Entscheidungsdatum
28.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I401 1241438-3/22E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerhard AUER über die Beschwerde des XXXX alias XXXX alias XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX alias XXXX , StA. NIGERIA alias Sudan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.03.2018, Zl. IFA: XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass im Spruchpunkt VI. die „Ziffer 2“ durch die „Ziffer 1“ ersetzt wird.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte erstmals am 13.08.2003 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, der rechtskräftig abgewiesen wurde.
Nach mehreren strafgerichtlichen Verurteilungen wegen Suchtgiftdelikten und einem Antrag auf freiwillige Rückkehr, wobei er einen nigerianischen Reisepass vorlegte, wurde er schließlich im Juli 2006 nach Nigeria abgeschoben.
Im Februar 2011 stellte der Beschwerdeführer unter Angabe einer Aliasidentität einen Asylantrag in der Schweiz und am 13.05.2011 erneut in Österreich, wieder unter Verwendung einer anderen Identität und der Angabe des Herkunftsstaates Sudan bzw. Südsudan.
Nach weiteren strafgerichtlichen Verurteilungen und Haftstrafen in Österreich wurde sein Asylantrag vom damals zuständigen Bundesasylamt, nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge als Bundesamt bezeichnet) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und eine Ausweisung in den Sudan verfügt.
Diese Entscheidung wurde nach der erhobenen Beschwerde an den damals zuständigen Asylgerichtshof, zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens durch ihn und Übergang an das Bundesverwaltungsgericht von diesem mit Beschluss vom 23.10.2015 behoben und zur neuerlichen Ermittlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass das Bundesamt nunmehr eine sudanesische Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers angenommen habe, ohne dazu (geeignete) Ermittlungsschritte gesetzt zu haben, und daher schon unter diesem Gesichtspunkt nicht von entschiedener Sache ausgegangen werden könne, weil sich die Fluchtgründe nunmehr auf einen anderen Herkunftsstaat beziehen würden.
Nach der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt wies es mit dem angefochtenen Bescheid vom 23.03.2018 dessen Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus Gründen des § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III.), gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt IV.), erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt V.) und erließ gegen ihn ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VI.).
In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde moniert, das Bundesamt habe die aktuelle Sicherheitslage in Nigeria nicht ausreichend beachtet. Dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr nach Nigeria eine Gefahr durch Unsicherheiten und Spannungen, ausgelöst durch unvorhersehbare lokale Konflikte und militante Gruppen. Außerdem habe er seine Fluchtgründe vollständig und schlüssig dargelegt. Die nigerianischen Sicherheitsbehörden könnten ihm keinen ausreichenden Schutz vor Verfolgung bieten. Der Beschwerdeführer sei außerdem gewillt, sich zu bessern und rechtfertige die Gefährdungsprognose nicht ein Einreiseverbot in verhängtem Ausmaß.
Am 17.05.2021 wurde eine mündliche Beschwerdeverhandlung in der Außenstelle in Innsbruck durchgeführt, an der der Beschwerdeführer, seine Rechtsvertretung und ein Dolmetscher für die englische Sprache anwesend waren.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig und Vater mehrerer Kinder. Er trat vor österreichischen, deutschen und Schweizer Behörden mit verschiedenen Namen, Geburtsdaten und Staatsangehörigkeiten auf. Trotzdem stehen seine Identität und die nigerianische Staatsbürgerschaft fest.
Er leidet nicht an einer lebensbedrohlichen Krankheit, er wurde am Knie und an der Hüfte operiert und ist damit insoweit gesund, als er eine Erwerbstätigkeit aufnehmen kann.
Der Beschwerdeführer reiste erstmals im Jahr 2003 nach Österreich ein und wurde er nach Abschluss des ersten Asylverfahrens im Juli 2006 nach Nigeria abgeschoben. Er hält sich seit Mai 2011 mit Unterbrechungen wieder in Österreich auf.
Die Eltern des Beschwerdeführers sind beide verstorben, der Vater war Sudanese, die Mutter Nigerianerin. Der Beschwerdeführer lebte seit seinem fünften Lebensjahr in Kenia, wo er eine Familie gründete. Seine Schwester, seine Kinder und die Kindsmutter halten sich in Kenia auf. Das älteste und mittlerweile volljährige Kind lebt bei dem Onkel des Beschwerdeführers in Nigeria. Mit diesem steht er in regelmäßigem fernmündlichem Kontakt. In Österreich verfügt er über keine Verwandten und über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen.
Der Beschwerdeführer hat in Kenia eine Schule besucht und sich als Mechaniker den Lebensunterhalt gesichert. Aufgrund seiner Arbeitserfahrung hat er eine Chance auch hinkünftig am nigerianischen Arbeitsmarkt unterzukommen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich vorbestraft. Er wurde sechsmal wegen Vergehen und Verbrechen gegen das Suchtmittelgesetz verurteilt. Mit rechtskräftigen Urteilen des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 08.04.2004, 27.04.2005, 21.12.2011, 08.11.2012, 05.06.2018 und 20.01.2021 wurde er zu Haftstrafen in der Dauer von neun Monaten (wobei der bedingt nachgesehene Teil der Freiheitsstrafe später widerrufen wurde), zwölf Monaten, drei Monaten, zehn Monaten, drei Jahren und einem Jahr verurteilt. Hinsichtlich der letzten Verurteilung wurde dem Beschwerdeführer Strafaufschub gewährt, um sich einer notwendigen gesundheitsbezogenen Maßnahme, nämlich einer Entzugstherapie, zu unterziehen.
Mit Ausnahme der in den verschiedenen Justizanstalten in der Zeit vom 15.02.2012 bis 19.02.2021 (mit Unterbrechungen) erbrachten Tätigkeiten ging und geht er in Österreich keiner erlaubten Beschäftigung nach. Er bezog bis Juli 2014 Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der Beschwerdeführer weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Entgegen seinem Fluchtvorbringen kann keine individuelle, gegen ihn persönlich gerichtete Verfolgung oder Bedrohung durch Boko Haram oder wegen der Unabhängigkeitsbewegung „Biafra“ in Nigeria festgestellt werden. Der Beschwerdeführer behauptete eine Verfolgung im Sudan aufgrund des Krieges und dass die Südsudanesen in Kenia Probleme machen würden.
Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer bezüglich seines Herkunftsstaates Nigeria keinerlei Verfolgungsgründe vorgebracht hat.
In Nigeria wird er nicht aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung nicht verfolgt. Der Beschwerdeführer wird im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.
1.3. Zu den Feststellungen zur Lage in Nigeria:
1.3.1. Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Nigeria (Gesamtaktualisierung am 07.08.2017) vollständig zitiert. Seither haben sich die darin angeführten Umstände für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert. In der Länderinformation der Staatendokumentation zu Nigeria (aus dem COI-CMS, generiert am: 23.11.2020, Version 2), welche mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelt und in dieser erörtert wurde, wird (mit Angaben der Quellen) - auszugsweise - festgehalten:
4 Sicherheitslage
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).
Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).
Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).
In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).
In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- AA - Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise
(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, 16.4.2020
- BBC News (26.10.2020): Nigeria protests: Police chief deploys 'all resources' amid street violence, https://www.bbc.com/news/world-africa-54678345, Zugriff 28.10.2020
- CFR - Council on Foreign Relations (2020): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 8.10.2020
- DS - Der Standard (16.10.2020): Berüchtigte "Sars"-Polizeieinheit in Nigeria nach Protesten abgeschafft, https://www.derstandard.at/story/2000120951836/beruechtigte-sars-polizeieinheit-in-nigeria-nach-protesten-abgeschafft, Zugriff 28.10.2020
- EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2035799.html, Zugriff 30.9.2020
- Garda - Gardaworld (23.6.2020): Nigeria: Gunmen attack village in Zamfara State on June 20, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/353501/nigeria-gunmen-attack-village-in-zamfara-state-on-june-20, Zugriff 8.10.2020 (siehe "context")
- Guardian, The (11.10.2020): Nigeria to disband Sars police unit accused of killings and brutality, https://www.theguardian.com/world/2020/oct/11/nigeria-to-disband-sars-police-unit-accused-of-killings-and-brutality, Zugriff 28.10.2020
- UKFCDO - United Kingdom Foreign, Commonwealth & Development Office (26.9.2020): Foreign travel advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 8.10.2020
22 Grundversorgung
Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).
Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Lebensmittelpreise variieren nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).
Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019c): Nigeria - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/wirtschaft/205790, Zugriff 5.10.2020
- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2020): Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 5.10.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria, Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 2.10.2020
- IOM Nigeria - International Organization for Migration (17.3.2020): Emergency Response, 2019 Annual Reports, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2019_annual_report_-_iom_nigeria_emergency_responsefinal.pdf, Zugriff 15.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.9.2020): Die nigerianische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html, Zugriff 13.10.2020
23 Medizinische Versorgung
Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 3.2020b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 9.2020b; vgl. ÖB 10.2019). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch (AA 7.9.2020). Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2019). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 9.2020b). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 100,2 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten (ÖB 10.2019).
Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 16.1.2020). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Ibadan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, können hier kostenpflichtig behandelt werden (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung (ÖB 10.2019).
In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 16.1.2020).
Stigmatisierung und Missverständnisse über psychische Gesundheit, einschließlich der falschen Wahrnehmung, dass psychische Erkrankungen von bösen Geistern oder übernatürlichen Kräften verursacht werden, veranlassen die Menschen dazu, religiöse oder traditionelle Heiler zu konsultieren; eine Rolle spielt hier auch der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und die unerschwinglichen Kosten (HRW 11.11.2019). Es existiert kein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (AA 16.1.2020). Nigeria verfügt derzeit über weniger als 150 Psychiater (AJ 2.10.2019), nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner (Österreich 2011: 20 Psychiater/100.000 Einwohner). Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen (Österreich 2011: 80 Psychologen/100.000 Einwohner). Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen „aufbewahrt“. Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt (VAÖB 23.1.2019). Die WHO schätzt, dass weniger als 10 Prozent der Nigerianer jene psychiatrische Behandlung bekommen, die sie brauchen (AJ 2.10.2019; vgl. HRW 11.11.2019).
Nach anderen Angaben gibt es insgesamt für die inzwischen annähernd (VAÖB 23.1.2019) 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung (VAÖB 23.1.2019). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Die Behandlungskosten sind jedoch je nach Schwere der Krankheit unterschiedlich. Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 16.1.2020).
Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 16.1.2020). Nur weniger als sieben Millionen (Punch 22.12.2017) der 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017). Eine Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung ist über das jeweils beschäftigende Unternehmen mittels einer Krankenversicherung abgesichert, die jedoch nicht alle Krankheitsrisiken abdeckt (VAÖB 27.3.2019).
Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 9.2020b). Selbst in staatlichen Krankenhäusern muss für Behandlungen bezahlt werden (AA 16.1.2020). Die Kosten medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden. Die staatlichen Gesundheitszentren heben eine Registrierungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein (ÖB 10.2019). Eine medizinische Grundversorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (VAÖB 27.3.2019). Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen (AA 16.1.2020). Gemäß Angaben einer anderen Quelle werden Tests und Medikamente an staatlichen Gesundheitseinrichtungen dann unentgeltlich abgegeben, wenn diese überhaupt verfügbar sind. Religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen und NGOs bieten kostenfrei medizinische Versorgung (ÖB 10.2019).
In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Antibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 16.1.2020). Medikamente gegen einige weit verbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS können teilweise kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben. Schutzimpfaktionen werden von internationalen Organisationen finanziert, stoßen aber auf religiös und kulturell bedingten Widerstand, überwiegend im muslimischen Norden (ÖB 10.2019).
Die Qualität der Produkte auf dem freien Markt ist jedoch zweifelhaft, da viele gefälschte Produkte - meist aus asiatischer Produktion - vertrieben werden (bis zu 25% aller verkauften Medikamente). Diese wirken aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur eingeschränkt. Es gibt zudem wenig zuverlässige Kontrollen hinsichtlich der Qualität der auf dem Markt erhältlichen Produkte (AA 16.1.2020). Gegen den grassierenden Schwarzmarkt mit Medikamenten gehen staatliche Stellen kaum vor (ÖB 10.2019).
Der Glaube an die Heilkräfte der traditionellen Medizin ist nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher traditionelle Heiler als Schulmediziner konsultiert (GIZ 9.2020b). Gerade im ländlichen Bereich werden „herbalists“ und traditionelle Heiler aufgesucht (ÖB 10.2019).
In Nigeria gibt es wie in anderen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (7.9.2020): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, Zugriff 5.10.2020
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- Africa CDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (13.10.2020): Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC, https://africacdc.org/covid-19/, Zugriff 13.10.2020
- AJ - Al Jazeera (2.10.2019): Nigeria has a mental health problem, https://www.aljazeera.com/ajimpact/nigeria-mental-health-problem-191002210913630.html, Zugriff 16.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria, Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 2.10.2020
- HRW - Human Rights Watch (11.11.2019). Nigeria: People With Mental Health Conditions Chained, Abused, https://www.hrw.org/news/2019/11/11/nigeria-people-mental-health-conditions-chained-abused, Zugriff 16.4.2020
- Punch (22.12.2017): NHIS: Health insurance still elusive for many Nigerians, https://punchng.com/nhis-health-insurance-still-elusive-for-many-nigerians/, Zugriff 16.4.2020
- VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (23.1.2019): medizinische Stellungnahme
- VAÖB - Vertrauensarzt der ÖB Abuja (27.3.2019): medizinische Stellungnahme
In Österreich gibt es mit Stand 28.06.2021, 00:00 Uhr, aktuell 7.365 aktive Fälle und 10.477 gemeldete Todesfälle (https://info.gesundheitsministerium.at/dashboard_Epidem.html?l=de; Zugriff 28.06.2021).
Nigeria hat mit Stand 28.06.2021, 11:30 Uhr, aktuell insgesamt 167.430 bestätigte Fälle und 2.119 Todesfälle zu verzeichnen (https://covid19.who.int/region/afro/country/ng; Zugriff 28.06.2021).
24 Rückkehr
Generell kann kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen festgestellt werden, welcher geeignet wäre, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die allgemein herrschende Situation in Nigeria stellt keine Bedrohung i.S.v Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK dar. Außerdem kann allgemein festgestellt werden, dass eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Abschiebungen erfolgen auf dem Luftweg, in Linien- oder Chartermaschinen. Rückführungen aus EU-Staaten erfolgen meist durch Charterflüge, die auch durch FRONTEX durchgeführt werden (AA 16.1.2020). Die österreichische Botschaft in Abuja unterstützt regelmäßig die Vorbereitung und Durchführung von Joint Return Operations (JROs) gemeinsam mit FRONTEX (ÖB 10.2019). Ohne gültigen nigerianischen Pass oder einen von einer nigerianischen Botschaft ausgestellten vorläufigen Reiseausweis ist eine Einreise aus Europa kommender nigerianischer Staatsangehöriger nicht möglich. Dies gilt auch für zwangsweise Rückführungen (AA 16.1.2020).
Erkenntnisse darüber, ob abgelehnte Asylbewerber bei Rückkehr nach Nigeria allein wegen der Beantragung von Asyl mit staatlichen Repressionen zu rechnen haben, liegen nicht vor. Verhaftung aus politischen Gründen oder andere außergewöhnliche Vorkommnisse bei der Einreise von abgeschobenen oder freiwillig rückkehrenden Asylwerbern sind nicht bekannt (AA 16.1.2020). Die Erfahrungen mit den JROs seit dem Jahre 2005 lassen kaum Probleme erkennen (ÖB 10.2019). Abgeschobene Personen werden im Allgemeinen nach ihrer Ankunft in Lagos von der zuständigen Behörde (Nigerian Immigration Service), manchmal auch von der NDLEA (National Drug Law Enforcement Agency) befragt (AA 16.1.2020) bzw. erkennungsdienstlich behandelt (ÖB 10.2019) und können danach das Flughafengelände unbehelligt verlassen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). Meist steigen sie in ein Taxi ein oder werden von ihren Familien abgeholt. Es kann jedoch nicht mit gänzlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die abgeschobenen Personen keine weiteren Probleme mit den Behörden haben. Das fehlende Meldesystem in Nigeria lässt allerdings darauf schließen, dass nach Verlassen des Flughafengeländes eine Ausforschung Abgeschobener kaum mehr möglich ist (ÖB 10.2019).
Wegen Drogendelikten im Ausland verurteilte Nigerianer werden nach Rückkehr an die NDLEA überstellt. Ein zweites Strafverfahren in Nigeria wegen derselben Straftat haben diese Personen jedoch trotz anderslautender Vorschriften im „Decree 33“ nicht zu befürchten (AA 16.1.2020). Aus menschenrechtlichen Erwägungen wird gegenüber nigerianischen Behörden als Grund für Abschiebungen stets „overstay“ angegeben, da dieser kein strafrechtliches Delikt darstellt (ÖB 10.2019).
Staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige sind in Lagos und anderen Landesteilen grundsätzlich vorhanden. Sie sind jedoch in schlechtem Zustand, so dass z.B. die Angebote nicht bekannt sind oder eine ausreichende Versorgung dort nicht ohne weiteres gewährleistet ist. Internationale Akteure bemühen sich, neue Rückkehrer- bzw. Migrationsberatungszentren aufzubauen. Eine entsprechende Einrichtung von IOM in Benin-City, Edo State, wurde 2018 eröffnet. Gleichermaßen haben im Herbst 2018 in Lagos, Abuja und Benin City Migrationsberatungszentren der GIZ ihren Betrieb aufgenommen. Gemeinsam mit dem nigerianischen Arbeitsministerium wird dort über berufliche Perspektiven in Nigeria informiert (AA 16.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
Eine nach Nigeria zurückkehrende Person, bei welcher keine berücksichtigungswürdigen Gründe vorliegen, wird durch eine Rückkehr nicht automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt.
1.3.2. Zur Frage der nigerianischen Staatsbürgerschaft wird festgestellt:
Die nigerianische Staatsbürgerschaft erwirbt ein Kind kraft Geburt, auch wenn das Kind im Ausland geboren wurde, solange ein Elternteil die nigerianische Staatsbürgerschaft besitzt.
Gemäß Art. 28 der Verfassung der Bundesrepublik Nigeria besteht die Möglichkeit, dass einem Staatsangehöriger Nigerias eine Doppelstaatsbürgerschaft zusteht, wenn er/sie die zweite Staatsangehörigkeit ebenfalls kraft Geburt erworben hat.
Nigeria: Neues Staatsangehörigkeitsrecht
Verfassung der Bundesrepublik Nigeria vom 05.05.1999
Kap. III Staatsbürgerschaft
Art. 25 Staatsbürgerschaft durch Geburt
(1) Folgende Personen sind Staatsbürger Nigerias durch Geburt, nämlich:
a) wer vor dem Unabhängigkeitstag in Nigeria geboren ist, falls ein Eltern- oder Großelternteil einer Eingeborenengemeinschaft Nigerias angehört oder angehörte:
jedoch wird jemand nicht Staatsbürger Nigerias gemäß diesem Artikel, wenn keiner seiner Eltern- oder Großelternteile in Nigeria geboren wurde;
b) wer nach dem Unabhängigkeitstag in Nigeria geboren ist, falls einer seiner Eltern- oder Großelternteile Staatsbürger von Nigeria ist;
c) wer außerhalb Nigerias geboren ist, falls einer seiner Elternteile Staatsbürger Nigerias ist.
Art. 28 Doppelte Staatsbürgerschaft
(1) Gemäß den anderen Vorschriften dieses Artikels verliert künftig jemand, der nicht Staatsbürger Nigerias durch Geburt ist, seine nigerianische Staatsbürgerschaft, wenn er die Staatsbürgerschaft oder Staatsangehörigkeit eines Landes außerhalb Nigerias, in dem er nicht Staatsbürger kraft Geburt ist, erwirbt oder behält.
(2) Die Registrierung einer Person als Staatsbürger von Nigeria oder die Erteilung einer Einbürgerungsurkunde für den Staatsbürger eines anderen Landes im Zeitpunkt seiner Registrierung oder Einbürgerung setzt - falls er nicht durch Geburt Staatsbürger jenes Landes ist - voraus, daß er innerhalb von höchstens zwölf Monaten ab seiner Registrierung oder Einbürgerung wirksam auf die andere Staatsbürgerschaft oder Staatsangehörigkeit verzichtet.
Verlag für Standesamtswesen (3.10.2019): V. Ausländisches und internationales Recht, Nigeria, Neues Staatsangehörigkeitsrecht, https://www.vfst.de/apps/elbib/I42, Zugriff 3.10.2019
Quelle:
- BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Sierra Leone und Nigeria: Staatsangehörigkeit der gemeinsamen Kinder, 3. Oktober 2019 https://www.ecoi.net/en/file/local/2018177/SIER_RA_Staatsangeh%C3%B6rigkeit+der+Kinder_2019_10_03_KE.odt (Zugriff am 21. Juni 2021)
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zum Sachverhalt:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor diesem, den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes und den in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 17.05.2021 gemachten Angaben, in den bekämpften Bescheid, den Beschwerdeschriftsatz sowie in das aktuelle (oben auszugsweise zitierte) „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Nigeria .
Ergänzend wurden aktuelle Auszüge aus dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Zentralen Fremdenregister (IZR), dem Strafregister der Republik Österreich, dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (AJ-Web) und dem Betreuungsinformationssystem (GVS) eingeholt. Daraus ergeben sich insbesondere die Feststellungen zu den Asylanträgen, der 2006 erfolgten Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria und dessen Aufenthalten in Österreich.
2.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Zunächst ist auf die Identität des Beschwerdeführers einzugehen. Er gab vor den Asylbehörden in Österreich, der Schweiz und in Deutschland verschiedene Herkunftsstaaten an und wurde er im dritten strafgerichtlichen Verfahren des Landesgerichtes für Strafsachen Wien als Staatsangehöriger Liberias geführt (AS 275). Er räumte selbst ein, mit unterschiedlichen Namen und Geburtsdaten aufgetreten zu sein (AS 349) und behauptete bis zuletzt in der mündlichen Verhandlung am 17.05.2021 Sudanese zu sein. Es ist möglich, dass er im Sudan als Sohn eines Sudanesen und einer Nigerianerin (AS 344) geboren wurde, allerdings steht sudanesische Staatsangehörigkeit mangels vorgelegter Beweismittel nicht fest. Die nigerianische Staatsangehörigkeit ist hingegen durch die Vorlage eines vom 28.02.2002 bis 27.02.2007 gültigen Reisepasses und der im Jahr im Juli 2006 erfolgten Abschiebung nach Nigeria belegt (AS 549). In Zusammenschau mit der unter Pkt. II. 1.3.2. festgestellten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation erlaubt die nigerianische Verfassung (Art. 28) eine Doppelstaatsbürgerschaft. Als Sohn einer Nigerianerin (AS 516) ist er jedenfalls bzw. Kraft der Geburt ein Staatsangehöriger Nigerias.
Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer im ersten Asylverfahren zwei Mal, und zwar am 17.03.2005 und am 10.06.2005, einen Antrag auf freiwillige Rückkehr nach Nigeria gestellt und dabei primär die Namen und das Geburtsdatum, die auch im ausgestellten nigerianischen Reisepass dokumentiert sind, verwendet hatte. Bei den Aliasnamen O A A war jeweils die Staatsangehörigkeit Sudan angegebenen. Bemerkenswert ist aber, dass in beiden Anträgen auf Rückkehrhilfe die Staatsangehörigkeit Nigeria, die Volksgruppenzugehörigkeit Ibgo bzw. Ibo sowie derselbe Herkunftsort U und dieselbe Region „Anambra State“ angeführt waren und beim ersten Antrag unter der Unterschrift (in Klammer in Blockbuchstaben) der erstgenannte Name CH CH genannt war. Im vom Beschwerdeführer unterfertigten Berufungsverzicht vom 23.06.2005, infolgedessen der erste Asylantrag als gegenstandslos abgelegt wurde, wurde ebenfalls der erstgenannte Name verwendet. In der Folge wurde der Beschwerdeführer nach Nigeria abgeschoben. Von Bedeutung ist zudem, dass er bei seiner niederschriftlichen Einvernahme durch die Bundespolizeidirektion Wien vom 07.04.2005 die Aussage tätigte, er sei im Besitz eines Reisepasses und dieser sei ihm „von seiner Familie aus Nigeria nach Österreich geschickt“ worden. Im Übrigen bekräftigte der Beschwerdeführer in der erhobenen Beschwerde vom 18.04.2018 selbst, nigerianischer Staatsangehöriger zu sein, und begründete sie damit, dass die nigerianischen Sicherheitsbehörden nicht gewillt bzw. imstande seien, ihm den notwendigen Schutz zu bieten, wobei er auf die derzeitige Situation in Nigeria ausführlich Bezug nahm. In Anbetracht aller Umstände ergibt sich somit, dass der Beschwerdeführer nigerianischer Staatsangehöriger ist.
Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen im Sudan, in Kenia und in Österreich ergeben sich aus seinen eigenen Angaben vor dem Bundes(asyl)amt (Protokolle vom 24.05.2011 und 27.11.2017) und vor dem Bundesverwaltungsgericht in den mündlichen Verhandlungen am 03.03.2015 und 17.05.2021. Er gab zwar stets gleichbleibend an, einen Sohn in Deutschland und mit einer in Kenia lebenden Frau vier Kinder zu haben, jedoch gab er zu den Zwillingen unterschiedliche Geburtsdaten an. Letztlich konnte aber festgestellt werden, dass er Vater mehrerer Kinder ist und alle mittlerweile volljährig sind (Jahrgänge 1994, 1996, 1999 und 2001, AS 341).
Hinsichtlich seines Gesundheitszustand belegte er Knie- und Hüftoperationen durch Unterlagen eines Krankenhauses (AS 673 ff). Dass er zum gegebenen Zeitpunkt in ärztlicher Betreuung steht oder Medikamente einnimmt, belegte er hingegen nicht. Eine Suchttherapie bejahte er zwar (Verhandlungsprotokoll [in der Folge: Protokoll], S. 12) und ergibt sich eine solche aus dem Beschluss über den Strafaufschub, er legte aber Belege über die erfolgreiche Absolvierung dieser Therapie nicht vor, wie er auch den in der mündlichen Verhandlung (S. 2) angegebenen Bluthochdruck durch ärztliche Bescheinigungen nicht nachwies. Außerdem gab er selbst an, arbeitswillig und -fähig trotz der Hüftprobleme zu sein (Protokoll, S. 11) und beispielsweise als Abwäscher tätig werden zu können. Aus dem Länderinformationsblatt ergibt sich zudem, dass medizinische Leistungen in Nigeria grundsätzlich angeboten werden und auch zugänglich sind. So gibt es in den Metropolen Krankenhäuser und in der Regel fast alle geläufigen Medikamente in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Antibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden.
Dass der Beschwerdeführer in Österreich über keine maßgeblichen persönlichen und familiären Beziehungen verfügt, bestätigt er selbst (Protokoll, S. 10), sowie, dass er bislang keine integrativen Schritte gesetzt hat (Protokoll, S. 11). Er verneinte eine Mitgliedschaft in Vereinen oder Organisationen, konnte behauptete ehrenamtliche Tätigkeiten nicht belegen und demonstrierte in der mündlichen Verhandlung, obwohl er sich seit ca. zehn Jahren in Österreich aufhält, nur bescheidene Deutschkenntnisse (Protokoll S. 8), die das positiv absolvierte Sprachniveau A2 aus dem Jahr 2016 (Gerichtsakt, OZ 17) nicht widerspiegeln. Eine Beschäftigung während der Strafhaft in der Justizanstalt genügt nicht, um von einer maßgeblichen Verfestigung in beruflicher Hinsicht sprechen zu können.
Die Feststellung über die strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergibt sich aus einer Abfrage des Strafregisters der Republik Österreich vom 15.05.2021 und aus den im Akt einliegenden Urteilsausfertigungen. Der Strafaufschub ergibt sich aus dem Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19.02.2021 (OZ 14).
Die Feststellungen zu seinem gegenwärtigen Wohnsitz und seinem Bezug der Grundversorgung ergeben sich aus dem aktuellen Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem. In Zusammenschau mit dem Auszug aus dem AJ-Web, der die bisher unterbliebene Eingliederung am Arbeitsmarkt dokumentiert, war die mangelnde Selbsterhaltungsfähigkeit festzustellen.
2.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abs. A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention, demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (VwGH 02.09.2015, Ra 2015/19/0143). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 06.10.1999, Zl. 99/01/0279).
Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass ein Asylwerber, der bemüht ist, in einem Land Aufnahme und Schutz zu finden, in der Regel bestrebt ist, alles diesem Wunsch Dienliche vorzubringen und zumindest die Kernfluchtgeschichte möglichst umfassend und gleichbleibend schildert, sodass der Behörde erkennbar ist, welchen massiven Bedrohungen er im Herkunftsland ausgesetzt ist. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt.
Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bereits bei seinen früheren Asylanträgen in Österreich, der Schweiz und Deutschland die Behörden durch die Angabe von Aliasidentitäten und unterschiedlicher Herkunftsstaates zu täuschen versuchte. Der Richtigkeit der Angaben des Asylwerbers über seine wahre Identität und seine tatsächliche Herkunft kommt grundsätzlich maßgebliche Bedeutung für die Frage zu, ob die vom Asylwerber angegebenen Verfolgungsgründe überhaupt zutreffen können. Entsprächen die Angaben des Asylwerbers über eine Bedrohungssituation in dem von ihm als seinen Herkunftsstaat bezeichneten Staat offensichtlich nicht den Tatsachen, weil seinem Vorbringen insbesondere wegen eines Täuschungsversuches über seine wahre Identität keinerlei Glaubwürdigkeit zukommt, so läge in Ermangelung eines "sonstigen Hinweises" auf eine asylrelevante Verfolgung ein offensichtlich unbegründeter Asylantrag im Sinne des § 6 Z 3 AsylG 1997 vor (VwGH 27.09.2001, Zl. 2001/20/0393).
Der Asylwerber determiniert mit der Bekanntgabe seiner Identität und seines Herkunftsstaates in seinem Antrag auf internationalen Schutz - im Zusammenhang mit dem geltend gemachten, individuellen Fluchtgrund - den Verfahrensgegenstand des Asylverfahrens, wobei es sich bei der Gewährung von Asyl bzw. von subsidiärem Schutz nicht um einen amtswegig zu erlassenden, sondern um einen antragsbedürftigen Verwaltungsakt handelt (VwGH 30.03.2006, Zl. 2003/20/0345). Stellt aber ein Asylwerber einen Antrag auf internationalen Schutz unter Verwendung einer falschen Identität, bedeutet das, dass er damit nicht die Verfolgung seiner eigenen, sondern einer anderen Person behauptet.
Der Beschwerdeführer hat Fluchtgründe in Bezug auf den Sudan und Kenia geltend gemacht, die keinen Bezug zu seinem Herkunftsstaat Nigeria aufweisen. Dieses Vorbringen ist nicht asylrelevant und bedarf daher keiner näheren Beurteilung.
Auch mit den Angaben, in Nigeria wüte die Boko Haram und man würde auch mitbekommen, wenn er in Österreich an Demonstrationen teilnehmen würde (Protokoll S. 9), macht er keine individuelle gegen ihn gerichtete Verfolgung in seinem Herkunftsstaat geltend. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes genügt es nicht, allgemeine Verfolgungssituationen zu behaupten, wie sie sich in allgemein zugänglichen Quellen finden. Das Vorbringen des Asylwerbers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit einer Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen (VwGH 21.12.2020, Ra 2020/14/0445, mwN). Aus dem Länderinformationsblatt ergeben sich mögliche Konflikte mit Boko Haram, inwiefern der Beschwerdeführer davon individuell betroffen (gewesen) wäre, legte er nicht dar, auch nicht, in welcher Verbindung er mit der „Biafra-Bewegung“ stünde.
Der Beschwerdeführer hat in Bezug auf den festgestellten Herkunftsstaat Nigeria keine Fluchtgründe geltend gemacht; es ist ihm nicht gelungen, eine aktuelle gegen ihn gerichtete Verfolgungsgefahr in Nigeria glaubhaft zu machen.
2.4. Zum Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsbericht der Staatendokumentation für Nigeria vom 23.11.2020 samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen. Dieser Länderinformationsbericht stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie bspw. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wissentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation gibt den Gesetzestext der nigerianischen Verfassung betreffend die Erlangung der Staatsbürgerschaft wieder.
Der Beschwerdeführer trat diesen Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsland nicht substantiiert entgegen. Er führte in der mündlichen Verhandlung lediglich an, dass sich die Lage in Nigeria gänzlich anderes darstelle, als im Länderinformationsbericht angegeben, weil Boko Haram in Nigeria wüte und er sofort dorthin fahren würde, wenn Biafra unabhängig wäre. Mit der bloßen, auf keine Beweismittel gestützten Behauptung, nicht Nigerianer zu sein, trat der Beschwerdeführer den Länderfeststellungen nicht entgegen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt A):
3.1. Zur Nichtgewährung von Asyl:
3.1.1. Rechtslage:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genüg