TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/23 G314 2134458-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.06.2021
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Entscheidungsdatum

23.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §29 Abs5
VwGVG §31 Abs1

Spruch


G314 2134458-2/15E

GEKÜRZTE AUSFERTIGUNG DES AM 17.06.2021 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX (auch: XXXX), geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. Thomas KLEIN, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX.2018, Zl. XXXX, beschlossen (A) und zu Recht erkannt (B):

A)       Das Verfahren wird im Umfang der Anfechtung der Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheids eingestellt.

B)       Der Beschwerde wird im Anfechtungsumfang Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass es in Spruchpunkt IV. zu lauten hat: „Gemäß § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG ist eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig. Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 55 Abs 1 und 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ iSd § 54 Abs 1 Z 1 AsylG erteilt“ und die Spruchpunkte V. und VI. ersatzlos behoben werden.

C)       Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Zu Spruchteil A):

In der heutigen Verhandlung wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des oben angeführten Bescheids zurückgezogen. Das Verfahren wird daher in diesem Umfang gemäß § 28 Abs 1 VwGVG eingestellt.

Zu Spruchteil B):

Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, durch die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Gemäß § 58 Abs 2 AsylG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird. Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ (die gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG zu einem Aufenthalt im Bundesgebiet und zur Ausübung einer selbständigen und unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 AuslBG berechtigt) zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist (Z 1) und die Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze erreicht wird (Z 2).

Da der Beschwerdeführer (BF) derzeit als selbständig Erwerbstätiger ein Einkommen über der Geringfügigkeitsgrenze erzielt, ist ihm aufgrund der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen.

Der BF hält sich seit XXXX kontinuierlich als Asylwerber im Bundesgebiet auf. Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens iSd Art 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Der BF hat außergewöhnliche Integrationsbemühungen unternommen, weil er seit ca. drei Jahren als Zusteller selbständig erwerbstätig ist. Er spricht recht gut Deutsch. Er hat im Bundesgebiet einen Freundeskreis aufgebaut und die hier verbrachte Zeit zu seiner sozialen und beruflichen Integration genützt.

Er ist strafgerichtlich unbescholten und hat sich keine Verstöße gegen die öffentliche Ordnung zuschulden kommen lassen. Auch wenn man berücksichtigt, dass sein Privatleben im Inland zu einem Zeitpunkt entstand, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war, überwiegen in der vorzunehmenden Abwägung seine persönlichen Interessen am Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung, auch wenn nach wie vor Kontakt zu seiner im Irak lebenden Mutter besteht. Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen Asylwerber bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit konfrontiert sind, ist insbesondere der Umstand, dass er ein Unternehmen gegründet hat und mittlerweile selbsterhaltungsfähig ist, zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Der BF hat große Anstrengungen unternommen, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Der Umstand, dass ihm sein unsicherer Aufenthaltsstatus stets bewusst sein musste, relativiert zwar das Gewicht des Privatlebens im Inland, hat aber vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung insbesondere bei Bedachtnahme auf die Integrationsbemühungen nicht zur Konsequenz, dass diesem überhaupt kein Gewicht beizumessen wäre und ein solcherart begründetes persönliches Interesse nicht zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen kann.

In Stattgebung der Beschwerde ist im Ergebnis eine Rückkehrentscheidung gegen den BF auf Grund des § 9 Abs 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig zu erklären und ihm gemäß § 58 Abs 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 54 Abs 1 Z 1 AsylG iVm § 55 Abs 1 AsylG zu erteilen. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids ist insoweit abzuändern, Spruchpunkt V. und VI. haben als Folge dieser Entscheidung ersatzlos zu entfallen.

Zu Spruchteil C):

Die Revision nach Art 133 Abs 4 B-VG ist nicht zuzulassen, weil es sich bei der Interessenabwägung gemäß Art 8 EMRK um eine typische Einzelfallbeurteilung handelt, bei der sich das BVwG (vor allem angesichts der Selbsterhaltungsfähigkeit des BF) im Rahmen der Rechtsprechung des VwGH bewegte, und keine erheblichen, über den Einzelfall hinausreichenden Rechtsfragen zu lösen sind.

Diese gekürzte Ausfertigung des nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 17.06.2021 verkündeten Erkenntnisses ergeht gemäß § 29 Abs 5 VwGVG, weil auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof durch die beschwerdeführende Partei und die Behörde am 17.06.2021 verzichtet wurde (siehe Niederschrift OZ 12).

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Behebung der Entscheidung Familienverfahren gekürzte Ausfertigung Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Spruchpunkt - Zurückziehung Verfahrenseinstellung Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2134458.2.00

Im RIS seit

13.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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