TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/17 W272 1250851-3

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Veröffentlicht am 17.06.2021
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Entscheidungsdatum

17.06.2021

Norm

BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs4
VwGVG §28 Abs5

Spruch


W272 1250851-3/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. BRAUNSTEIN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg vom XXXX , Zahl XXXX zu Recht erkannt:

A)

I. In Stattgebung der Beschwerde wird der Bescheid gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2004 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 29.02.2004 einen Asylantrag.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.06.2004 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.), und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG) idgF, für zulässig (Spruchteil II.) erklärt.

3. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 19.05.2006, Zl: XXXX , Folge gegeben, und dem Beschwerdeführer im Wege der Erstreckung der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

4. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 02.07.2014, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Verbrechens des Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten, unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen, verurteilt.

5. Mit Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 26.06.2015, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Vergehens des Eingriffs in fremde Jagd- und Fischereirechte nach § 137 dritter Fall StGB zu einer einmonatigen Haftstrafe, welche unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde, verurteilt.

6. Mit Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 13.01.2016, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift nach §§ 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe, bedingt nachgesehen unter Setzung einer dreijährigen Probezeit, verurteilt.

7. Mit Urteil des Bezirksgerichts Waidhofen an der Ybbs vom 03.05.2018, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift nach §§ 27 Abs. 1 Z 1, Abs. 1 Z 2 siebter und achter Fall SMG und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs.1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten verurteilt.

8. Am 22.08.2018 wurde gegen den BF ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet.

9. Am 21.09.2018 wurde der BF zum Aberkennungsverfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen.

10. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.10.2018, Zl. XXXX , wurde dem BF der Asylstatus gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt, und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG gem. § 9 Abs 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG wurde dem BF eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt.

11. Dem BF wurde mit 23.11.2019 eine Rot-Weiß-Rot Karte plus ausgefolgt.

12. Am 26.02.2020 langte beim Bundesamt ein Abschlussbericht wegen Raubes ein, woraufhin das Bundesamt am 27.02.2020 ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einleitete und dieses gleichzeitig gemäß § 38 AVG bis zur Klärung der strafrechtlichen Vorwürfe aussetzte.

13. Am 08.10.2020 beantragte der BF beim Magistrat der Stadt Waidhofen an der Ybbs die Verlängerung seines Aufenthaltstitels.

14. Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 05.11.2020, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 120 Tagessätzen zu je EUR 30,-- sowie zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

15. Mit Schreiben vom 15.01.2021 wurde dem BF Parteiengehör eingeräumt und langte am 10.02.2021 eine Stellungnahme samt Beweismitteln des BF ein.

16. Mit Bescheid vom XXXX erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Sinne des § 52 Abs. 4 Z 1 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG iVm § 46 FPG die Zulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation fest (Spruchpunkt II.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegenüber dem Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt IV.) und der Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Begründend führte das Bundesamt zur erlassenen Rückkehrentscheidung aus, dass der Eingriff in das Recht des BF auf Familien- und Privatlebens im gegenständlichen Fall durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 EMRK gedeckt sei und ein in einer demokratischen Gesellschaft legitimes Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK, verfolgt werde. Fallbezogen sei das Privat- und Familienleben des BF durch seine beharrliche und teils schwere Kriminalität erheblich getrübt worden. In Anbetracht seiner festgestellten und gewürdigten Verstöße gegen die Rechtsordnung der Republik Österreich sowie der schwerwiegenden Gefahr, welche von ihm für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgehe, sei nicht davon auszugehen, dass sein Interesse an einem Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an einer Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, konkret dem geordneten Fremdenwesen, dem geordneten Zuzug von Fremden und nicht zuletzt der Gefahrenabwehr, überwiege. Aufgrund der fünf strafrechtlichen Verurteilungen des BF seien die Voraussetzungen für ein Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm. Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt. Die Gesamtbeurteilung des Verhaltens, der Lebensumstände sowie der familiären und privaten Anknüpfungspunkte des BF hätten im Zuge der von der Behörde vorgenommenen Abwägungsentscheidung ergeben, dass die Erlassung des Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer gerechtfertigt und notwendig sei, die vom BF ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern. Das ausgesprochene Einreiseverbot sei daher zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten.

17. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 08.04.2021 Beschwerde in vollem Umfang. Dabei wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass von Seiten der Behörde außer Acht gelassen worden sei, dass der BF in Österreich aufgewachsen sei und seit nunmehr 15 Jahren rechtmäßig aufhältig sei. Dabei übersehe die belangte Behörde, dass gemäß § 9 Abs. 6 BFA-VG gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen wäre, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden dürfe, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. Da sich die Rückkehrentscheidung im gegenständlichen Fall nicht allein auf die ersten Straftaten des BF stützten, sondern insbesondere auf die letzte Verurteilung des BF im Jahr 2020 wegen des Vergehens der Nötigung, erfülle der BF den Tatbestand des § 9 Abs. 6 BFA-VG. Auch vor dem Hintergrund, dass am 29.10.2018 mit Bescheid der belangten Behörde (rechtskräftig) festgestellt worden sei, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, sei als „maßgeblicher Sachverhalt“ iSd. § 9 Abs. 6 BFA-VG jener Sachverhalt zu verstehen, welchen der BF nach der Erlassung des Bescheides vom 29.10.2018 verwirklicht habe. Weil nämlich dieser Sachverhalt für diese gegenständliche Rückkehrentscheidung maßgeblich sei. Demnach hätte die belangte Behörde bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 Z 1 FPG in Entsprechung des § 9 Abs. 6 BFA-VG als Vorfrage prüfen müssen, ob die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. Zwar habe die belangte Behörde im gegenständlich angefochtenen Bescheid gegen den BF ein befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 3 FPG erlassen und die Voraussetzungen daher in einem anderen Kontext geprüft. Dass die belangte Behörde jedoch nicht schon bei der Prüfung hinsichtlich Spruchpunkt I. das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 FPG geprüft habe, zeige, dass die belangte Behörde nicht bemüht wäre, eine verhältnismäßige Entscheidung zu treffen und insbesondere dem Umstand, dass der BF in Österreich aufgewachsen und seit 17 Jahren rechtmäßig aufhältig sei, nicht in angemessener Weise berücksichtigt habe. In diesem Zusammenhang wurde auf § 9 Abs. 4 BFA-VG verwiesen, wonach der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 56/2018 gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden könnte. Nach dieser Bestimmung dürfe gegen den BF keine Rückkehrentscheidung erlassen werden, da er von klein auf in Österreich aufgewachsen und hier langjährig niedergelassen wäre. Zwar sei § 9 Abs. 4 BFA-VG mit dem FrÄG 2018 aufgehoben worden, doch seien dessen Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiter beachtlich. Hierzu werde auf die folgende Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen (VwGH am 27.08.2020, Ra 2020/21/0276). Anzumerken sei, dass der BF bis dato nie zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in einer Justizanstalt verurteilt worden sei und eine Fußfessel nur einmal in der Dauer von sieben Monaten tragen habe müssen. Trotz der Straftaten des BF käme demnach kein Gericht zum Ergebnis, dass vom BF eine dermaßen erhebliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen würde, dass der Vollzug einer unbedingten Freiheitsstrafe (in einer Justizanstalt) geboten wäre. Auch hinsichtlich der letzten Verurteilung sei der Vollzug der Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit nachgesehen worden. Dies zeige wie unverhältnismäßig die gegenständliche Entscheidung der belangten Behörde sei. Dies werde insbesondere auch aus der Begründung der belangten Behörde hinsichtlich der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung deutlich. Soweit die belangte Behörde ausführe, die sofortige Ausreise des BF sei im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zwingend erforderlich, weil der Aufenthalt des BF eine gegenwärtige erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle, so sei dies im Hinblick auf die vom BF begangenen Straftaten und den diesen Straftaten zugrunde liegenden Verurteilungen nicht nachvollziehbar. Das gegenständliche Verfahren sei aufgrund eines Abschlussbericht wegen Raubes eingeleitet worden. Der BF sei letztlich wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 120 Tagessätzen zu je EUR 30,-- sowie zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt worden. Der Vollzug der Freiheitsstrafe sei unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen worden. Dieser Verurteilung liege zugrunde, dass der BF einem anderen einen Bargeldbetrag von EUR 100,- abgenötigt habe. Auch an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass eine solche Straftat nicht zu bagatellisieren sei. Dies wäre jedoch auch die einzige Verurteilung des BF seit der rechtskräftigen Feststellung, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei. Die gegenständliche Rückkehrentscheidung sei daher in Wahrheit wegen dieser einen Verurteilung wegen eines Vergehens und einem Bargeldbetrag von EUR 100,- erlassen worden. Dies entbehre jeder Verhältnismäßigkeit.

18. Am 27.05.2021 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG durchgeführt. Im Rahmen der Verhandlung wurde der BF befragt. Dabei legte der BF ein Konvolut an Unterlagen vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten sowie aus dem Akteninhalt, der Niederschrift vor dem BFA, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und bekennt sich zum moslemischen Glauben. Er wurde am XXXX in der Russischen Föderation geboren. Der Beschwerdeführer stammt aus XXXX und lebte dort bis zu seiner Ausreise als Siebenjähriger. Der BF spricht Tschetschenisch, Deutsch und Englisch.

Der Beschwerdeführer reiste im Jahr 2004 illegal nach Österreich ein und stellte am 03.06.2004 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 19.05.2006 wurde ihm der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Der BF hat aufgrund des Familienverfahrens abgeleitet Asyl erhalten.

Am 22.08.2018 wurde gegen den BF ein Asylaberkennungsverfahren eingeleitet. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.10.2018 wurde dem BF der Status des Asylberechtigten aberkannt. Ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 8 Abs 1 Z 2 AsylG nicht zuerkannt, festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gem. § 52 FPG gem. § 9 Abs 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist und gem. § 55 Abs 1 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung plus erteilt. Dieser Bescheid erwuchs am 01.12.2018 in Rechtskraft. Dem BF wurde eine Rot-Weiß-Rot Karte plus, zuletzt von 23.11.2019 bis 23.11.2020 ausgestellt. Der BF hat einen Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels am 08.10.2020 eingebracht. Der BF verfügt über einen rechtmäßigen Aufenthalt.

Der Beschwerdeführer wurde fünf Mal rechtskräftig verurteilt:

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 02.07.2014, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Verbrechens des Raubes nach §§ 142 Abs 1, 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten, unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen, verurteilt. Der BF hat am 23. 11. 2013 als Mittäter, drei anderen Personen deren Mobiltelefone, Bargeld in der Höhe von € 20, --, einen Gürtel der Marke Gucci im Wert von € 30, --, eine Sonnenbrille der Marke Ray Ban im Wert von € 250, -- und eine Packung Zigaretten, indem sie die Opfer aufforderten, mit ihnen mitzukommen, diese umstellten und in aggressivem Ton Wertgegenstände von ihnen forderten, die die Opfer ihnen sodann übergaben. Weiters hat er am 29. 11. 2013 als Mittäter, ihre Opfer umkreist und deren Wertgegenstände gefordert und zwar Bargeld, Mobiltelefon und Jacke, wobei es bei einem Opfer beim Versuch blieb, da dieser flüchtete. Strafmildernd wurde gewertet, der bisherige ordentliche Lebenswandel, das Geständnis sowie dass es teilweise beim Versuch geblieben ist. Erschwerend die Tatwiederholung.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 26.06.2015, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Vergehens des Eingriffs in fremde Jagd- und Fischereirechte nach § 137 dritter Fall StGB zu einer einmonatigen Haftstrafe, welche unter Setzung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde, verurteilt. Der BF hat am 15.04.2015 unter Verletzung fremder Fischereirechte, drei Forellen aus der Ybbs gefischt und diese getötet, wodurch ein € 3.000, -- nicht übersteigender Schaden entstanden ist. Mildernd bei der Strafbemessung wurde sein Geständnis und die Schadensgutmachung, sowie das Alter unter 21 Jahren beurteilt. Erschwerend die einschlägige Vorstrafe und der Umstand, dass es 3 Forellen waren.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 13.01.2016, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift nach §§ 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe, bedingt nachgesehen unter Setzung einer dreijährigen Probezeit, verurteilt. Der BF war schuldig im Zeitraum von September 2014 bis Ende Dezember 2015 in Waidhofen und anderen Orten vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich eine unbekannte Menge Cannabis und Speed zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen zu haben. Mildernd bei der Strafbemessung wurde beurteilt das Alter unter 21 Jahren und sein Geständnis, erschwerend die 2 Vorstrafen.

Mit Urteil des Bezirksgerichts Waidhofen an der Ybbs vom 03.05.2018, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift nach §§ 27 Abs 1 Z 1, Abs 1 Z 2 siebter und achter Fall SMG und des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von vier Monaten verurteilt. Der BF hat vorschriftswidrig Suchtgift anderen überlassen, nämlich an XXXX 2 Gramm Amphetamine zum Preis von € 30, -- und XXXX 4 Gramm Cannabiskraut zu einem Wert von € 40,--. Weiters am 15.01.2018 dem XXXX mit dem Tablet ins Gesicht geschlagen, wodurch dieser Abschürfungen an der Oberlippe erlitt und am 13.12.2017 dem XXXX mehrere Schläge ins Gesicht versetzte, wodurch dieser eine Naseprellung und eine Abschürfung erlitt. Bei der Strafbemessung wurde das teilweise Geständnis als mildernd beurteilt und erschwerend die 3 Vorstrafen (2 einschlägig), das Zusammentreffen mehrerer Straftaten und die Tatsache von 2 Opfern gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichts St. Pölten vom 05.11.2020, Zl. XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe in der Höhe von 120 Tagessätzen zu je EUR 30, -- sowie zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Der BF hat am 14.12.2019, als Mittäter, eine andere Person dadurch, dass sie diesen umringten, der BF ihn mit beiden Händen am T-Shirt packte, zur Seite drängte und der andere Täter ihm hernach dessen Geldbörse beinhaltend einen € 100, -- Schein wegnahm, wobei sie hierbei den Widerstand des XXXX überwanden, mithin mit Gewalt zur Duldung der Wegnahme eines Bargeldbetrages von € 100, -- genötigt. Bei der Strafbemessung wurde mildernd gewertet, dass der BF einen Beitrag zur Wahrheitsfindung leistete sowie nach der Tat veranlasste, dass dem Opfer seine Geldbörse rückgestellt wurde. Erschwerend waren zwei einschlägige Vorstrafen und die Tatbegehung innerhalb offener Probezeit.

Der BF beging auch Verwaltungsstrafen, indem er ua. am 22.02.2020 ein Fahrzeug in einem durch Suchtgift beeinträchtigten Zustand, mit nicht gültiger Begutachtungsplakette lenkte. Sowie ohne Lenkberechtigung und Zulassung ein Fahrzeug am 12.01.2020 lenkte, obwohl für dieses keine vorgeschriebene Haftpflichtversicherung hatte. Am 16.05.2020 ein Fahrzeug lenkte, obwohl er nicht im Besitze einer gültig erteilten Lenkberechtigung und dazu noch im einem durch Suchtgift beeinträchtigten Zustand war. Am 20.09.2019 in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand ein Fahrzeug gelenkt hat. Der Test am geeichten Alkomaten ergab einen Alkoholgehalt der Atemluft von 0,64 mg/l.

Der Beschwerdeführer ist körperlich gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer ist seit dem Jahr 2004, somit seit 17 Jahren, durchgehend im Bundesgebiet rechtmäßig aufhältig und verfügte stets über eine Meldung. Der BF ist ledig. Seine Eltern und seine Geschwister, eine Schwester und ein Bruder, leben allesamt als Asylberechtigte in Österreich. Der Beschwerdeführer absolvierte in Österreich die Volks- und danach die Hauptschule. Er war im Gerüstbau tätig und hat sich auf dem Gebiet der Kryptowährungen weitergebildet. Er hat einen Kurs MAG-Schweißen absolviert. Im Schuljahr 2011/2012 hat der BF die 8. Schulstufe, Hauptschule, positiv abgeschlossen. Im Schuljahr 2013/2014 besuchte er die HTBLuVA in Waidhofen an der Ybbs. Der BF war seit Oktober 2016 fast durchgehend in einem Ausbildungs- oder Beschäftigungsverhältnis. Der BF besuchte in den Schuljahren 2016/2017, 2018/2019 die Landesberufsschule Amstetten für den Lehrberuf Metalltechnik, Hauptmodul Metallbau- und Blechtechnik. Der Beschwerdeführer ist derzeit nicht selbsterhaltungsfähig, er bezieht Sozialleistungen bzw. lebt von staatlicher Unterstützung (AMS). Der Beschwerdeführer lebt nicht im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern. Der Beschwerdeführer verfügt über einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet, vorwiegend bestehend aus Österreichern. Er spielt in einem Fußballverein und ist sportlich aktiv. Zudem spielt er Schach und hat beim Lehrlingssportfest 2019 den 1. Platz erreicht. Der Beschwerdeführer hat sich während seines langjährigen Aufenthaltes sehr gute Deutschkenntnisse angeeignet und kann sich auf Deutsch verständigen.

Der Beschwerdeführer war mit einigen Unterbrechungen erwerbstätig. Von 01.10.2012 – 30.11.2012 als Arbeiterlehrling, von 11.06.2013 bis 30.06.2014 als geringfügiger beschäftigter Arbeiter, von 24.10.2016 bis 25.01.2018 und von 06.08.2018 bis 04.06.2020 als Arbeiterlehrling, von 04.04.2018 bis 05.08.2018 als Arbeiter und von 27.10.2020 bis 27.12.2020 als Arbeiterlehrling. Der BF bezog dazwischen auch Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Überbrückungshilfe und Krankengeld.

1.2. Zur Situation in der Russische Föderation:

1.2.1. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation vom 04.09.2020:

Politische Lage

Letzte Änderung: 04.09.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020). Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien (SWP 4.2015) und wird nicht ganz so ausgeprägt kontrolliert wie in Tschetschenien (AA 13.2.2019). Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen (SWP 4.2015). Die Bewohner Dagestans sind hinsichtlich persönlicher Freiheit besser gestellt, und auch die Menschenrechtslage ist grundsätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien (AA 13.2.2019), obwohl auch in Dagestan mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einhergehen (AA 13.2.2019, vgl. SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew wurde das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien ausgehebelt. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden; im Nordkaukasus hatte er davon jedoch Abstand genommen. Wassiljew ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef Abdussamad Gamidow, zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet, um die wirtschaftlich abgeschlagene und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängende Nordkaukasus-Republik auszubeuten. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018, vgl. Standard.at 5.2.2018).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Sicherheitslage in Dagestan ist zwar angespannt, hat sich in jüngerer Zeit aber verbessert (AA 13.2.2019). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete nach Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2019).

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem sog. Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste, gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan, schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Es kommt nach wie vor zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Die Extremisten gehörten zunächst zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Auch operativ ist der sog. IS im Nordkaukasus in Erscheinung getreten. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des sog. IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der sog. IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 gab es mindestens 49 Opfer des bewaffneten Konflikts in Dagestan, davon wurden 36 Personen getötet und 13 verletzt. Die meisten getöteten Personen sind, wie 2017, unter den Aufständischen zu finden, nämlich 27. Von den Exekutivkräften wurden drei getötet und elf verletzt. Sechs Zivilisten wurden getötet und zwei verletzt. Im Vergleich zu 2017, als es 55 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl um 10,9% (Caucasian Knot 30.8.2019).

2019 wurden in Dagestan neun Personen getötet [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020). Diese neun Personen wurden alle im ersten Halbjahr 2019 getötet (Caucasian Knot 30.8.2019).

Laut dem Leiter des dagestanischen Innenministeriums gab es bei der Bekämpfung des Aufstands in Dagestan einen Durchbruch. Die Aktivitäten der Gruppen, die in der Republik aktiv waren, sind seinen Angaben zufolge praktisch komplett unterbunden worden. Nach acht Mitgliedern des Untergrunds, die sich Berichten zufolge im Ausland verstecken, wird gefahndet. Trotzdem besteht laut Analysten und Journalisten weiterhin die Möglichkeit von Anschlägen durch einzelne Täter (ACCORD 19.6.2019).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 04.09.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die form

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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