja Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht (AI 22.2.2018). Auch 2019 blieben frühere gewalttätige Übergriffe gegen Menschenrechtsverteidiger ungeahndet (AI 16.4.2020). Im Februar 2020 wurde die bekannte Journalistin der Nowaja Gazeta, Jelena Milaschina und eine Menschenrechtsanwältin in Grosny von ca. 15 Frauen und Männern in ihrem Hotel angegriffen und verprügelt. Die Nowaja Gazeta verlangte eine Entschuldigung des Republiksoberhauptes von Tschetschenien. Die Union der russischen Journalisten und das Helsinki Komitee verurteilten diesen Vorfall aufs Schärfste. Auch die OSZE und die russische Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter verlangen von den russischen Behörden eine Aufklärung des Vorfalls (Moscow Times 7.2.2020).

In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten (ÖB Moskau 12.2019). Der regierungskritische tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow ist nach eigenen Angaben in seinem polnischen Exil von einem bewaffneten Angreifer attackiert worden. Es sei ihm gelungen, den Angreifer zu überwältigen. Menschenrechtsgruppen verurteilten den Angriff als "Mordversuch". Abdurachmanow betreibt bei YouTube einen Videokanal, der etwa 75.000 Abonnenten hat. In seinen Videos setzt er sich kritisch mit dem tschetschenischen Regionalpräsidenten Ramsan Kadyrow auseinander. Nach eigenen Angaben wurde er in Tschetschenien mit dem Tode bedroht, seit 2015 lebt er im Exil. Dies war nicht der erste Angriff auf einen Tschetschenen, der von Kadyrow als "störend" empfunden wird, erklärte die russische Menschenrechtsorganisation Memorial. In den meisten Fällen würden die Ermordungen oder Mordversuche von "aus Tschetschenien entsandten Auftragsmördern" in Moskau oder anderen russischen Regionen, aber auch in der Ukraine oder anderen europäischen Ländern ausgeführt. 2019 hatte die Ermordung eines Georgiers mit tschetschenischen Wurzeln im Berliner Tiergarten Aufsehen erregt. Das Opfer soll im sogenannten zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft haben. Laut Bundesanwaltschaft wurde der 40-Jährige von russischen Behörden als "Terrorist" eingestuft und verfolgt. Ein dringend tatverdächtiger russischer Staatsangehöriger sitzt in Untersuchungshaft (AFP 27.2.2020). Anfang 2020 wurde ein anderer politischer Blogger aus Tschetschenien tot in einem Hotel in Frankreich aufgefunden. Imran Aliev (44) habe eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem Bericht des kaukasischen Internetportals Kawkaski Usel hatte der Blogger sich in seiner früheren Heimat unbeliebt gemacht. Bei Youtube hatte der Tschetschene unter dem Namen Mansur Staryj Ramsan Kadyrow und dessen Familie scharf kritisiert (Kleine Zeitung 3.2.2020).

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020

?        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 11.3.2020

?        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

?        AFP – Agence France Presse (27.2.2020): Bewaffneter Angreifer attackiert tschetschenischen Exil-Blogger, https://de.nachrichten.yahoo.com/bewaffneter-angreifer-attackiert-tschetschenischen-exil-blogger-145608732.html?guccounter=1, Zugriff 26.3.2020

?        BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtinge (11.2019): Länderreport 21 Russische Föderation, LGBTI in Tschetschenien, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/684671/685623/685628/6029277/21602088/Deutschland___Bundesamt_f%C3%Bcr_Migration_und_Fl%C3%Bcchtlinge%2C_L%C3%A4nderreport_21_%2D_Russische_F%C3%B6deration_%28Stand_November_2019%29%2C__November_2019.pdf?nodeid=21601757&vernum=-2, Zugriff 12.3.2020

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 11.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 11.3.2020

?        Kleine Zeitung (3.2.2020): Gewalttat vermutetBlogger aus Tschetschenien lag tot in Hotelzimmer, https://www.kleinezeitung.at/international/5763272/Gewalttat-vermutet_Blogger-aus-Tschetschenien-lag-tot-in-Hotelzimmer, Zugriff 26.3.2020

?        Moscow Times (7.2.2020): Prominent Russian Journalist, Lawyer Attacked in Chechnya, https://www.themoscowtimes.com/2020/02/07/prominent-russian-journalist-lawyer-attacked-in-chechnya-a69199, Zugriff 26.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 11.3.2020

Dschihadistische Kämpfer und ihre Unterstützer, Kämpfer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges

Letzte Änderung: 04.09.2020

Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner (ÖB Moskau 12.2019) und unabhängige Journalisten (HRW 26.5.2017), wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. HRW 26.5.2017). Ramzan Kadyrow versucht dem Terrorismus und möglicher Rebellion in Tschetschenien unter anderem durch Methoden der Kollektivverantwortung zu begegnen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). Die Bekämpfung von Extremisten geht mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019). Auch Familienangehörige, Freunde und Bekannte oder andere mutmaßliche Unterstützer von Untergrundkämpfern können zur Verantwortung gezogen und bestraft werden (ÖB Moskau 12.2019; vgl. HRW 17.1.2019). Verwandte von terroristischen Kämpfern stehen häufig unter dem Verdacht, diese zu unterstützen (ÖB Moskau 12.2019), und sind daher von Grund auf eher der Gefahr öffentlicher Demütigungen, Entführungen, Misshandlungen und Folter ausgesetzt (sog. Sippenhaft) (ÖB Moskau 12.2019; vgl. HRW 17.1.2019). Vereinzelt kommt es vor, dass Personen, denen die Unterstützung von Terroristen vorgeworfen wird, von Sicherheitskräften drangsaliert werden. Oftmals verlieren Angehörige ihre Arbeitsstelle, ihre Häuser werden niedergebrannt, Kinder werden von der Schule ausgeschlossen, oder sie werden überhaupt aus Tschetschenien ausgewiesen (ÖB Moskau 12.2019). Die Mitverantwortung wurde sogar durch Bundesgesetze festgelegt, so z.B. ein 2013 verabschiedetes Gesetz, das Familienangehörige von Terrorverdächtigen verpflichtet, für Schäden, die durch einen Anschlag entstanden sind, aufzukommen, und das die Behörden in diesem Zusammenhang auch zur Beschlagnahmung von Vermögenswerten der Familien ermächtigt (ÖB Moskau 12.2019; vgl. SFH 25.7.2014). Angehörigen von Aufständischen bleiben laut Tanja Lokschina von Human Rights Watch in Russland nicht viele Möglichkeiten, um Kontrollen oder Druckausübung durch Behörden zu entkommen. Eine Möglichkeit ist es, die Republik Tschetschenien zu verlassen, was sich jedoch nicht jeder leisten kann, oder man sagt sich öffentlich vom aufständischen Familienmitglied los. Vertreibungen von Familien von Aufständischen kommen vor (Meduza 31.10.2017). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019).

Kadyrow setzte lokale salafistische Muslime und Aufständische oder deren Unterstützer weitgehend gleich. Er habe die Polizei und lokale Gemeinschaften angewiesen, genau zu überwachen, wie Personen beten und sich kleiden würden, und die zu bestrafen, die vom Sufismus abkommen würden (HRW 26.5.2017).

Die Tageszeitung Nowaja Gazeta berichtete über die rechtswidrige Inhaftierung zahlreicher Personen im Dezember 2016, sowie die heimliche Hinrichtung von mindestens 27 Gefangenen durch Sicherheitskräfte am 26. Januar 2017 in Tschetschenien (AI 22.2.2018). Demnach wollte die tschetschenische Führung damit den Mord an einem Polizisten rächen. Der Polizist wurde vermutlich von islamistischen Kämpfern ermordet. Tschetschenische Regierungsvertreter bestreiten die Vorfälle aufs Schärfste (ORF.at 9.7.2017; vgl. Standard.at 10.7.2017). Im Jänner 2017 hat Ramzan Kadyrow die Sicherheitskräfte angewiesen, ohne Vorwarnung auf Rebellen zu schießen, um Verluste in den Reihen der Sicherheitskräfte zu vermeiden, und auch denen gegenüber keine Nachsicht zu zeigen, die von den Rebellen in „die Irre geführt wurden“ (Caucasian Knot 25.1.2017).

Die Anzahl der Rebellen in Tschetschenien ist schwer zu konkretisieren. Die Anzahl der tschetschenischen Rebellen ist sicherlich geringer als jene z.B. in Dagestan, wo der islamistische Widerstand sein Zentrum hat. Sie verstecken sich in den bergigen und bewaldeten Gebieten Tschetscheniens und bewegen sich hauptsächlich zwischen Tschetschenien und Dagestan, weniger oft auch zwischen Tschetschenien und Inguschetien. Kidnapping wird von tschetschenischen Sicherheitskräften begangen. In Tschetschenien selbst ist der Widerstand nicht sehr aktiv, sondern hauptsächlich in Dagestan. Die Kämpfer würden im Allgemeinen auch nie einen Fremden um Vorräte, Nahrung, Medizin oder Unterstützung bitten, sondern immer nur Personen fragen, denen sie auch wirklich vertrauen, so beispielsweise Verwandte, Freunde oder Bekannte (DIS 1.2015).

Nach dem terroristischen Anschlag auf Grozny am 4.12.2014 nahm Tschetscheniens Oberhaupt Ramzan Kadyrow die Verwandten der Attentäter in Sippenhaft. Kadyrow verlautbarte auf Instagram kurz nach der Tat, dass, wenn ein Kämpfer in Tschetschenien einen Mitarbeiter der Polizei oder einen anderen Menschen töte, die Familie des Kämpfers sofort ohne Rückkehrrecht aus Tschetschenien ausgewiesen werde. Ihr Haus werde zugleich bis auf das Fundament abgerissen. Tatsächlich beklagte einige Tage später der Leiter der tschetschenischen Filiale des „Komitees gegen Folter“, dass den Angehörigen der mutmaßlichen Täter die Häuser niedergebrannt worden seien (Standard.at 14.12.2014; vgl. Meduza 31.10.2017). Es handelte sich um 15 niedergebrannte Häuser (The Telegraph 17.1.2015; vgl. Meduza 31.10.2017). Ein weiterer Fall ist das 2016 niedergebrannte Haus von Ramazan Dschalaldinow. Er hatte sich in einem Internetvideo bei Präsident Putin über die behördliche Korruption und Bestechungsgelder beschwert (RFE/RFL 18.5.2016). Ebenso wurden im Jahr 2016 nach einem Angriff von zwei Aufständischen auf einen Checkpoint in der Nähe von Grozny die Häuser ihrer Familien niedergebrannt (USDOS 3.3.2017). Auch Human Rights Watch berichtet im Jahresbericht 2016, dass Häuser niedergebrannt wurden [damit sind wohl die eben angeführten Fälle gemeint] (HRW 12.1.2017). Die Jahresberichte für das Jahr 2014 von Amnesty International (AI), US Department of States (USDOS), Human Rights Watch (HRW) und Freedom House (FH) berichten vom Niederbrennen von Häusern als Vergeltung für die oben genannte Terrorattacke auf Grozny vom Dezember 2014. 2017, 2018 und 2019 gab es in den einschlägigen Berichten keine Hinweise auf das Niederbrennen von Häusern (AI 22.2.2018; vgl. USDOS 20.4.2018, HRW 18.1.2018, FH 1.2018, USDOS 13.3.2019, HRW 17.1.2019, FH 4.2.2019, HRW 14.1.2020, FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020).

Von einer Verfolgung von Kämpfern des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges einzig und allein aufgrund ihrer Teilnahme an Kriegshandlungen ist heute im Allgemeinen nicht mehr auszugehen (ÖB Moskau 12.2019). Aktuelle Beispiele zeigen jedoch, dass Kadyrow gegen bekannte Kritiker, die manchmal auch der Republik Itschkeria zuzurechnen sind, auch im Ausland vorgeht (CACI 25.2.2020). Beispielsweise wurde im August 2019 der ethnische Tschetschene Selimchan Changoschwili aus dem georgischen Pankisi-Tal in Berlin auf offener Straße ermordet. Er hat im zweiten Tschetschenienkrieg gegen Russland gekämpft und dürfte nicht, wie teilweise in den Medien kolportiert, Islamist gewesen sein, sondern ein Kämpfer in der Tradition der Republik Itschkeria. Auch soll er damals enge Verbindungen zu dem damaligen moderaten Präsidenten Aslan Maschadow gehabt haben (Tagesschau.de 28.8.2019). Ein anderes Beispiel ist der wohl populärste Kritiker Kadyrows. Der Blogger Tumso Abdurachmanow wird häufig von hochrangigen Leuten aus Kadyrows Umfeld bedroht und angegriffen (Deutschlandfunk.de 11.3.2019). Mitte 2019 erklärte der Vorsitzende des tschetschenischen Parlaments und enger Vertrauter von Ramsan Kadyrow, Magomed Daudov (auch bekannt als „Lord“) dem Blogger die Blutfehde (BBC 27.2.2020), nachdem Abdurachmanow den verstorbenen Vater von Ramsan Kadyrow, Achmad Kadyrow, als Verräter bezeichnet hatte (RFE/RL 27.2.2020). Im Februar 2020 wurde Abdurachmanow in seiner Wohnung von einem mit einem Hammer bewaffneten Mann angegriffen. Er konnte den Angreifer abwehren und hat überlebt (BBC 27.2.2020; vgl. RFE/RL 27.2.2020). Ein anderer Blogger wurde Anfang des Jahres 2020 mit 135 Stichwunden tot in einem Hotel im französischen Lille gefunden (SZ 4.2.2020; vgl. Zeit.de 5.7.2020). Der aus Tschetschenien stammende Imran Aliew war als Blogger unter dem Namen „Mansur Stary“ bekannt (Caucasian Knot 28.5.2020). Ein weiterer tschetschenischer Blogger wurde im Juli 2020 in Gerasdorf, nahe Wien, erschossen. Der Getötete war in Tschetschenien Polizist und startete im April 2020 einen Youtube Channel, in dem er das Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, schwer kritisierte und beleidigte. Die tschetschenische Community in Österreich zeigt sich nicht überrascht, dass er sich mit seinem Videoblog in Lebensgefahr gebracht hat (Standard.at 6.7.2020).

Trotzdem dürften sich die russischen und tschetschenischen Behörden bei der Strafverfolgung vor allem auch auf IS-Kämpfer/Unterstützer bzw. auf Personen konzentrieren, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen. Zahlreichen Personen, nach denen seitens russischer Behörden gefahndet wird (z.B. Fahndungen via Interpol), werden Delikte gemäß § 208 Z 2 1. (Teilnahme an einer illegalen bewaffneten Formation) oder gemäß § 208 Z 2 2. (Teilnahme an einer bewaffneten Formation auf dem Gebiet eines anderen Staates, der diese Formation nicht anerkennt, zu Zwecken, die den Interessen der RF widersprechen) des russischen Strafgesetzbuch zur Last gelegt. In der Praxis zielen diese Gesetzesbestimmungen auf Personen ab, die im Nordkaukasus gegen die Sicherheitskräfte kämpfen bzw. auf Personen, die ins Ausland gehen, um aktiv für den sog. Islamischen Staat zu kämpfen (ÖB Moskau 12.7.2017). Ein zunehmendes Sicherheitsrisiko stellt für Russland die mögliche Rückkehr terroristischer Kämpfer nordkaukasischer Provenienz aus Syrien und dem Irak dar. Laut INTERFAX warnte FSB-Leiter Bortnikov bei einem Treffen des Nationalen Anti-Terrorismus-Komitees am 12.12.2017 vor der Rückkehr militanter Kämpfer nach der territorialen Niederlage des sog. IS in Syrien (ÖB Moskau 12.2019). Laut diversen staatlichen und nicht-staatlichen Quellen ist davon auszugehen, dass die Präsenz militanter Kämpfer aus Russland in den Krisengebieten Syrien und Irak mehrere tausend Personen umfasste. Eine Studie des renommierten Soufan-Instituts nennt Russland noch vor Saudi-Arabien als das wichtigste Herkunftsland ausländischer Kämpfer: So sollen rund 3.500 von ihnen aus Russland stammen, wobei die Anzahl der Rückkehrer mit 400 beziffert wird. Anderen Analysen zufolge sollen bis zu 10% der IS-Kämpfer aus dem Kaukasus stammen, deren Radikalisierung teilweise auch in russischen Großstädten außerhalb ihrer Herkunftsregion erfolgte. Laut Präsident Putin sollen rund 9.000 Kämpfer aus dem postsowjetischen Raum stammen (ÖB Moskau 12.2019). Gegen IS-Kämpfer, die aus den Krisengebieten im Nahen Osten zurückkehren, wird v.a. gerichtlich vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. Landinfo 8.8.2016). Die Schwere der Strafe hängt davon ab, ob sich die sogenannten Foreign Fighters den Behörden stellen und kooperieren. Jene, die sich nicht stellen, laufen Gefahr, in sogenannten Spezialoperationen liquidiert zu werden (Landinfo 8.8.2016). Laut einer Meldung vom Dezember 2019 hat der Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB kommuniziert, dass ca. 5.500 russische Bürger sich im Ausland einer terroristischen Organisation angeschlossen haben und an Kriegshandlungen teilgenommen haben. Gegen über 4.000 wurde in Russland eine Strafverfolgung eingeleitet. Von 337 zurückgekehrten Kämpfern wurden 224 bereits verurteilt und 32 festgenommen (ÖB Moskau 12.2019).

Nachdem der sog. IS im Nahen Osten weitgehend bezwungen werden konnte, ist zu vermuten, dass überlebende IS-Kämpfer nordkaukasischer Provenienz abgesehen von einer Rückkehr nach Russland entweder in andere Konfliktgebiete weiterziehen oder sich der Diaspora in Drittländern anschließen könnten. Laut dem unabhängigen Nachrichtenportal zum Kaukasus, Caucasian Knot, kehren nur sehr wenige IS-Anhänger nach Russland zurück. Bei einer Rückkehr aus Gebieten, die unter Kontrolle des IS standen bzw. stehen, werden sie strafrechtlich verfolgt (ÖB Moskau 12.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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