TE Bvwg Beschluss 2021/6/30 W251 2162101-3

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Veröffentlicht am 30.06.2021
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Entscheidungsdatum

30.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §32 Abs1 Z1
VwGVG §32 Abs2

Spruch


W251 2162101-3/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über den Antrag von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vom 04.03.2021 auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.01.2021, Zl. W251 2162101-2/26E, abgeschlossenen Asylverfahrens:

A)

Der Antrag wird abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

1. Die Antragstellerin, eine weibliche Staatsangehörige Somalias, stellte am 07.12.2014 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 02.07.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) den Antrag der Antragstellerin auf internationalen Schutz zur Gänze ab und erteilte der Antragstellerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen. Gegen die Antragstellerin wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Somalia zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.01.2021 wurde die Beschwerde hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten oder einer subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet abgewiesen. Mit dem Erkenntnis wurde die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia auf Dauer für unzulässig erklärt und der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

4. Die Antragstellerin stellte am 04.03.2021 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 32 VwGVG und sie legte in Kopie medizinische Bestätigungen vom 19.02.2021 über Behandlungen ihrer Mutter und Tochter in Äthiopien am 25.01.2021 bzw. 12.02.2021 vor. Die Antragstellerin führte begründenden aus, dass sie sich im Februar bei Ihrer Familie erkundigt habe, wie es der Familie in Äthiopien gehe und erfahren habe, dass ihre Mutter und ihre Tochter in einer medizinischen Einrichtung in Äthiopien behandelt worden seien. Die Familie lebe in Äthiopien in einem IDP Camp nahe Jiija und warte seit Ende 2017 in Äthiopien auf die Anerkennung als Flüchtlinge. Durch die vorgelegte Bestätigung könne die Antragstellerin – wie bereits im abgeschlossenen Verfahren von ihr vorgebracht – nunmehr beweisen, dass ihre gesamte Familie in Äthiopien lebe und nicht wie vom Gericht angenommen in Somalia in der Stadt Kismayo. Dies sei wesentlich da die Antragstellerin als alleinstehende Frau in Somalia schutzlos sei. Die Antragstellerin habe sohin bei einer Rückkehr keine familiäre Unterstützung und würde somit in eine existenzbedrohende und exzeptionelle Notlage geraten. Die Familie habe bis zum 19.02.2021 über keinerlei Unterlagen betreffend ihres Aufenthaltes in Äthiopien verfügt und habe erst durch die Bestätigung der medizinischen Behandlung ein Nachweis darüber ausgestellt werden können. Es treffe die Antragstellerin daher kein Verschulden, dieses Beweismittel nicht bereits im abgeschlossenen Verfahren vorgelegt zu haben.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Antragstellerin, eine weibliche Staatsangehörige Somalias, stellte am 07.12.2014 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Am selben Tag fand vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdiensts die niederschriftliche Erstbefragung der Antragstellerin statt. Am 12.04.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme der Antragstellerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt.

1.3. Der gänzliche abweisende Bescheid des Bundesamtes vom 26.05.2017 wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 28.06.2017 aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur neuerlichen Befragung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen.

1.4. Am 15.09.2017 wurde die Antragstellerin ein zweites Mal beim Bundesamt niederschriftlich einvernommen.

1.5. Mit Bescheid vom 02.07.2018 wies das Bundesamt den Antrag der Antragstellerin auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.) und erteilte der Antragstellerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigenden Gründen. Gegen die Antragstellerin wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

1.6. Die Antragstellerin erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde. Zu ihren Fluchtgründen brachte die Beschwerdeführerin im Asylverfahren im Wesentlichen vor, dass ihr erster Ehemann und Vater ihrer drei Kinder von Al Shabaab Leuten entführt worden sei und sie ihn seitdem nicht mehr gesehen habe. Ihr Vater sei nach Bosasso gegangen, um dort zu arbeiten und auch er sei verschwunden. Sie habe daraufhin die Familie versorgt und Al Shabaab Mitglieder hätten sie mit einem Mitglied der Gruppe verheiraten wollen. Zudem hätte die Al Shabaab ihr mit Vergewaltigung gedroht für den Fall, dass sie sich geweigert hätte.

Weiters beanstandete die Antragstellerin in der Beschwerde, dass das Bundesamt zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass ihre Schilderungen widersprüchlich und erfunden seien und ihr das Bundesamt auch völlig zu Unrecht vorwerfe, dass ihre Erzählung deckungsgleich mit der einer anderen Asylwerberin sei. Zudem sei die Antragstellerin als alleinstehende Frau, die aus dem Westen zurückkehre einer weiteren Gefahr ausgesetzt. Ihr drohe aufgrund der Hungerlage und der schlechten Chancen am Arbeitsmarkt ein Eingriff in Art. 2 und 3 EMRK. In Kismayo würden derzeit Kämpfe zwischen der Al Shabaab, dem Staat und diversen Warlords stattfinden.

1.7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 04.06.2019 und am 18.06.2020 eine mündliche Verhandlung durch.

Zum Zeitpunkt der Verhandlung hatte die Antragstellerin regelmäßig Kontakt zu ihren Familienmitgliedern.

1.8. Das Bundesverwaltungsgericht wies mit Erkenntnis vom 08.01.2021 die Beschwerde der Antragstellerin (dort als Beschwerdeführerin bezeichnet) hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten sowie einer subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde die Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia auf Dauer für unzulässig erklärt, der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt sowie Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.

1.9. Das Bundesverwaltungsgericht traf unter anderem nachstehende Feststellungen (Erkenntnis vom 08.01.2021, S.6, S 7, S 8 – 11)

„Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Sie ist somalische Staatsangehörige, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und spricht Somali als Muttersprache.

Die Beschwerdeführerin wurde im Distrikt XXXX geboren, da ihre Mutter ebenfalls aus XXXX stammt und in ihrer Schwangerschaft zu ihren Eltern zurückgegangen ist. Die Beschwerdeführerin ist in Lower Juba in einer Siedlung neben der Stadt Kismayo aufgewachsen, in der sie gelebt hat, bis sie mit 14 Jahren geheiratet hat. Die Familie hatte Kühe und Schafe. Sie verkaufte Milch und hatte einen eigenen Esel zum Milchtransport. Die Familie konnte ein gutes Leben führen. Die Beschwerdeführerin hat die Tiere gehütet und wurde vier Jahre von einem Koranlehrer unterrichtet. Sie hat keinen Beruf erlernt. Bis zu ihrer Heirat wurde die Beschwerdeführerin von ihrer Familie versorgt (AS 3; AS 95; AS 751; AS 755; Protokoll vom 04.06.2019 = VP I S. 11).

[…]

Die Mutter, der Vater, die Geschwister (Anmerkung BVwG: fünf Geschwister) und die drei Töchter der Beschwerdeführerin leben alle in Kismayo in Somalia. Eine Tante arbeitete als Gemüseverkäuferin und half mit, die Familie zu versorgen. Die Tante lebte in XXXX , 15 km von Kismayo entfernt (AS 97, VP II S. 12). Seit Mai 2019 lebt eine Tante in Kanada (VP II S. 12). Eine Tante väterlicherseits der Beschwerdeführerin ist verstorben (VP II S. 6). Die Beschwerdeführerin steht in Kontakt zu ihren Familienmitgliedern (VP II S. 7).

[…]

Die Beschwerdeführerin ist keine Angehörige des Clans der Tumal (AS 1, AS 97, VP II S. 6) oder eines anderen Minderheitenclans. Die Beschwerdeführerin ist Angehörige eines Mehrheitsclans. Es kann nicht festgestellt werden, welchem Mehrheitsclan die Beschwerdeführerin tatsächlich angehört. Die Beschwerdeführerin kann von ihrem Clan unterstützt werden.

[…]

Die Beschwerdeführerin leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, sie ist gesund und arbeitsfähig.

[…]

Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:

Das von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführte Fluchtvorbringen konnte nicht festgestellt werden.

Der erste Mann der Beschwerdeführerin wurde nicht von der Al Shabaab bedroht, körperlich misshandelt und entführt. Er hatte keine Probleme mit der Al Shabaab aufgrund einer Tätigkeit als Automechaniker und der Reparatur eines Regierungsautos gegeben. Weder er noch die Familie der Beschwerdeführerin wurden jemals von der Al Shabaab bedroht.

Die Beschwerdeführerin wurde nicht von der Al Shabaab entführt. Sie wurde von dieser nicht bedroht, angegriffen, entführt oder gefangen gehalten. Ihr wurde auch nicht mit Zwangsverheiratung und Vergewaltigung durch die Al Shabaab gedroht. Die Beschwerdeführerin hatte keine Probleme mit der Al Shabaab aufgrund der Tätigkeit ihres Mannes. Sie hatte auch keine sonstigen Probleme mit der Al Shabaab und wird von dieser nicht bedroht oder verfolgt.

Der Vater der Beschwerdeführerin wurde nicht von Al Shabaab Männern ermordet. Der Vater der Beschwerdeführerin hatte keine Probleme mit der Al Shabaab aufgrund der beruflichen Tätigkeit seines Schwiegersohnes. Der Vater der Beschwerdeführerin ist nicht bei einem Anschlag der Al Shabaab auf einen Autobus ums Leben gekommen. Der Vater der Beschwerdeführerin hat auch keine sonstigen Probleme mit der Al Shabaab und wird von dieser nicht bedroht bzw. verfolgt. Der Vater der Beschwerdeführerin lebt weiterhin in Kismayo.

Die Mutter, fünf Geschwister und drei Töchter der Beschwerdeführerin mussten nicht aufgrund von Problemen des Mannes der Beschwerdeführerin mit der Al Shabaab das Land verlassen. Ihre Familie hat auch keine sonstigen Probleme mit der Al Shabaab und wird von dieser nicht bedroht bzw. verfolgt. Ihre Familie lebt weiterhin in Kismayo.

Die Beschwerdeführerin ist in Somalia allein aufgrund ihres Geschlechts keinen psychischen oder physischen Eingriffen in die körperliche Integrität oder Lebensgefahr ausgesetzt.

Die Beschwerdeführerin verfügt in Somalia über Familienangehörige, sodass sie über ein soziales und familiäres Netzwerk verfügt. Die Beschwerdeführerin müsste bei einer Rückkehr nach Somalia nicht in ein IDP-Lager gehen, sondern kann bei ihrem Clan und ihrer Familie Schutz, Unterkunft und Verpflegung

Der Beschwerdeführerin droht keine sexuelle Ausbeutung durch die Al Shabaab.

Die Beschwerdeführerin wurde in Somalia kein Opfer häuslicher Gewalt durch Mitglieder ihrer Familie.

Bei der Beschwerdeführerin ist kein auf Eigenständigkeit bedachter Lebensstil zu erkennen, der bei einer Rückkehr nach Somalia einen nachhaltigen und wesentlichen Bruch mit den dortigen Gegebenheiten und Sitten darstellen würde. Der Beschwerdeführerin droht aufgrund ihres in Österreich ausgeübten Lebensstils in Somalia weder Lebensgefahr noch psychische oder physische Gewalt.

Der Beschwerdeführerin ist es möglich, sich wieder in das somalische Gesellschaftssystem zu integrieren.

Der Beschwerdeführerin droht in Somalia kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit aufgrund einer Genitalverstümmelung oder einer Reinfibulation (Wiederverschließung).

Die Beschwerdeführerin hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit noch wegen Lebensgefahr verlassen.

Im Falle einer Rückkehr nach Somalia droht der Beschwerdeführerin weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Angehörige der Al Shabaab noch durch andere Personen.

Die Beschwerdeführerin hatte in Somalia selber keine konkret und individuell gegen sie gerichtete Probleme aufgrund ihrer Clanzugehörigkeit

Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in den Herkunftsstaat:

Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr in die Stadt Kismayo kein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit.

Die Beschwerdeführerin kann in Kismayo grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführerin ist mit den Gepflogenheiten in Somalia vertraut und spricht Somali als Muttersprache. Sie kann lesen und schreiben. Sie ist jung, arbeitsfähig und selbsterhaltungsfähig. Sie verfügt über ein familiäres Netzwerk in Kismayo. Sie kann zumindest anfänglich von ihren Familienangehörigen in Somalia, insbesondere von ihren Eltern, ihren Geschwistern und ihrem Großonkel, unterstützt werden und dann selber für ihr Auskommen und Fortkommen sorgen. Sie kann wieder bei ihrer Familie in Somalia wohnen. Sie kann zudem auch auf die Unterstützung ihres Clans zurückgreifen und auf Rückkehrunterstützung zurückgreifen.

Es ist der Beschwerdeführerin möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Somalia in Kismayo wieder Fuß zu fassen und dort ihr Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.10. Die Antragstellerin stellt am 04.03.2021 einen Antrag auf Wiederaufnahme des mit Erkenntnis vom 08.01.2021 abgeschlossenen Verfahrens zur GZ W251 2162101-2.

Die Antragstellerin legte mit dem Antrag zwei Behandlungsbestätigungen vor, die mit 19.02.2021 datiert sind. Den vorgelegten Behandlungsbestätigungen ist zu entnehmen, dass die Mutter der Beschwerdeführerin am 25.01.2021 sowie eine Tochter der Beschwerdeführerin am 12.02.2021 in einem Gesundheitszentrum in Kebribayah, Äthiopien, behandelt wurden.

2. Beweiswürdigung:

Beweise wurden erhoben durch die Einsichtnahme in den Verwaltungs- und Gerichtsakt (W251 2162101-1, W251 2162101-2, W251 2162101-3) sowie durch die Einsicht in die vorgelegten Behandlungsbestätigungen vom 19.02.2021.

Dass die Antragstellerin während des gesamten Verfahrens und insbesondere zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 18.06.2020 regelmäßig Kontakt zu ihrer Familie hatte, ergibt sich aus ihren eigenen Aussagen (Verhandlungsprotokoll vom 18.06.2020, S. 7).

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Wiederaufnahmeantrag

3.1.1. Gemäß § 32 Abs 1 Z 2 VwGVG ist einem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichts abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.

Gemäß § 17 VwGVG ist der IV. Teil des AVG, und somit die Bestimmung über die Wiederaufnahme gemäß § 69 AVG, nicht auf Verfahren vor den Verwaltungsgerichten anwendbar. Die Wiederaufnahmegründe des § 32 Abs. 1 VwGVG sind jedoch denjenigen des § 69 Abs. 1 AVG nachgebildet. Es kann daher auf das bisherige Verständnis zu diesen Wiederaufnahmegründe zurückgegriffen werden (VwGH vom 31.08.2015, Ro 2015/11/0012). Die zu § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ergangene Judikatur zur Wiederaufnahme ist auf den nahezu wortgleichen § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG übertragbar (VwGH vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0120).

Da es im Verfahren über einen Wiederaufnahmeantrag um eine Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtskraft geht, sind die Prozessvoraussetzungen streng zu prüfen (VwGH vom 24.09.2014, 2012/03/0165).

neue Tatsachen und neue Beweismittel

Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nach 32 VwGVG setzt voraus, dass neue Tatsachen oder Beweise hervorgekommen sind, die im Zeitpunkt der Entscheidung bereits bestanden haben, aber nicht bekannt waren und im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht „geltend gemacht“ werden konnten. Es muss sich um Tatsachen oder Beweise handeln, die bei Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens schon vorhanden waren, aber erst danach hervorgekommen sind (vgl Hengstschläger/Leeb6 Rz 583; Kolonovits/Muzak/Stöger11 Rz 597)

Bei Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung eingetreten sind, ist kein Antrag auf Wiederaufnahme, sondern ein neuer Antrag zu stellen, weil in diesem Fall einem auf der Basis des geänderten Sachverhaltes gestellten Antrag die Rechtskraft bereits erlassener Bescheide nicht entgegensteht (VwGH vom 08.08.2017, Ra 2017/19/0120).

Tatsachen sind Geschehnisse im Seinsbereich, auch wenn es sich um "innere Vorgänge" handelt (VwGH vom 15.12.1994, 93/09/0434). Es muss sich um mit dem Sachverhalt des abgeschlossenen Verfahrens zusammenhängende tatsächliche Umstände, wie etwa Zustände, Vorgänge, Beziehungen oder Eigenschaften handeln, deren Berücksichtigung voraussichtlich zu einem anderen als dem vom rechtskräftigen Bescheid zum Ausdruck gebrachten Ergebnis geführt hätte (vgl. VwGH 26. 4. 1994, 91/14/0129; 23. 4. 1998, 95/15/0108).

Bereits im wiederaufzunehmenden Verfahren geltend gemachte Tatsachen können keinesfalls einen Wiederaufnahmegrund iSd § 32 VwGVG begründen. Dies gilt auch für Vorbringen, die im Wesentlichen nur eine Wiederholung von bereits während des ersten Verwaltungsverfahrens vorgebrachten Umständen oder eine Bekämpfung der von der Behörde vorgenommenen Beweiswürdigung enthalten (VwGH vom 29.05.2008, 2007/07/0040; VwGH vom 24.02.2011, 2010/09/0198).

Mit „Beweismittel“ iSd §32 VwGVG sind Mittel zur Herbeiführung eines Urteils über Tatsachen gemeint. Grundsätzlich gilt für Beweismittel das Gleiche wie für Tatsachen, nämlich, dass sie nur dann einen Wiederaufnahmegrund darstellen, wenn sie schon bei Abschluss des vorangegangenen Verfahrens bestanden haben, aber nicht bekannt waren und daher – ohne Verschulden der Partei – nicht geltend gemacht werden konnten. Sind sie nach Abschluss des Verfahrens (neu) entstanden, erfüllen sie die Voraussetzungen des Wiederaufnahmegrundes nicht (vgl. VwGH 24. 4. 1986, 86/02/0048).

Nach Abschluss des Verfahrens entstandene Urkunden sind keine neu hervorgekommenen Beweismittel. Zudem müssen sich neu entstandene Beweismittel, wie nachträgliche Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten, auf „alte Tatsachen“ – dh. nicht ebenfalls erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene Tatsachen – beziehen (vgl VwGH 2. 6. 1982, 81/03/0151; 5. 10. 1988, 88/18/0236; 19. 4. 2007, 2004/09/0159).

Relevanz:

Nach der ausdrücklichen Anordnung in § 32 Abs 1 Z 2 VwGVG stellen neu hervorgekommene Tatsachen oder Beweise nur dann einen Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens dar, wenn sie allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich eine im Hauptinhalt des Spruches anders lautende Entscheidung herbeigeführt hätten. Es muss sich also um neu hervorgekommene Tatsachen oder Beweismittel handeln, die den Sachverhalt betreffen und die, wenn sie schon im wiederaufzunehmenden Verfahren berücksichtigt worden wären, zu einer anderen Feststellung des Sachverhalts und voraussichtlich zu einer im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Entscheidung geführt hätten (VwGH vom 18.01.2017, Ra 2016/18/0197; VwGH vom 24.09.2014, 2012/03/0165).

ohne Verschulden der Partei

Es ist Sache des Wiederaufnahmewerbers darzutun, dass die von ihm behaupteten neuen Tatsachen oder Beweismittel im Verwaltungsverfahren ohne sein Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten (VwGH vom 24.06.20152012/10/0243).

3.1.2. Die Antragstellerin brachte in ihrem Antrag auf Wiederaufnahme vor, dass sie durch die nun vorliegenden medizinischen Unterlagen aus Äthiopien vom 19.02.2021 betreffend medizinische Behandlungen ihre Mutter und einer ihrer Töchter am 25.01.2021 bzw. am 12.02.2021 nunmehr beweisen könne – wie bereits im abgeschlossenen Verfahren von ihr vorgebracht –, dass ihre gesamte Familie in Äthiopien lebe und nicht wie vom Gericht angenommen in Somalia in der Stadt Kismayo.

Unter Berücksichtigung der zitierten maßgeblichen Judikatur bedeutet dies für den gegenständlichen Wiederaufnahmeantrag folgendes:

3.1.2.1. Die Antragstellerin stützt sich ausschließlich auf das Hervorkommen von neuen Beweismitteln, ein neuer Sachverhalt wird jedoch tatsächlich nicht geltend gemacht.

Nach Abschluss des Verfahrens entstandene Urkunden sind jedoch keine neu hervorgekommenen Beweismittel. Das Verfahren wurde mit Erkenntnis vom 08.01.2021 abgeschlossen. Die mit 19.02.2021 datierten Urkunden sind sohin nach Abschluss des Verfahrens entstanden, sodass ihnen jedenfalls die Eignung fehlt ein neu hervorgekommenes Beweismittel im Sinn das § 32 VwGVG darzustellen.

Zudem müssen sich neu entstandene Beweismittel, wie nachträgliche Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten, auf „alte Tatsachen“ – dh. nicht ebenfalls erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene Tatsachen – beziehen. Da sich die Urkunden auf Untersuchungen am 25.01.2021 bzw. am 12.02.2021 beziehen, sohin auf Untersuchungen die erst nach Abschluss des Verfahren entstanden sind, sind diese auch aus diesem Grund nicht geeignet neue Beweismittel im Sinn das § 32 VwGVG darzustellen.

Es liegen daher keine neuen Beweismittel im Sinn des § 32 VwGVG vor, die eine Wiederaufnahme des abgeschlossenen Verfahrens und somit eine Durchbrechung der Rechtskraft rechtfertigen würden.

3.1.2.2. Zudem ist es der Antragstellerin nicht gelungen darzulegen, dass sie kein Verschulden an der Vorlage von Beweismittel nach Abschluss des Verfahrens trifft, die einen Aufenthalt der gesamten Familie der Antragstellerin in Äthiopien und ihrer Situation als alleinstehenden Frau in Somalia glaubhaft machen können.

Die Antragstellerin brachte im Wiederaufnahmeantrag vor, dass ihre Familie seit Ende 2017 in Äthiopien leben würde (siehe S. 2 des Wiederaufnahmeantrages). Das Erkenntnis erging am 08.01.2021 und wurde am 12.01.2021 zugestellt. Diese Ausführungen der Antragstellerin würden bedeuten, dass sich die Mutter sowie eine Tochter der Antragstellerin seit über drei Jahren in Äthiopien aufhalten würden.

Es ist nicht plausibel, dass es der Antragstellerin bei einem Aufenthalt von mehreren Familienmitgliedern über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren in Äthiopien nicht gelingen sollte eine Bestätigung bzw. einen sonstigen Beweis im Asylverfahren vorzulegen, der eine Ausreise der gesamten Familie aus Somalia sowie eine Ansiedlung in Äthiopien bescheinigen könne. Soziale Medien sowie schriftliche Bestätigungen oder Fotos schaffen die Möglichkeit derartige Umstände währen eines Asylverfahrens glaubhaft zu machen, zumal die Antragstellerin während des Asylverfahrens auch Kontakt zu ihrer Familie hatte. Dass die Beschwerdeführerin binnen drei Jahren nicht die Möglichkeit gehabt hätte sich der Vorlage derartiger Beweise zu bedienen, wurde von dieser im Wiederaufnahmeantrag auch nicht substantiiert behauptet.

Die Beschwerdeführerin konnte daher nicht darlegen, dass Beweismittel – die eine Flucht aus Somalia und eine dauerhafte Ansiedlung in Äthiopien ihrer gesamten Familie – im Verwaltungsverfahren ohne ihr Verschulden nicht geltend gemacht werden konnten.

Es liegt daher auch diese Voraussetzung für den Wideraufnahmeantrag nicht vor, sodass diesem Antrag auch aus diesem Grund nicht zu folgen war.

3.1.2.3. Es mangelt dem Wiedereinsetzungsantrag und den vorgelegten Beweismitteln zudem an der erforderlichen Relevanz.

Den Beweismitteln ist tatsächlich nur zu entnehmen, dass eine Tochter und die Mutter der Antragstellerin sich am 25.01.2021 bzw. am 12.02.2021 in einem medizinischen Zentrum in Äthiopien aufgehalten haben. Es ist den vorgelegten Bestätigungen jedoch nicht zu entnehmen, dass die gesamte Familie der Beschwerdeführerin dauerhaft in Äthiopien leben würde und dauerhaft aus Somalia ausgereist wären. Dem Länderinformationsblatt zu Somalia vom 17.09.2019 (S 133) ist zu entnehmen, dass sich Somalier (auch temporär) nach Äthiopien begeben, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen. Die vorgelegten Bestätigungen sind daher nicht einmal abstrakt geeignet eine dauerhafte Ausreise der gesamten Familie der Antragstellerin aus der Stadt Kismayo und somit aus Somalia zu bescheinigen.

Zudem ist die Bestätigung mit 19.02.2021 datiert und nimmt Bezug auf Untersuchungen der Mutter und einer Tochter der Antragstellerin vom 25.01.2021 bzw. vom 12.02.2021. Da das Erkenntnis vom 08.01.2021 stammt und am 12.01.2021 zugestellt wurde, beziehen sich diese auf einen Zeitraum nach Abschluss des Verfahrens. Diese nehmen keinen Bezug auf Vorgänge oder Ereignisse vor Abschluss des allenfalls wiederaufzunehmenden Verfahrens. Die von der Antragstellerin vorgelegten Bestätigungen sind daher abstrakt nicht geeignet einen Aufenthalt der Mutter und einer Tochter der Antragstellerin in Äthiopien vor Abschluss des Verfahrens zu bescheinigen.

Zudem wurde im Erkenntnis vom 08.01.2020 festgestellt, dass die Beschwerdeführerin über ihre Mutter, ihren Vater, ihre Tante, ihre drei Kinder, sowie ihre fünf Geschwister in Somalia verfügt. Es ist den vorgelegten Bestätigungen – die sich ausschließlich auf die Mutter und nur eine Tochter beziehen – nicht zu entnehmen, dass sich sämtliche Familienmitglieder dauerhaft in Äthiopien befinden würden. Die vorgelegten Beweismittel sind daher abstrakt nicht geeignet darzulegen, dass auch der Vater, die fünf Geschwister sowie die Tante der Beschwerdeführerin die Stadt Kismayo verlassen hätten. Die vorgelegten Bestätigungen sind daher auch abstrakt nicht geeignet ein anderslautendes Erkenntnis herbeizuführen.

Zudem ist die Antragstellerin anpassungsfähig, jung, erwerbsfähig und mit den somalischen Gepflogenheiten und der somalischen Sprache vertraut. Ihr ist die Stadt Kismayo bekannt. Die Beschwerdeführerin ist zudem Angehörige eines Mehrheitsclans, sodass sie auch von diesem in der Stadt Kismayo Schutz und Verpflegung erhalten kann. Auch unter diesem Aspekt sind die vorgelegten Beweismittel abstrakt nicht geeignet ein anderslautendes Erkenntnis herbeizuführen.

Dem Wiederaufnahmeantrag kommt daher auch aus diesen Überlegungen keine Berechtigung zu.

3.1.3. Der Antrag auf Wiederaufnahme war aus den oben genannten Gründen als unbegründet abzuweisen.

3.2. Unterbleiben der mündlichen Verhandlung

Da der Sachverhalt aus der Aktenlage geklärt ist und es sich bei der Einordnung, ob die Eignung eines vorgebrachten Wiederaufnahmegrundes vorliegt, um eine Rechtsfrage handelt (VwGH 19.04.2007, 2004/09/0159), konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm. § 24 VwGVG die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben (VwGH 28.05.2014, Ra 2014/220/0017).

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

mangelnder Anknüpfungspunkt Rechtskraftwirkung Voraussetzungen Wiederaufnahmeantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W251.2162101.3.00

Im RIS seit

15.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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