TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/1 I408 2179628-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.07.2021
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Entscheidungsdatum

01.07.2021

Norm

ASVG §5 Abs2
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8
AVG §13 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
VwGVG §17
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1
VwGVG §7 Abs2

Spruch


I408 2179628-1/22E

Schriftliche Ausfertigung des am 31.05.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Harald NEUSCHMID als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. IRAK, vertreten durch: RA Mag. Dr. Helmut BLUM LL.M. gegen den Bescheid des BFA, Regionaldirektion XXXX vom 17.11.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

l.) Nach Zurückziehung der Beschwerde zu den Spruchpunkten l. II. und III. erster Satz, wird das Verfahren dazu eingestellt.

II.) In Stattgabe der Beschwerde werden die übrigen Spruchpunkte behoben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

III.) Gemäß § 55 Abs. l AsylG wird XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung plus " für die Dauer eines Jahres erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise in Österreich am 24.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 17.11.2017 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II.) als unbegründet abgewiesen wurde. Zugleich erteilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt 14 Tage (Spruchpunkt IV.).

Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht erhobene Beschwerde vom 04.12.2017.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 23.03.2021 wurde das Verfahren dem erkennenden Richter zugewiesen.

Am 31.05.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, an der kein Vertreter der belangten Behörde teilnahm. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage und Rücksprache mit seinem Rechtsvertreter zog der Beschwerdeführer die Beschwerde zu den Spruchpunkten l., II. sowie III. erster Satz des angefochtenen Bescheides zurückzog und die Entscheidung wurde mündlich verkündet.

Mit Fax vom 02.06.2021 beantragte die belangte Behörde die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Nach Zurückziehung der Beschwerde zu den Spruchpunkten l. II. und III. erster Satz ist nur mehr die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung Gegenstand des Verfahrens.

Der 25-jährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Republik Irak, stammt aus XXXX und gehört der Religionsgemeinschaft der Schiiten an. Seine Identität steht sein Anbeginn fest. Beruflich war er als Maler und Anstreicher tätig und zuletzt bestritt er seinen Lebensunterhalt über den Besitz bzw. Betreuung eines Stromgenerators. Im Irak leben seine Eltern und Geschwister.

Der Beschwerdeführer gelangte nach legaler Ausreise aus dem Irak im Mai 2015 schlepperunterstützt nach Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet an Asthma und steht seit 2016 wegen posttraumatischer Belastungsstörungen in medizinischer Behandlung, ist aber arbeitsfähig. Er war in den ersten Jahren seines Aufenthaltes zunächst bestrebt, sich rasch entsprechende Deutschkenntnisse anzueignen und beherrscht die Sprache auf A2-Nivau, hat es aber bisher psychisch und zuletzt auch Corona bedingt nicht geschafft, eine A2-Prüfung abzulegen.

Seit März 2019 ist er selbständig als Hausbetreuer tätig. Von November 2020 bis März 2021 hatte er das Gewerbe wegen des Corona-Lockdowns ruhend gestellt. Wie die vorgelegten Arbeitsaufträge, Arbeitsbestätigungen und Zahlungseingänge dokumentieren, hat er diese Tätigkeit wieder in vollem Umfang aufgenommen und ist als selbsterhaltungsfähig anzusehen. Zudem verfügt über eine Arbeitsplatzzusage, sollte er nicht mehr selbständig arbeiten wollen.

Der Beschwerdeführer verfügt über eine ambivalente Persönlichkeitsstruktur. Er ist rasch überfordert und benötigt die Unterstützung und den sozialen Halt seines Umfeldes. Neben der medizinischen Behandlung erhält er diese Unterstützung von einem in Österreich lebenden weitschichtigen Verwandten. Dieser hat ihn nicht nur zum christlichen Glauben geführt, sondern unterstützt ihn über Aufträge in seiner selbständigen Tätigkeit. Ein weiterer Ruhepol in seinem Leben ist für den seit XXXX getauften Beschwerdeführer die Glaubensgemeinde seines Wohnortes, wo er sich aktiv einbringt. Er sucht und findet auch Unterstützung in der Beratungsstelle XXXX . Mit seinem freundlichen und zuvorkommenden Auftreten und seinem Einsatz in unterschiedlichsten Vereinen und Organisationen hat er in den Jahren seines Aufenthaltes in Österreich viele Menschen kennengelernt, die ihn wertschätzen und dies auch in eindrucksvollen Unterstützungsschreiben unter Beweis gestellt haben.

2. Beweiswürdigung:

Die Identität entspricht den Angaben des irakischen Personalausweises, Seriennummer XXXX , des Beschwerdeführers, welchen er bei der ersten Kontaktnahme mit den österreichischen Behörden bei sich hatte (AS 29).

Die Feststellungen zu seinen Lebensumständen, seinem Gesundheitszustand, seiner Arbeitsfähigkeit, seiner Herkunft, seiner Glaubenszugehörigkeit sowie seiner Staatsangehörigkeit gründen sich auf die im Verfahren laufend vorgelegten Unterlagen und den Angaben des Beschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 31.05.2021.

So wurde bereits von der belangten Behörde im September 2017 ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten (AS 279 ff) eingeholt und die laufende Behandlung seit 2016 war dem zuletzt vorgelegten Befund vom 18.05.2021 zu entnehmen. Die laufende Auseinandersetzung mit seiner Homosexualität erschließt sich aus den Befundungen und Stellungnahmen der Beratungsstelle XXXX vom 08.05.2017 (AS 305 ff) und 28.05.2021 (vorgelegt in der mündlichen Verhandlung). Die christliche Glaubenszugehörigkeit ist über den Taufschein vom XXXX (OZ 11) sowie den Schreiben vom 16.05.2021 (OZ 16) und 17.05.2021 (vorgelegt in der mündlichen Verhandlung) eindrucksvoll belegt. Seine gewerblichen Aktivitäten hat er über den Gewerbeschein sowie die vorgelegten Rahmenverträge (OZ 15) und den dazu in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Rechnungen bzw. Zahlungseingängen zweifelsfrei dokumentiert. Die Arbeitsplatzzusage ist dem diesbezüglichen Schreiben vom 16.05.2021 (OZ 16) entnommen.

Die Feststellungen über seine Persönlichkeit beruhen auf den in der mündlichen Verhandlung unmittelbar gewonnen Eindruck, der zudem in den ärztlichen Befundungen und den genannten Stellungnahmen sowie Unterstützungsschreiben (OZ 10) Deckung findet. Wenn ihm entsprechende Struktur und soziale Unterstützung zukommt – beides besteht über sein persönliches Umfeld und der christlichen Gemeinde – kann und ist von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen, die in seinem Herkunftsstaat nicht besteht bzw. aufgrund seiner Persönlichkeit iVm. mit seiner Homosexualität nicht gewährleistet ist.

All diesen Unterlagen und seine Angaben in der mündlichen Verhandlung ist zu entnehmen, dass der 25jährige Beschwerdeführer die mehr als 6 Jahre seines Aufenthaltes eindrucksvoll genutzt hat, um sich im Rahmen seiner Möglichkeiten hier bestmöglich zu integrieren und wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen.

Die Feststellungen zu den vorhandenen familiären Anknüpfungspunkten im Irak ergeben sich aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung.

Die Zurückziehung der Beschwerde zu den Spruchpunkten I., II. und III. erster Satz ist im Verhandlungsprotokoll zweifelsfrei dokumentiert.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A I.) Abweisung der Beschwerde

3.1. Zurückziehung der Beschwerde zu den Spruchpunkten I., II. und III. erster Satz:

Die mit Beschluss erfolgte Einstellung resultiert aus der Zurückziehung in der mündlichen Verhandlung.

3.2. Zur Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung

Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

Zu prüfen war daher nur mehr, ob eine Rückkehrentscheidung mit Art 8 EMRK vereinbar ist, weil sie nur dann zulässig wäre und nur im verneinenden Fall ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG überhaupt in Betracht käme. Die Vereinbarkeit mit Art 8 EMRK ist aus nachstehenden Gründen gegeben:

Die Zulässigkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, insbesondere einer Rückkehrentscheidung, setzt nach § 9 Abs. 1 BFA-VG 2014 unter dem dort genannten Gesichtspunkt eines Eingriffs in das Privat und/oder Familienleben voraus, dass ihre Erlassung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Im Zuge dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. E 12. November 2015, Ra 2015/21/0101).

Nach § 9 Abs. 2 BFA-VG sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Auch wenn sich der Beschwerdeführer aufgrund eines letztendlich unbegründeten Asylantrages seit Mai 2015 in Österreich aufhält, hat er diese fast sechs Jahre eindrucksvoll genutzt, um sich in Österreich sprachlich sowie sozial zu integrieren. Er beherrscht die deutsche Sprache, hat sich ehrenamtlich zunächst in seiner Asylunterkunft und in weiterer Folge in der christlichen Gemeinde aktiv eingebracht, ist in seinem Umfeld integriert, nimmt von sich aus Behandlungs- und Beratungsangebote in Anspruch und hat zielorientierte Schritte gesetzt, um wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen zu können. Er hat seine Identität offengelegt; und nichts unternommen, um das Verfahren in die Länge zu ziehen.

Trotz des hohen Stellenwerts, welcher der Einhaltung und Umsetzung fremden- und aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen zukommt, führt im gegenständlichen Beschwerdefall die Interessensabwägung unter Berücksichtigung der genannten Umstände zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer unzulässig ist.

3.3. Zur Gewährung einer Aufenthaltsberechtigung

Gemäß § 55 Abs 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), erreicht wird.

Da der Beschwerdeführer ist mit seine selbständigen Tätigkeit nicht mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen und als selbsterhaltungsfähig anzusehen, sodass ihm eine "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von einem Jahr zu erteilen war.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Im gegenständlichen Fall handelt es sich um eine Interessensabwägung, die sich im Rahmen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung bewegt, und es hat sich dabei auch keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ergeben.

Schlagworte

Asylverfahren Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK befristete Aufenthaltsberechtigung berücksichtigungswürdige Gründe Beschwerdeverzicht Beschwerdezurückziehung Einstellung Einstellung des (Beschwerde) Verfahrens ersatzlose Teilbehebung Integration Integrationsvereinbarung Interessenabwägung Kassation mündliche Verhandlung mündliche Verkündung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Rückkehrentscheidung behoben schriftliche Ausfertigung Spruchpunktbehebung subsidiärer Schutz Verfahrenseinstellung Zurückziehung Zurückziehung der Beschwerde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I408.2179628.1.00

Im RIS seit

14.09.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.09.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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