TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/30 I419 2214108-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.06.2021
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Entscheidungsdatum

30.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1

Spruch


I419 2214108-1/46E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde des XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX alias XXXX alias XXXX , StA. NIGERIA, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 07.01.2019, Zl. 18- XXXX , zu Recht:

A) 1. Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt III des bekämpften Bescheids lautet: „Eine ‚Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ gemäß § 57 AsylG 2005 wird Ihnen nicht erteilt.“

2. Der Antrag des BFA, ein Einreiseverbot zu verhängen, wird zurückgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer reiste 2018 illegal ein und beantragte internationalen Schutz.

2. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag betreffend die Status des Asyl- und des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I und II), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“ (Spruchpunkt III), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt V), wobei die Frist für seine freiwillige Ausreise „Tage“ ab Rechtskraft betrage (Spruchpunkt VI, der Begründung nach: 14 Tage).

3. Beschwerdehalber wird vorgebracht, der Beschwerdeführer, der bei seiner Einvernahme minderjährig gewesen sei, habe den einzig relevanten Fluchtgrund in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Gegebenheiten, was Kulte im Herkunftsstaat beträfe, geschildert. Neben einem in Österreich vorhandenen Familien- habe er auch ein schützenswertes Privatleben etabliert. Außer zur Mutter habe er zu niemandem im Herkunftsstaat, den er im Jugendalter verlassen habe müssen, Kontakt und dort auch keine Berufserfahrung sammeln können. Deswegen drohe ihm nach einer Rückkehr eine ausweglose Lage.

4. Mittels Mandatsbescheids vom 03.11.2020, der unbekämpft blieb, wiederrief das BFA die mit Spruchpunkt VI des angefochtenen Bescheids eingeräumte Frist für die freiwillige Ausreise.

5. Am 22.04.2021 beantragte das BFA, das BVwG möge nicht nur die Beschwerde abweisen, sondern ferner ein Einreiseverbot von acht Jahren wider den Beschwerdeführer erlassen, da dies nunmehr geboten sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der unter Punkt I beschriebene Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Nigerias, volljährig, arbeitsfähig, ledig und Christ. Seine Identität steht nicht fest. Er ist haftfähig und leidet an keiner schweren Krankheit. Gegen eine Entzündung der Magenschleimhaut (Gastritis) und eine durch Magensaftrückfluss verursachte Entzündung des unteren Teils der Speiseröhre (Refluxösophagitis), die 2019 kurz nach Einbringung der Beschwerde diagnostiziert wurden, empfahl man ihm damals Medikamente, die er 14 Tage lang nehmen sollte.

Er gehört der Volksgruppe der Edo an, spricht Esan und Englisch, nicht aber Deutsch. Seine Identität steht nicht fest. In Nigeria besuchte er sieben Jahre lang die Schule, einen Beruf erlernte er seinen Angaben nach nicht. Er stammt aus Edo State, wo er bis zur Ausreise in der Stadt Uromi lebte. Dort betreibt seine Mutter eine Geflügelfarm. Mit seiner Schwester, ca. 14, lebt sie in einem Haus, das ihnen sein verstorbener Vater hinterlassen hat. Zuletzt hat er angegeben, kürzlich erfahren zu haben, dass diese Eltern ihn adoptiert hätten und seine leiblichen Eltern verstorben wären. Ortskenntnisse hat er auch bei Aufenthalten in der Hauptstadt von Edo State, Benin City, diese betreffend erworben.

Im Herkunftsstaat leben ferner seine Tante und seine Großmutter, mit denen er sporadisch Kontakt hat. Mit den Eltern hat er nach eigenen Angaben seit Kurzem keinen Kontakt mehr.

Anfang 2016 verließ er den Herkunftsstaat und lebte ab Sommer 2016 in Italien, wo er internationalen Schutz beantragt hatte. Dort verwendete er Aliasdaten mit den Geburtsjahren 1999 und 2000 und erhielt eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen, die bis Februar 2019 gültig war. Seinen Angaben nach verlor er seine Unterkunft, nachdem der Antrag abgewiesen worden war. Er begab sich nach Österreich, wo er Mitte Jänner 2018 ankam.

Ende Februar 2018 wurde ihm nach einer ersten Unterkunft in Niederösterreich eine solche für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Westen Österreichs zugewiesen. Bereits am 10.04.2018 wurde er dort mit einem Landsmann beim Konsum von Cannabis angetroffen. Dazu gab er an, das Cannabis nicht zu kaufen, sondern in der Landeshauptstadt am Bahnhof oder in einem Park zu finden. Am 03.09.2018 hat ihn auch die Polizei in Wien, wo er sich unangemeldet aufhielt, wegen des Verdachts des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften angezeigt, acht Tage später hat ihn jene in Innsbruck mit Cannabis in einem Park angetroffen. Im selben Park wurde er am 05.11.2018 mit einem Landsmann beim Cannabiskonsum angetroffen. Er hat zugegeben, auch im Oktober 2018 Cannabis geraucht zu haben.

Insgesamt wurde der Beschwerdeführer von April bis November 2018 siebenmal wegen des Verdachts eines Vergehens nach dem SMG angezeigt. Neuerlich beim Cannabis-Konsum angetroffen wurde er am 06.12.2018.

Am 23.10.2019 hat ihn die Polizei in Tirol erneut beim Konsum von Cannabis angetroffen und weiteres Cannabis bei ihm gefunden. Einen Monat später wurde er in der Steiermark in einem Reisezug ohne einen zur Fahrtstrecke passenden Fahrschein angetroffen, worauf er im Laufe der Auseinandersetzung den Schaffner angriff. Spätestens Mitte 2020 verließ er neuerlich seine Unterkunft und begab sich nach Wien, wo er wieder unangemeldet lebte.

Das LGS Wien hat ihn am 28.01.2021 zu 6 Monaten bedingt nachgesehener Freiheitsstrafe wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften durch Überlassen und öffentliches Überlassen in versuchter und vollendeter Form verurteilt, weil er am 13.10.2020 in einer S-Bahn-Station 29 Säckchen mit Kokain - 5,4 g - zum Verkauf bereit mit sich führte, am 28.10.2020 in dieser Station einem Abnehmer zwei Säckchen Kokain verkaufte sowie 18 weitere mit Kokain und zwei Säckchen mit Heroin zum Verkauf bereit mit sich führte, von Ende September bis 29.10.2020 auf der Straße nahe einer U-Bahn-Station einer Abnehmerin in zumindest 10 Taten zusammen rund 7 g Heroin verkaufte, von Juli bis Oktober 2020 einem Abnehmer in rund 10 Taten zehn Kugeln Kokain und zehn Kugeln Heroin, einem weiteren von Mitte Oktober bis 02.11.2020 bei vier Taten zusammen acht Kugeln Kokain, sowie mit einem Landsmann in einer weiteren S-Bahn-Station im Oktober 2020 bei zumindest zwei Taten nicht mehr feststellbare Mengen an Heroin und Kokain verkaufte.

Das LGS ging dabei von einer Jugendstraftat aus und wertete den bisher ordentlichen Lebenswandel, das umfassende Geständnis, den teilweisen Versuch und die Sicherstellung des Suchtgifts als mildernd, erschwerend dagegen die mehrfachen Angriffe.

Im Mai 2019 wurde wider ihn Anklage wegen des Vorwurfs der Unterschlagung erhoben, weil er im Februar 2019 ein in der S-Bahn liegen gebliebenes Mobiltelefon an sich genommen und behalten hatte. Eine Diversion scheiterte. Das Verfahren wurde 2021 nach der eben genannten Verurteilung eingestellt, ebenso ein weiteres, wegen des Vorwurfs der versuchten Nötigung in zwei Fällen, begangen am 11.11. und 11.12.2020.

Von 02.11.2020 bis 28.01.2021 befand sich der Beschwerdeführer in Haft. Die Untersuchungshaft wurde am 04.11.2020 verhängt. Nach seiner Entlassung tauchte der Beschwerdeführer unter, wies von 09. bis 11.02. eine Obdachlosenmeldung auf und ist seit 12.03.2021 allein in einer ambulant betreuten Wohnung gemeldet, in der er mit niemandem einen gemeinsamen Haushalt führt. In Österreich verfügt er über keine familiären Anknüpfungspunkte. Nach eigenen Angaben hat er seit einem Jahr eine „gute Freundin“, mit der er viel unternehme, sowie Freunde, mit denen er manchmal im Park spazieren gehe. Seine Freunde sind teils österreichischer Herkunft, teils nicht, und wohnen mehrheitlich nicht in seinem Bundesland, sondern in Wien.

Wegen Schmerzen aufgrund Gastritis und Refluxösophagitis war er seinen Angaben nach im März 2021 beim Arzt und hat einen Termin für eine Magenspiegelung im Juli. Befunde oder andere Unterlagen hat er dafür nicht vorgelegt.

Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, hat weder eine Lehrstelle noch außer in der Haft sonst gearbeitet, besucht keinen Kurs und geht in keine Schule. Er ist arbeitsfähig und war in der Justizhaft als Hausarbeiter beschäftigt. Die Schulbestätigung der Polytechnischen Schule von 05.03.2018 stammt vom ersten Schultag, nach eigenen Angaben hat der Beschwerdeführer sie „eine Zeitlang“ besucht. Ein Zeugnis legte er nicht vor.

1.2 Zur Lage im Herkunftsstaat:

Im angefochtenen Bescheid wurde das „Länderinformationsblatt der Staatendokumentation“ zu Nigeria mit Stand 07.08.2017 zitiert. Aktuell liegt ein solches mit Stand 23.11.2020 vor, das in der vorliegenden Rechtssache keine Änderung der entscheidenden Sachverhaltselemente beinhaltet. Auch sonst im Beschwerdeverfahren sind keine solchen entscheidenden Änderungen bekannt geworden.

Aus Berichten des Auswärtigen Amts (Deutschland) und Gesundheitsstatistiken ergibt sich betreffend die Pandemie in Nigeria:

„Nigeria ist von COVID-19 im internationalen Vergleich weniger betroffen. Schwerpunkte sind Lagos und die Hauptstadtregion Abuja (Federal Capital Territory). […]

Die Flughäfen Abuja, Lagos, Enugu, Kano und Port Harcourt sind für den regulären internationalen Flugverkehr geöffnet. [...]

Die Bundesstaaten können auf Grundlage von Empfehlungen der nigerianischen Bundesregierung über das Ausmaß COVID-bezogener Beschränkungen selbständig entscheiden. Einzelne Bundesstaaten haben Bewegungsbeschränkungen und Auflagen innerhalb der Bundesgrenzen verhängt. Im Hauptstadtbezirk Federal Capital Territory sowie in Lagos gilt eine nächtliche Ausgangssperre von 0 bis 4 Uhr. Beschäftigte in systemrelevanten Sektoren und aus dem Ausland nachts Einreisende sind von der nächtlichen Ausgangssperre ausgenommen Geschäfte, Banken, Märkte, Hotels und Unternehmen sind unter Einhaltung von strengen Hygienemaßnahmen geöffnet, in manchen Bundesstaaten dürfen Restaurants nur im Außenbereich bewirten. Bars und Nachtclubs sind geschlossen. Menschenansammlungen mit mehr als 50 Personen bleiben grundsätzlich untersagt. Einzelne Bundesstaaten können religiöse Versammlungen von mehr als 50 Personen unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen zulassen. [...]

Im öffentlichen Raum gilt die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Die Behörden können die Einhaltung der Maskenpflicht und von Bewegungsbeschränkungen jederzeit überprüfen, Verstöße sanktionieren und Temperaturmessungen an öffentlichen Orten durchführen.

Andererseits zeigt das Verhältnis der Zahl Infizierter (ohne Verstorbene und Geheilte), 1.429 per 28.06.2021, davon 0 in Edo State, zur Zahl der ca. 200 Mio. Einwohner (7,1 pro Million) keine gravierende Zahl dieser Infizierten, die Quote in Österreich beträgt derzeit 228 pro Million. Auch bei Berücksichtigung der Testanzahl im Verhältnis zur Bevölkerung, die in Österreich 123-mal so hoch ist, ergibt eine Hochrechnung einen Wert pro Million (878), der in Österreich im vorigen Monat vorlag und im Vorjahr auch schon etwa zehnmal so hoch war.

Daraus folgt nicht, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr zwangsläufig in eine ausweglose Situation geriete.

Im gegebenen Zusammenhang sind mangels sonstiger Bezüge zum Vorbringen die folgenden Informationen von Relevanz und werden festgestellt:

1.2.1 Sicherheitslage

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA 16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insurgenz. Im „Middlebelt“ kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).

Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).

Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).

In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).

In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).

Nigerdelta

Im Nigerdelta, dem Hauptgebiet der Erdölförderung, bestehen zahlreiche bewaffnete Gruppierungen, die sich neben Anschlägen auf Öl- und Gaspipelines auch auf Piraterie im Golf von Guinea und Entführungen mit Lösegelderpressung spezialisiert haben (ÖB 10.2019).

Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Ölinfrastruktur) durchzusetzen. 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar'Adua mit einem Amnestieangebot eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Es kam zur Wiederaufnahme der Attacken gegen die Ölinfrastruktur (AA 16.1.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020). Im Herbst 2016 konnte mit den bewaffneten Gruppen ein neuer Waffenstillstand vereinbart werden, der bislang großteils eingehalten wird (ÖB 10.2019). Das Amnestieprogramm ist bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen (AA 16.1.2020).

Die Lage bleibt aber sehr fragil, da weiterhin kaum nachhaltige Verbesserung für die Bevölkerung erkennbar ist (AA 16.1.2020). Angriffe auf Erdöleinrichtungen stellen weiterhin eine Bedrohung für die Stabilität und die Erdölproduktion dar (ACCORD 17.4.2020). Der Konflikt betrifft die Staaten des Nigerdeltas, darunter Abia, Akwa, Ibom, Bayelsa, Cross River, Delta, Edo, Imo, Ondo und Rivers (EASO 2.2019).

Das Militär hat auch die Federführung bei der zivilen Bürgerwehr Civilian Joint Task Force inne, die u.a. gegen militante Gruppierungen im Nigerdelta eingesetzt wird. Auch wenn sie stellenweise recht effektiv vorgeht, begeht diese Gruppe häufig selbst Menschenrechtsverletzungen oder denunziert willkürlich persönliche Feinde bei den Sicherheitsorganen (AA 16.1.2020).

Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelte es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Partikularinteressen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen (AA 16.1.2020).

Das Risiko von Entführungen ist hoch und besteht landesweit (AA 8.10.2020), so wurden auch im Jahr 2019 Zivilisten entführt um Lösegeld zu erhalten (USDOS 11.3.2020; vgl. ACCORD 17.4.2020).

1.2.2 „Kulte“ und Geheimgesellschaften

Der Begriff „Kult“ ist in Nigeria sehr weitgreifend und kann für jede organisierte Gruppe von Menschen verwendet werden, um welche sich Geheimnisse ranken. Der Begriff umfasst auch eine religiöse Dimension, die generell auf die Verwendung von Juju abzielt. Die Bandbreite reicht von den Ogboni über ethnische Vigilantengruppen bis zu Bruderschaften an Universitäten (UKHO 12.2013; vgl. EASO 6.2017; EASO 11.2018b). „Kulte“ und Geheimgesellschaften sind vor allem im Süden von Nigeria verbreitet, nur in geringem Maße im Norden (UKHO 12.2013; vgl. EASO 6.2017). Studentenkulte sind hauptsächlich in den südlichen Bundesstaaten Nigerias aktiv, insbesondere in den Bundesstaaten Rivers, Bayelsa, Delta und Edo (EASO 2.2019; vgl. ACCORD 25.4.2019). Geheime Bruderschaften operieren bis hinauf in die gesellschaftliche Elite des Landes (UKHO 12.2013; vgl. EASO 6.2017). Vor allem junge Männer sind angehalten, sich zu ihrem eigenen Schutz Kulten anzuschließen, beziehungsweise werden sie durch Gruppenzwang dazu gebracht, dies zu tun. Viele Menschen treten „Kulten“ bei, da diese mit Macht, Reichtum und Ansehen in der Gesellschaft verbunden werden (DFAT 9.3.2018).

Kulte, die auf den Straßen Nigerias oder in den höheren Schulen präsent sind, zeichnen sich durch Handlungsweisen aus, die eher jenen von kriminellen Banden als jenen von religiösen Gruppen ähneln (DFAT 9.3.2018; vgl. EASO 2.2019). Einige der bekanntesten Kulte sind „Black Axe“ und „Eiye“. Studentenkulte sind von gewalttätigen Initiationsriten (EASO 2.2019; vgl. DFAT 9.3.2018) und illegalen Aktivitäten wie Tötungen, Menschenhandel, Drogenhandel, Schmuggel, Erpressung, Entführung und Zwangsrekrutierung geprägt. Zwischen 2006 und 2014 gab es in Zusammenhang mit Studentenkulten 1.863 Todesfälle. Im Jahr 2017 gab es in diesem Zusammenhang 442 Todesopfer und 290 Opfer von Entführungen. Politische Parteien rekrutieren häufig Kultmitglieder und benutzen diese, um politische Gegner zu töten oder anzugreifen oder um sie bei Wahlen Gewalt ausüben zu lassen (EASO 2.2019; vgl. ACCORD 25.4.2019). Im Jahr 2018 gab es 446 Todesopfer in 153 Vorfällen im Zusammenhang mit Kulten. Die relativ höchste Anzahl von Toten im Zusammenhang mit Kulten war im Niger Delta feststellbar (Bundesstaaten Bayelsa, Rivers, Edo, Delta) (IFRA 15.3.2019).

Mafiöse „Kulte“ prägen – trotz Verboten – das Leben auf den Universitäts-Campussen. So kommt es etwa zu Morden und Vergewaltigungen in Studentenheimen (ÖB 10.2019). Die mafiöse Strukturen aufweisenden „Kulte“ pflegen gewaltsame Initiationsriten und sind oft in illegale Aktivitäten verwickelt. Nach anderen Angaben sind „Kulte“ eher als Jugendbanden zu bezeichnen (EASO 11.2018b). Die Bandenmitglieder bleiben anonym und sind durch einen Schwur gebunden. Heute sind „Kulte“ eines der am meisten gefürchteten Elemente der Gesellschaft (FFP 10.12.2012; vgl. EASO 6.2017). „Kulte“ schrecken auch vor Menschenopfern nicht zurück, was zu häufigen Meldungen über den Fund von Körperteilen bei ‚Ritualists‘ führt (ÖB 10.2019). Die Bundesregierung hat die Rektoren angewiesen, gegen die von „Kulten“ ausgehende Gewalt an den Universitäten Maßnahmen zu setzen, darunter z. B. Aufklärungskampagnen sowie Sanktionen gegen „Kult“-Mitglieder (IRB 3.12.2012; vgl. EASO 6.2017). Das Secret Cult and Similar Activities Prohibition Gesetz aus dem Jahr 2004 verbietet ca. 100 „Kulte“, darunter kriminelle Banden sowie: spirituell und politisch motivierte Gruppen auf der Suche nach Macht und Kontrolle (UKHO 1.2013; vgl. EASO 6.2017; EASO 11.2018b).

Die Aktivitäten der Studentenkulte sind üblicherweise auf die betroffene Universität beschränkt, manche unterhalten aber Zweigstellen an mehreren Universitäten (VA1 16.11.2015). Eine Mitgliedschaft bei einer (studentischen) Bruderschaft zurückzulegen ist schwierig (EASO 11.2018b; vgl. FFP 10.12.2012; EASO 6.2017). Es wurden auch schon Mitglieder getötet, die dies versucht hatten (FFP 10.12.2012; vgl. EASO 6.2017). Nach anderen Angaben ist der Einfluss der „Kulte“ nicht mehr so groß wie früher. Es ist ein Fall bekannt, wo ein Konflikt mit einem solchen „Kult“ ohne Konsequenzen gelöst werden konnte (EASO 11.2018b). Nach ex-Mitgliedern wird selten gesucht und wenn doch, dann wird eine erfolglose Suche nach zwei oder drei Monaten abgebrochen (VA1 16.11.2015). Auch religiösen Kulten kann man sich durch Flucht entziehen, sie sind nicht in der Lage, eine Person in ganz Nigeria zu verfolgen (VA2 16.11.2015). „Kulte“ greifen generell niemanden an, der nicht selbst in Kult-Aktivitäten involviert ist (VA1 16.11.2015). Personen, die sich vor derartigen Gruppierungen fürchten, können entweder Schutz erhalten oder aber eine innerstaatliche Relokationsmöglichkeit in Anspruch nehmen, um der befürchteten Misshandlung zu entgehen (UKHO 12.2013).

1.2.3 Grundversorgung

Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).

Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).

Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).

Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).

Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).

Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).

Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).

Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).

Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Lebensmittelpreise variieren nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).

Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).

1.2.4 Medizinische Versorgung

Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 3.2020b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 9.2020b; vgl. ÖB 10.2019). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch (AA 7.9.2020). Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2019). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 9.2020b). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 100,2 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten (ÖB 10.2019).

Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 16.1.2020). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Ibadan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, können hier kostenpflichtig behandelt werden (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung (ÖB 10.2019).

In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 16.1.2020). [...]

Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 16.1.2020). Nur weniger als sieben Millionen (Punch 22.12.2017) der 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017). Eine Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung ist über das jeweils beschäftigende Unternehmen mittels einer Krankenversicherung abgesichert, die jedoch nicht alle Krankheitsrisiken abdeckt (VAÖB 27.3.2019).

Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 9.2020b). Selbst in staatlichen Krankenhäusern muss für Behandlungen bezahlt werden (AA 16.1.2020). Die Kosten medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden. Die staatlichen Gesundheitszentren heben eine Registrierungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein (ÖB 10.2019). Eine medizinische Grundversorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (VAÖB 27.3.2019). Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen (AA 16.1.2020). Gemäß Angaben einer anderen Quelle werden Tests und Medikamente an staatlichen Gesundheitseinrichtungen dann unentgeltlich abgegeben, wenn diese überhaupt verfügbar sind. Religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen und NGOs bieten kostenfrei medizinische Versorgung (ÖB 10.2019).

In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Antibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 16.1.2020). Medikamente gegen einige weit verbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS können teilweise kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben. Schutzimpfaktionen werden von internationalen Organisationen finanziert, stoßen aber auf religiös und kulturell bedingten Widerstand, überwiegend im muslimischen Norden (ÖB 10.2019).

Die Qualität der Produkte auf dem freien Markt ist jedoch zweifelhaft, da viele gefälschte Produkte – meist aus asiatischer Produktion – vertrieben werden (bis zu 25% aller verkauften Medikamente). Diese wirken aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur eingeschränkt. Es gibt zudem wenig zuverlässige Kontrollen hinsichtlich der Qualität der auf dem Markt erhältlichen Produkte (AA 16.1.2020). Gegen den grassierenden Schwarzmarkt mit Medikamenten gehen staatliche Stellen kaum vor (ÖB 10.2019).

Der Glaube an die Heilkräfte der traditionellen Medizin ist nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher traditionelle Heiler als Schulmediziner konsultiert (GIZ 9.2020b). Gerade im ländlichen Bereich werden „herbalists“ und traditionelle Heiler aufgesucht (ÖB 10.2019).

In Nigeria gibt es wie in anderen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020).

1.2.5 Rückkehr

Generell kann kein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen festgestellt werden, welcher geeignet wäre, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die allgemein herrschende Situation in Nigeria stellt keine Bedrohung i. S. v. Art. 2 MRK, 3 MRK oder des Protokolls Nr. 6 oder 13 der EMRK dar. Außerdem kann allgemein festgestellt werden, dass eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).

Abschiebungen erfolgen auf dem Luftweg, in Linien- oder Chartermaschinen. Rückführungen aus EU-Staaten erfolgen meist durch Charterflüge, die auch durch FRONTEX durchgeführt werden (AA 16.1.2020). Die österreichische Botschaft in Abuja unterstützt regelmäßig die Vorbereitung und Durchführung von Joint Return Operations (JROs) gemeinsam mit FRONTEX (ÖB 10.2019). Ohne gültigen nigerianischen Pass oder einen von einer nigerianischen Botschaft ausgestellten vorläufigen Reiseausweis ist eine Einreise aus Europa kommender nigerianischer Staatsangehöriger nicht möglich. Dies gilt auch für zwangsweise Rückführungen (AA 16.1.2020).

Erkenntnisse darüber, ob abgelehnte Asylbewerber bei Rückkehr nach Nigeria allein wegen der Beantragung von Asyl mit staatlichen Repressionen zu rechnen haben, liegen nicht vor. Verhaftung aus politischen Gründen oder andere außergewöhnliche Vorkommnisse bei der Einreise von abgeschobenen oder freiwillig rückkehrenden Asylwerbern sind nicht bekannt (AA 16.1.2020). Die Erfahrungen mit den JROs seit dem Jahre 2005 lassen kaum Probleme erkennen (ÖB 10.2019). Abgeschobene Personen werden im Allgemeinen nach ihrer Ankunft in Lagos von der zuständigen Behörde (Nigerian Immigration Service), manchmal auch von der NDLEA (National Drug Law Enforcement Agency) befragt (AA 16.1.2020) bzw. erkennungsdienstlich behandelt (ÖB 10.2019) und können danach das Flughafengelände unbehelligt verlassen (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). Meist steigen sie in ein Taxi ein oder werden von ihren Familien abgeholt. Es kann jedoch nicht mit gänzlicher Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die abgeschobenen Personen keine weiteren Probleme mit den Behörden haben. Das fehlende Meldesystem in Nigeria lässt allerdings darauf schließen, dass nach Verlassen des Flughafengeländes eine Ausforschung Abgeschobener kaum mehr möglich ist (ÖB 10.2019).

Wegen Drogendelikten im Ausland verurteilte Nigerianer werden nach Rückkehr an die NDLEA überstellt. Ein zweites Strafverfahren in Nigeria wegen derselben Straftat haben diese Personen jedoch trotz anderslautender Vorschriften im „Decree 33“ nicht zu befürchten (AA 16.1.2020). Aus menschenrechtlichen Erwägungen wird gegenüber nigerianischen Behörden als Grund für Abschiebungen stets „overstay“ angegeben, da dieser kein strafrechtliches Delikt darstellt (ÖB 10.2019).

Staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige sind in Lagos und anderen Landesteilen grundsätzlich vorhanden. Sie sind jedoch in schlechtem Zustand, so dass z.B. die Angebote nicht bekannt sind oder eine ausreichende Versorgung dort nicht ohne weiteres gewährleistet ist. Internationale Akteure bemühen sich, neue Rückkehrer- bzw. Migrationsberatungszentren aufzubauen. Eine entsprechende Einrichtung von IOM in Benin-City, Edo State, wurde 2018 eröffnet. Gleichermaßen haben im Herbst 2018 in Lagos, Abuja und Benin City Migrationsberatungszentren der GIZ ihren Betrieb aufgenommen. Gemeinsam mit dem nigerianischen Arbeitsministerium wird dort über berufliche Perspektiven in Nigeria informiert (AA 16.1.2020).

1.3. Zu den Fluchtmotiven:

Der Beschwerdeführer kam trotz seiner damals noch länger als ein Jahr gültigen italienischen Aufenthaltsberechtigung nach Österreich und stellte einen weiteren Asylantrag, zu dem er erstbefragt angab, in seinem „Dorf“ gebe es Anhänger eines Kults, die von ihm verlangt hätten, diesem beizutreten. Da er sich geweigert habe, hätten sie ihn bedroht. Er habe Angst gehabt, sie auf der Straße zu treffen. Weil sein Leben in Gefahr gewesen sei, habe er fliehen müssen. Im Fall der Rückkehr fürchte er, von den Kultanhängern getötet zu werden.

Beim BFA gab er dann an, „immer“ von vier jungen Männern auf dem Heimweg von der Schule belästigt worden zu sein. Diese hätten gewollt, dass er sich ihnen anschließe, er aber habe sich geweigert. Sie hätten gesagt, sie würden „etwas Schlimmes“ mit ihm machen, wenn er es nicht täte, und hätten ihm „eines Tages“ eine Woche Bedenkzeit gegeben. Andernfalls hätten sie ihn vielleicht auch umgebracht. Als er seiner Mutter alles erzählt habe, sei diese zur Polizei gegangen.

Zwei Tage später sei die Mutter mit ihm „irgendwo hin“ gegangen, habe ihn „einem Mann“ übergeben, und dieser habe ihn „zu einem Wagen“ gebracht und dann an einen Ort, wo viele andere Leute waren, die ihm erzählt hätten, nach Libyen zu wollen. Er habe nicht gewusst, dass er sein Land verlassen würde, seine Mutter habe das veranlasst, dass er plötzlich außerhalb Nigerias gewesen sei. Er habe auch nicht gewusst, dass er nach Europa kommen würde.

Weiter gab der Beschwerdeführer an, ihm sei nicht bekannt, ob der Kult sich noch für ihn interessiere, aber er glaube nicht, dass sein Leben in Nigeria sicher sei. Nach einer Rückkehr würden sie wieder nach ihm suchen und könnten ihn immer noch angreifen. Den Namen des Kults kenne er nicht, und von den vier Personen wisse er weder Namen noch Details. Sie seien älter als er und hätten ihn „immer nur bedroht“.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Nigeria aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt werden würde. Er wird im Fall seiner Rückkehr nach Nigeria mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung und keiner wie auch immer gearteten existenziellen Bedrohung ausgesetzt sein.

Dem Beschwerdeführer droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung durch Anhänger eines Kults, dessen Mitglieder oder andere Menschen, gegen die ihn nicht eine geeignete Ortswahl, z. B. in Benin City oder Abudja, oder die staatlichen Behörden schützen könnten. Er hat keinen Fluchtgrund glaubhaft gemacht und kein substantiiertes Vorbringen erstattet.

Eine nach Nigeria zurückkehrende Person, bei der keine berücksichtigungswürdigen Gründe vorliegen, wird durch eine Rückkehr nicht automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt. Es gibt keinen Hinweis, dass der Beschwerdeführer im Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten asylrelevanten Verfolgung unterläge oder automatisch in eine unmenschliche Lage versetzt würde.

Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat familiäre und andere soziale Kontakte, die er nach seiner Rückkehr auffrischen und vertiefen kann. Er ist arbeitsfähig, mit der Kultur des Herkunftsstaats vertraut, dort aufgewachsen sowie in die Schule gegangen. Daher wird es ihm möglich sein, dort auch Arbeit zu finden und von dieser zu leben.

Zusammenfassend wird in Bezug auf das Vorbringen des Beschwerdeführers und aufgrund der allgemeinen Lage im Land festgestellt, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen existenziellen Bedrohung ausgesetzt sein wird. Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Nigeria die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten wäre.

2. Beweiswürdigung:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang und der festgestellte Sachverhalt ergeben sich zunächst aus dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsakts des BFA sowie der Beschwerde, ferner den nachgereichten Mitteilungen, den Angaben des Beschwerdeführers beim BFA vom 28.01.2021, seiner Stellungnahme im Beschwerdeverfahren vom 06.05.2021 und dem strafgerichtlichen Urteil.

Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Fremdenregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Register der Sozialversicherungen und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.1 Zur Person des Beschwerdeführers:

Die Lebensumstände des Beschwerdeführers samt Ausbildung, Arbeitserfahrung sowie Privat- und Familienleben ergaben sich – soweit hier nicht näher darauf eingegangen wird – aus seinen Angaben, zuletzt vor dem BFA am 28.01.2021 und in der Stellungnahme vom 06.05.2021, den unstrittigen Feststellungen im Bescheid, dem übrigen Verwaltungsakt, dem Strafurteil und den Abfragen der Register.

Aus der Arbeitsleistung in Haft ergab sich, dass er arbeitsfähig ist. In der Einvernahme am 28.01.2021 gab der Beschwerdeführer an, gesund zu sei. Das widerspricht dem Vorbringen der Stellungnahme, wonach er seit ca. 1,5 Jahren Schmerzen habe. Ein gravierendes Leiden ist jedenfalls auszuschließen (und wurde auch nicht behauptet), nachdem zwischen den beiden Angaben nur rund 4 Monate liegen, aktuelle Befunde oder Rezepte fehlen, und auch die Magenspiegelung erst für Juli in Aussicht genommen wurde.

Familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich verneinte der Beschwerdeführer in der Stellungnahme vom 06.05.2021 und führte auch keine maßgeblichen privaten Verfestigungen ins Treffen. Bei einem dreieinhalb Jahre andauernden Aufenthalt im Bundesgebiet liegt in einem höchstens viermonatigen Schulbesuch (AS 153), der Bekanntschaft mit einer österreichischen Familie, einigen Freunden und einer guten Freundin keine das übliche Maß übersteigende Integration. Aus dem GVS und dem ZMR ergaben sich der Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung und die Unterbringung in betreuten Einrichtungen.

2.2 Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation für Nigeria samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen. Angesichts der Seriosität und Plausibilität der Erkenntnisquellen sowie dessen, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängigen Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.

Zum Länderinformationsblatt hat der Beschwerdeführer dahingehend Stellung genommen, dass die Gesundheits- und Versorgungslage eine Rückkehr derzeit unzumutbar mache und zu erwarten sei, dass sich die Lage weiter verschärfen werde. Aus den Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Armut ergebe sich, dass die Lebensbedingungen lebensbedrohlich seien. Ferner seien die Sicherheitslage volatil und die Polizei nicht willens und fähig, die Bevölkerung zu schützen. In Nigeria sei auch die Pandemielage kritisch. Dazu wurde, wohl versehentlich, die angebliche Zahl der Infizierten in Afghanistan angeführt, ohne deren Bedeutung für Nigeria darzulegen.

Damit hat der Beschwerdeführer das Länderinformationsblatt ergänzt und interpretiert, ist den Quellen und deren Kernaussagen zur Situation im Herkunftsstaat aber nicht entgegengetreten. Seither sind keine entscheidungswesentlichen Änderungen der Ländersituation bekannt geworden. Mit Blick auf sein Alter ist auch kein pandemiebedingtes Risiko anzunehmen.

Die Feststellungen zur Pandemie entstammen der Homepage des deutschen Außenamts (Abfrage 28.06.2021, Information unverändert seit 08.06.2021; www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_0) und des „Centre for Disease Control“ des Herkunftsstaates (per 28.06.2021, covid19.ncdc.gov.ng). Die inländischen Zahlen sind die des BMSGPK mit Stand 23.06.2021, 09:30 h (www.derstandard.at/story/2000124389425/aktuelle-zahlen-coronavirus-oesterreich-weltweit).

2.3 Zum Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer gab anfangs bei der Polizei an, er habe den Wohnort am 06.01.2016 mit einem Bus verlassen. Sein Leben sei in Gefahr gewesen, weil er sich geweigert habe, einem Kult beizutreten, was dessen Anhänger, die es in seinem Dorf gäbe, von ihm verlangt und ihn bedroht hätten.

Beim BFA sagte er aus, er sei im Dezember 2015, fast ein Monat vor seiner Ausreise, erstmals von vier Männern belästigt worden, die Mitglieder des Kults seien. Diese hätten ihn manchmal auch zweimal wöchentlich und insgesamt „ungefähr 6 – 7 Mal“ belästigt, ihm zuletzt ein Ultimatum gestellt, was er seiner Mutter berichtet habe, und nach ihm gesucht. (AS 138 ff)

Die Mutter sei noch am Tag der letzten Begegnung ohne ihn (d. h. ohne den einzigen Zeugen) zur Polizei gegangen, und zwei Tage darauf habe er den Herkunftsstaat verlassen. Das sei im Jänner 2016 gewesen, drei Wochen bis zu einem Monat nach der ersten Bedrohung. Damals sei er 11 Jahre alt gewesen, an sein Alter damals könne er sich erinnern. Auf den Vorhalt, dass er dann nicht das zum Vernehmungszeitpunkt angegebene Alter haben könne, erklärte er, sich nicht mehr genau erinnern zu können (AS 141 f)

Dem BFA ist zuzustimmen (S. 86 des Bescheids, AS 302), dass es dem Beschwerdeführer aus einer Reihe von Gründen nicht gelungen ist, eine Verfolgung glaubhaft darzulegen. Das liegt, wie das BFA auch ausführt (S. 82 ff, AS 298 ff), unter anderem an den vagen, wenig substantiierten Angaben und den in den Schilderungen einerseits fehlenden Emotionen und Nebenumständen, andererseits vorhandenen Unstimmigkeiten. (S. 85, AS 301)

So konnte der Beschwerdeführer, der dem in Österreich verwendeten Geburtsdatum nach zur Zeit der angeblichen Vorfälle nicht 11, sondern 12 ½ Jahre alt gewesen wäre (nach den in Italien benutzten 15 ½ oder 16 ½), außer diesem Widerspruch („Das Einzige, woran ich mich erinnern kann, ist das Alter“ [bei der Ausreise], AS 142) auch nicht angeben, für welchen Kult er hätte angeworben werden sollen, und worum es bei diesem gegangen wäre. Die Unbekannten hätten ihm „nichts erzählt, nur dass ich mich ihnen anschließen muss“. (AS 138 f) Dem BFA ist beizupflichten, wenn es für zu erwarten hält, dass mit einer Anwerbung die Mitteilung grundlegender Informationen einherginge (S. 84, AS 300), z. B. auch des Namens der Organisation („Ich kenne den Namen des Kultes nicht.“, AS 138). Daran ändert auch die frühere Minderjährigkeit des Beschwerdeführers nichts, dessen Angaben – bei aller Armut an Details und Emotionsbeschreibungen – in diesem Zusammenhang deutlich und eindeutig sowie in Anwesenheit der damaligen gesetzlichen Vertretung erfolgten.

Nach all dem hat der Beschwerdeführer, wie es auch das BFA beurteilte (S. 86; AS 302), eine Verfolgung behauptet, die weder nachvollziehbar noch glaubwürdig war, und ist davon auszugehen, dass das Berichtete nicht den Tatsachen entspricht. Das Gericht kommt daher - wie auch schon die belangte Behörde - zu dem Schluss, dass dem Beschwerdeführer keine glaubwürdige Schilderung einer Verfolgung gelungen ist. Daher schließt sich das Gericht dieser Beweiswürdigung vollinhaltlich an.

Nach den Länderfeststellungen ist es dem Beschwerdeführer im Rückkehrfall möglich, selbst im Fall der behaupteten (nicht festgestellten) Bedrohung einen neuen Wohnsitz zu wählen, etwa in Benin City, Abudja oder einer anderen Großstadt, sodass er dieser entgehen würde. Es ist nach diesen Feststellungen auch nicht zu sehen, warum er gegen eine solche nicht auch Schutz durch den Staat finden sollte.

Demnach war festzustellen, dass ihm keine Verfolgung wie angegeben droht, gegen die ihn nicht eine geeignete Ortswahl oder die staatlichen Behörden schützen könnten. Er hat auch mit der Beschwerde keinen Fluchtgrund glaubhaft gemacht und kein substantiiertes Vorbringen erstattet, sondern ausdrücklich vorgebracht, dass es sich um den einzigen Fluchtgrund handle.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Abweisung der Beschwerde, Zurückweisung des Antrags des BFA:

3.1 Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I):

3.1.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK droht, und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

3.1.2 Zum Vorbringen des Beschwerdeführers ist festzuhalten, dass das Geschilderte (Versuch, ihn mittels Bedrohung zum Beitritt zu einem Kult zu bewegen) soweit es die behaupteten Erlebnisse vor der Ausreise und deren Kausalität als Fluchtgründe betrifft - wie es bereits das BFA sah - als unglaubwürdig und damit als nichtzutreffend erscheint. Sogar gegebenenfalls wäre es aber nicht als Grund anzusehen, dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, weil keine Verfolgung aus einem der genannten Gründe vorläge. Ferner würde es sich um eine solche private Verfolgung handeln, gegen die der Staat schutzwillig und auch -fähig ist und vor der sich der Beschwerdeführer auch durch die Wahl eines anderen Wohnorts wirksam schützen könnte.

Wie die Feststellungen zeigen, hat der Beschwerdeführer damit also keine Verfolgung oder Bedrohung glaubhaft gemacht, die asylrelevante Qualität hätte. Da auf eine asylrelevante Verfolgung auch sonst nichts hinweist, ist davon auszugehen, dass ihm keine Verfolgung aus den in der GFK genannten Gründen droht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Asyl sind daher nicht gegeben. Aus diesem Grund war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

3.2 Zum Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II):

3.2.1 Nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremden zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn der Antrag in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, und eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 AsylG 2005 zu verbinden.

Hinweise auf das Vorliegen einer allgemeinen existenzbedrohenden Notlage wie allgemeine Hungersnot, Seuchen, Naturkatastrophen oder sonstige diesen Sachverhalten gleichwertige existenzbedrohende Elementarereignisse liegen nicht vor, auch in Bezug auf die Pandemie nicht, weshalb aus diesem Blickwinkel bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen kein Verdacht auf das Vorliegen eines Sachverhaltes gemäß Art. 2 oder 3 EMRK abgeleitet werden kann.

3.2.2 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach erkannt, dass auch die Außerlandes-schaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat eine Verletzung von Art 3 EMRK bedeuten kann, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet. Gleichzeitig wurde jedoch unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR betont, dass eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen ist (VwGH 06.11.2009, 2008/19/0174; 21.08.2001, 2000/01/0443 mwN). Nach den Feststellungen zu Gesundheit und Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers und den Länderfeststellungen ist nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten wird.

Das gilt auch dann, wenn – wider Erwarten – eine Unterstützung durch Angehörige des Beschwerdeführers unterbleibt, weil er schulisch gebildet und arbeitsfähig ist, sowie mit Sprache und Kultur im Herkunftsstaat vertraut, wo er soziale Kontakte auffrischen und bei der Arbeitssuche nutzen kann.

Da der Beschwerdeführer ferner neben Esan die Landessprache Englisch spricht, ist letztlich im Rahmen einer Gesamtschau davon auszugehen, dass er im Herkunftsstaat seine dringendsten Bedürfnisse befriedigen kann und nicht in eine dauerhaft aussichtslose Lage gerät, sodass auch der Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides zu bestätigen war.

3.3 Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, Rückkehrentscheidung und Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkte III bis V):

3.3.1 Nichterteilung eines Aufenthaltstitels

Im Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheids sprach die belangte Behörde aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß § 57 AsylG“ nicht erteilt werde. Damit war nach der Begründung (S. 97, AS 313) das in § 57 AsylG 2005 beschriebene Rechtsinstitut „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemeint. Dem ist durch die Richtigstellung des Spruchs Rechnung zu tragen.

Nach § 57 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz in drei Fallkonstellationen zu erteilen, nämlich (jeweils unter weiteren Voraussetzungen) nach mindestens einem Jahr der Duldung (Z. 1), zur Sicherung der Strafverfolgung gerichtlich strafbarer Handlungen und zur Geltendmachung oder Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche im Zusammenhang mit solchen Handlungen (Z. 2) sowie bei Gewaltopfern, die glaubhaft machen, dass

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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